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Veröffentlicht am 17.02.2019

Schwer erträglich - und absolut lesenswert

Mein Ein und Alles
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Die vierzehnjährige Turtle wächst allein mit ihrem Vater in einem heruntergekommenen Haus in der kalifornischen Wildnis auf. Ihre einzige Bezugsperson ist ihr Großvater, der auf demselben Grundstück in ...

Die vierzehnjährige Turtle wächst allein mit ihrem Vater in einem heruntergekommenen Haus in der kalifornischen Wildnis auf. Ihre einzige Bezugsperson ist ihr Großvater, der auf demselben Grundstück in einem baufälligen Wohnwagen lebt. Turtle ist ein mürrisches, in sich gekehrtes und auffallend misogynes Mädchen, das in der Schule keine Freunde hat und sich mit dem Unterrichtsstoff schwertut. Ihre engagierte Lehrerin Anna vermutet – zu Recht – sexuellen Missbrauch hinter Turtles auffälligem Verhalten, doch sie kommt ebenso wenig wie jeder andere an das Mädchen heran. Denn die Beziehung zwischen Turtle und ihrem Vater ist zwar geprägt von jeglicher Form von Misshandlung – körperlich, psychisch, sexuell – sie ist aber zugleich eine Beziehung voll gegenseitiger Abhängigkeit, von einer Komplexität der Gefühle, für die die einfache Formel von „Liebe oder Hass“ nicht ausreicht. Denn Turtle und ihr „Daddy“ sind aufeinander eingespielt, ihr Zusammenleben folgt einer von beiden verinnerlichten Choreografie aus Reiz und Reaktion, aus Zuneigung und Brutalität. Doch dann durchbrechen gleich mehrere Ereignisse dieses Höllenidyll: Turtles Großvater erliegt einem Schlaganfall, Turtle trifft auf ihren ausgedehnten Streifzügen durch die ungezähmte Natur den beiden Highschool-Jungs Brett und Jacob und freundet sich mit ihnen an und ihr Daddy bringt nach wochenlanger Abwesenheit Cayenne, ein zehnjähriges Mädchen, mit nach Hause … Turtle erkennt, dass ihr Leben nicht wie bisher weitergehen kann und beschließt, endlich zu handeln – mit weitreichenden Folgen.

"Mein Ein und Alles" ist ein nur schwer erträgliches Buch: Aufwühlend. Abstoßend. Herzergreifend. Das liegt daran, dass die misshandelte, missbrauchte, traumatisierte Protagonistin so schwer zu greifen ist, sich allen gängigen Kategorien entzieht. Sie macht es dem Leser wider Erwarten schwer, sie gernzuhaben. Sie ist unzugänglich und mitleidslos, unflätig und asozial, und sie bedient sich derselben derben Sprache wie ihr Vater. Sie ist ein Missbrauchsopfer – und zugleich eine Amazone, die über ein beachtliches Waffenarsenal verfügt, schießen kann und die Frühstückseier roh aus der Schale isst. Doch bei aller Stacheligkeit ist sie noch ein Kind, das sich nicht zu wehren weiß, und diese Ambivalenz macht sie für mich zu einer der faszinierendsten Figuren der jüngeren Literatur.

"Mein Ein und Alles" ist auf jeden Fall lesenswert – wenngleich nichts für zarte Gemüter. Ein beeindruckendes Debüt.

Veröffentlicht am 17.02.2019

Ein Buch mit Nachhall

Loyalitäten
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Es gibt Bücher, die man, durchaus mit großem Unterhaltungswert, einfach so ‚wegliest‘, und es gibt Bücher, die noch lange, nachdem man sie zugeschlagen hat, in einem nachwirken. Delphine de Vigans „Loyalitäten“ ...

Es gibt Bücher, die man, durchaus mit großem Unterhaltungswert, einfach so ‚wegliest‘, und es gibt Bücher, die noch lange, nachdem man sie zugeschlagen hat, in einem nachwirken. Delphine de Vigans „Loyalitäten“ zählt für mich eindeutig zu letzteren: ein Roman, dessen Nachhall ich noch lange spüren werde.

Théo ist 12 Jahre alt, still und in sich gekehrt, Scheidungskind – und Trinker. Sein einziger Freund Mathis macht anfangs mit, hält ihre heimlichen Ausflüge in ihr Geheimversteck für ein Abenteuer, eine Mutprobe, einen Streich. Doch schon bald bemerkt Mathis, dass das Trinken für Théo weit mehr ist. Ohne Halt, zerrissen zwischen seiner verbitterten Mutter und seinem vereinsamten, zunehmend alltagsunfähigen Vater, ist der Alkohol Théos einziger Weg, seiner Lebenswirklichkeit zu entfliehen: „Es ist eine Wärmewelle, die er nicht zu schreiben weiß, brennend, versengend und schmerzlich und tröstlich zugleich (…)“, denn „nach einigen Minuten explodiert etwas in seinem Hirn“. Théo hat nur ein Ziel: „Eines Tages möchte er gern das Bewusstsein verlieren, völlig. Sich für ein paar Stunden oder für immer in das dicke Gewebe der Trunkenheit fallen, sich davon bedecken, begraben lassen, er weiß, dass so etwas vorkommt.“

Den beiden Jungen stellt die Erzählerin zwei erwachsene Frauen gegenüber: Hélène, Théos und Mathis‘ Lehrerin, und Cécile, Mathis‘ Mutter. Die eine möchte dem in sich gekehrten Jungen helfen, doch sie kommt nicht recht an ihn heran. Die andere sieht in Théo eine Bedrohung für ihren eigenen Sohn, einen schlechten Einfluss, vor dem sie Mathis beschützen will. Gleichzeitig haben beide Frauen ihre eigenen, tiefgreifenden Probleme. Hélène fühlt sich durch Théo an ihr eigenes, bis heute nachwirkendes Kindheitstrauma erinnert, Cécile macht eine Entdeckung, die ihr Weltbild ins Wanken bringt.

Trotz des relativ geringen Umfangs – der Roman umfasst gerade einmal gut 170 Seiten – ist Delphine de Vigan ein wirklich großes Werk gelungen. Es mag hauptsächlich und vordergründig um Loyalitäten bzw. deren Bruch gehen, wie der Titel und die der Handlung vorangestellten Definitionen suggerieren. Doch daneben handelt der Roman von Verantwortung und ihren Grenzen, vom Hin- und Wegsehen, von der Frage nach Angriff oder Flucht. Er wirft die Frage auf, wie ‚erwachsen‘ Kinder sein müssen oder überhaupt können und in wie vielen Erwachsenen ein verletztes, unsicheres, trauriges Kind weiterlebt.

Der besondere Reiz dieses Buches lag für mich nicht zuletzt in Delphine de Vigans Art zu erzählen. Ihre Sprache ist nüchtern, beobachtend, beschreibend, und ebendiese Schnörkellosigkeit traf mich – ich muss zu dieser abgedroschenen Metapher greifen – mitten ins Herz. Überdies wechselt sie entsprechend der jeweiligen Figur, die im Fokus steht, die Perspektive zwischen auktorialem und personalem Erzähler. Die Théo und Mathis betreffenden Kapitel sind in der dritten Person geschrieben, die auf Hélène und Cécile bezogenen in der ersten Person: die einen sind Subjekt und Agens, die anderen Objekt und Patiens – doch dankenswerterweise ist de Vigan eine zu talentierte Erzählerin und ihr Roman zu vielschichtig und feinsinnig, als dass die Figuren in plumper Schwarzweißmalerei oder einem allzu offensichtlichem Täter-Opfer-Schema versumpfen. Ein bemerkens- und lesenswertes Buch!

Veröffentlicht am 22.12.2022

Ein gelungenes Thrillerdebüt

Die Assistentin
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Nein, so hatte Florence sich ihre „Karriere“ nicht vorgestellt. Eigentlich wollte sie in New York als Autorin groß rauskommen, also so richtig groß. Und der Einstiegsjob als Lektoratsassistentin bei einem ...

Nein, so hatte Florence sich ihre „Karriere“ nicht vorgestellt. Eigentlich wollte sie in New York als Autorin groß rauskommen, also so richtig groß. Und der Einstiegsjob als Lektoratsassistentin bei einem renommierten Verlag schien zumindest nicht der schlechteste Einstieg zu sein: erst berühmte Autor*innen betreuen und anschließend – bald, ganz bald – mit ihrem Erstlingsroman selbst in die Riege der Literaturstars aufsteigen.
Stattdessen ist ihr Berufsalltag denkbar öde und unbefriedigend, die poetische Kreativität stockt und irgendwie scheinen alle um sie herum so viel weltläufiger, belesener, gebildeter als sie selbst zu sein.
Gerade als Florence meint, den Tiefpunkt erreicht zu haben, erhält sie ein unverhofftes Angebot: Sie soll als persönliche Assistentin die geheimnisumwitterte Autorin Maud Dixon unterstützen. Außer deren Lektorin hat kein Mensch sie je zu Gesicht bekommen, niemand weiß, wie sie aussieht, wo sie lebt und welche Person sich hinter dem Pseudonym verbirgt. Für Florence ist klar: Das ist ihre große Chance!
Als Maud, deren Leben so anders ist als ihr eigenes – so stilvoll! So erstrebenswert! –, sie auch noch auffordert, sie auf eine Recherchereise nach Marokko zu begleiten, wähnt Florence sich im Paradies auf Erden. Doch dann erwacht Florence mit Erinnerungslücken an die vergangene Nacht allein im Krankenhaus, von Maud keine Spur. Zurück in ihrer Unterkunft, findet sie Mauds angefangenes Manuskript. Und das stellt alles, was sie zuvor mit Maud erlebt zu haben glaubt, in einem völlig anderen – und vor allem gefährlichen – Licht dar. Und in Florence reift ein ungeheuerlicher Plan, wie sie ihr eigenes Leben radikal zu ihrem Vorteil ändern kann …
Ich kann es nicht anders sagen: Mit „Die Assistentin“ (aus dem Amerikanischen von Regina Rawlinson) hat Alexandra Andrews ein fulminantes Thrillerdebüt vorgelegt. Mit Florence und Maud entwirft die Autorin zwei weibliche Hauptfiguren, die sich auf bemerkenswerte Weise der genretypischen klaren Klassifizierung in Protagonistin und Antagonistin entziehen. (Mal ehrlich: Je besser man die beiden kennenlernt, umso weniger würde man mit ihnen zu tun haben wollen.) Ebenso genreuntypisch und deswegen unbedingt erwähnenswert sind der ausnehmend fesselnde Schreibstil und die stellenweise beinahe philosophische Tiefe, mit der sich die Autorin der jeweiligen Identität, deren Formung und Entwicklung, der beiden unterschiedlichen (?) Frauen widmet.

Dazu faszinierende Schauplätze, überraschende Wendungen und eine verblüffende Auflösung – mehr kann man von einem gelungenen Psychothriller kaum erwarten. Große Leseempfehlung vor allem (aber nicht nur) für buchbegeisterte Thrillerfans.

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Veröffentlicht am 05.09.2022

Ein bemerkenswertes Debüt

Das neunte Gemälde
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„Guten Tag, mein Name ist Dupret. Gilles Dupret […] Spreche ich mit Dr. Lennard Lomberg?“

Als Lennard Lomberg, anerkannter Experte für NS-Beutekunst, diesen Anruf entgegennimmt, ahnt er nicht, was für ...

„Guten Tag, mein Name ist Dupret. Gilles Dupret […] Spreche ich mit Dr. Lennard Lomberg?“

Als Lennard Lomberg, anerkannter Experte für NS-Beutekunst, diesen Anruf entgegennimmt, ahnt er nicht, was für ein Abenteuer ihn erwartet. Es geht um ein geheimnisvolles Gemälde, dessen Rückgabe Lomberg belgeiten soll. Doch bevor der Kunsthistoriker sich mit den Einzelheiten vertraut machen kann, liegt Dupret tot in seinem Hotelzimmer und Lomber gerät ins Visier der Ermittlerin Sina Röhm. Lomberg beginnt, auf eigene Faust die rätselhaften Umstände zu ergründen, die ihn immer weiter in die Vergangenheit führen – und immer tiefer in die Geschichte seiner eigenen Familie …

Bonn, Paris, Barcelona, Luxemburg; 1943, 1966, 2016: Das sind nur einige Handlungsorte und -zeiten dieses rasanten Kunstkrimis, der den fulminanten Auftakt einer neuen Reihe um den charismatischen Kunstkenner Lennard Lomberg bildet.

Was mir persönlich besonders gefallen hat: Wenngleich die Handlung fiktiv ist, finden sich doch zahlreiche historische Verweise, die mein Wissen nicht nur während der – überaus spannenden und kurzweiligen – Lektüre bereichert haben. Ich habe mir so viele Stellen markiert, so vieles gegoogelt, nachgeschlagen, weiterrecherchiert wie schon lange nicht mehr (zumindest nicht bei einem fiktiven Roman).

Fazit: Ein nach wie vor aktuelles und brisantes Sujet, verpackt in eine dynamische Story mit charmant-lebendigen Figuren. Große Leseempfehlung an alle, die Krimis oder Kunst mögen, riesengroße Leseempfehlung an alle, die Krimis UND Kunst mögen.

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Veröffentlicht am 13.05.2022

Süffisant und subtil unheilvoll

Inmitten der Nacht
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Stell dir vor, du hast Urlaub. Endlich! Statt der Schwüle im stickigen Brooklyn erwartet dich eine Woche auf dem mondänen Long Island. Okay, für ein Haus direkt am Strand hat das Budget zwar nicht gereicht ...

Stell dir vor, du hast Urlaub. Endlich! Statt der Schwüle im stickigen Brooklyn erwartet dich eine Woche auf dem mondänen Long Island. Okay, für ein Haus direkt am Strand hat das Budget zwar nicht gereicht – doch dein Feriendomizil hat genau das Quäntchen Luxus mehr als deine Wohnung, dass es sich wie etwas Besonderes anfühlt, aber nicht einschüchtert. Das Wetter ist traumhaft, der Pool erfrischend. Du gibst zwar im Supermarkt mehr Geld aus als gewöhnlich, aber – hey! Es sind Ferien! Die Kids sind so entspannt wie lange nicht mehr, genau wie du selbst. Und auch die eheliche Romantik erfährt eine höchst zufriedenstellende Wiedergeburt. Es könnte nicht besser sein, denkst du, bis … ja, bis eines Nachts ein älteres Ehepaar vor der Tür deines Ferienhauses steht (das sich nach zwei Tagen tatsächlich bereits anfühlt, als sei es dein Haus) und behauptet, dein Vermieter zu sein. Sichtlich aufgelöst berichten sie dir von diesem plötzlichen Stromausfall in New York, der alles lahmgelegt hat. Und deswegen seien sie hierhergefahren, in ihr Ferienhaus, um dem Chaos in der Metropole zu entkommen. Man könne sich doch gewiss miteinander arrangieren? Nur für eine Weile? Nur so lange, bis man Näheres wisse? Indes – wann wird das sein? Das Internet ist ausgefallen, weder Radio noch TV sind noch verfügbar. Zudem scheinen sich die Tiere unversehens recht ungewöhnlich zu benehmen. Und das ist, wie es aussieht, gerade erst der Anfang …

„Inmitten der Nacht“ (Deutsch von Eva Bonné) war eine wahrlich außergewöhnliches Leseerlebnis. In ebenso bestrickendem wie süffisantem Erzählton entwirft Rumaan Alam ein Szenario, in dem scheinbar (?) unaufhaltsam (?) alles (?) außer Kontrolle gerät. Und meine eigenwillige Interpunktion deutet bereits das Vage, Fragwürdige, Rätselhafte an, das diesen Roman durchzieht. Ich habe bis zur letzten Seite gerätselt, was – und ob überhaupt etwas – vor sich geht. Sind die nächtlichen Besucher die, die zu sein sie vorgeben? Stimmt das, was sie berichten? Ist das, was wirklich erscheint, wirklich „wirklich“? Ich habe „Inmitten der Nacht“ kaum aus der Hand legen können. Aber vielleicht lag das (auch) daran, dass ich den Roman im Urlaub gelesen habe. Bei traumhaftem Wetter. Und in einem Feriendomizil, das ein Quäntchen mehr Luxus hatte als meine Wohnung …

Große Leseempfehlung!

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