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Veröffentlicht am 25.02.2019

Endstation Hoffnung

Was uns erinnern lässt
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73 Jahre hat Familie Dressel im Hotel Waldeshöh im Dressels Forst gewohnt. Das kleine Hotel mitten im Wald in der Nähe des Rennsteiges beherbergte zuerst gutbetuchte Kurgäste und bot im 2. WK Frankfurter ...

73 Jahre hat Familie Dressel im Hotel Waldeshöh im Dressels Forst gewohnt. Das kleine Hotel mitten im Wald in der Nähe des Rennsteiges beherbergte zuerst gutbetuchte Kurgäste und bot im 2. WK Frankfurter Schülern einen sicheren Unterschlupf. Nach 1945 durften nur noch die Dressels dort wohnen. Das Haus lag jetzt in einer militärischen Sperrzone. Aber jede Woche putzten die Frauen der Familie die Gästezimmer in der Hoffnung, dass bald wieder Wanderer oder FDGB-Urlauber zu ihnen kommen. 32 Jahre lang. Bis 1977.

Als Milla 2017 auf dem Gebiet der ehemaligen innerdeutschen Grenze auf der Suche nach einem Lost Place (verlassenen Ort) eine unter Schutt begrabene Falltür entdeckt, kann sie nicht widerstehen und öffnet diese. Sie ist überrascht, als sie einen komplett eingerichteten Keller entdeckt und den Hinweis, dass er früher zum Hotel Waldeshöh gehörte. Sie findet u.a. Schulhefte von Andreas und Christine Dressel, die letzten sind auf 1977 datiert. Was ist damals passiert? Milla ist von dieser Frage und dem verwunschen wirkenden Ort so fasziniert, dass sie Christine ausfindig macht und von ihrem Fund erzählt. Aber Christine will den Ort nicht sehen: „Ich kann dort nicht mehr hin. Es ist noch in meinem Kopf, so wie es davor war. Und das will ich nicht ändern.“ (S. 85)

Abwechselnd erzählt Kati Naumann die Geschichte der Dressels von 1945 bis 1977 und Millas Bestreben, ihnen nachträglich zu Gerechtigkeit zu verhelfen. Denn diese versuchen seit der Wende erfolglos, Dressels Forst zurückzubekommen. Obwohl Milla und Christine sehr verschieden sind – immerhin trennt sie eine ganze Generation und eine unterschiedliche Vergangenheit – verstehen sie sich gut.
Milla fühlt sich verloren, seit der Vater ihres Sohnes sie verließ. Damals fing sie an, Lost Places zu suchen. An ihnen fühlt sie, dass sie nicht die Einzige ist, die verlassen wurde. Außerdem sie trennt sie sich seither regelmäßig von Dingen, die sie nicht mehr braucht – auch von unliebsamen Erinnerungen.
Christine hingegen hat ein ganzes Zimmer voller Unterlagen der Familie, die bis 1904 zurückreichen. Ein Zimmer voller Andenken. „Ich glaub, ich könnte mit all diesen Erinnerungen nicht leben.“ „Und ich vermutlich nicht ohne sie.“ (S. 227)
Durch das gemeinsame Aufarbeiten der Familiengeschichte ändert sich ihre jeweilige Sicht auf das Leben und bringt ein lang gehütetes Geheimnis ans Licht.

Da ich selber in der DDR aufgewachsen bin, war ich sehr neugierig auf das Buch. Mir war bis jetzt nicht wirklich bewusst, dass die innerdeutsche Grenze am Rennsteig verlief und jahrzehntelang ein recht großer Teil militärisches Sperrgebiet war.

Von Beginn an entwickelt das Buch einen unglaublichen Sog. Kati Naumann schreibt sehr komplex und verwendet eine dichte Erzählsprache.
Ich war fasziniert von der Familiengeschichte, wie die Dressels all die Jahre allein da oben im Wald ausharren und hoffen, obwohl sie immer größeren Repressalien ausgesetzt werden. Am Anfang dürfen sie noch Besuch von Freunden bekommen, bald brauchen sie selbst einen Passierschein, um das Gelände zu betreten oder zu verlassen. Ihnen wird das Telefon abgestellt, der Krankenwagen darf nicht mehr zu ihnen hochfahren, die Post müssen sie sich 8 km entfernt im nächsten Ort abholen. Sie stehen unter der dauernden Beobachtung der Grenzsoldaten. Auf ihren jahrzehntealten Wegen werden Stolperdrähte gespannt, damit sie nur den Hauptweg benutzen. Sie hören nachts immer wieder Schüsse, hochgehende Mienen, Schreie – und wissen nie, ob es ein Reh erwischt hat oder einen Republikflüchtling. „Du kannst Niemanden halten, der nicht bleiben will. Nicht mit Liebe und auch nicht mit Stacheldraht und Tretminen.“ (S. 343)
Ich glaube nicht, dass ich das ausgehalten hätte.
Aber sie lieben ihren Wald. Dressels Forst ist ihre Heimat, ihre Wurzel. Sie leben sehr naturverbunden, halten zusammen und hoffen, dass sie das Waldeshöh wieder als Hotel betreiben können. Um diese Hoffnung und den Zusammenhalt habe ich sie beneidet.

Das Buch ist sehr emotional und aufwühlend. Ich hatte beim Lesen immer wieder Beklemmungsgefühle und musste es kurz aus der Hand legen, über das Gelesene nachdenken. Ich weiß nicht, ob ich so hätte leben können oder wollen. Allein im Wald, und doch gefangen, nur an einer Stelle ein Schlagbaum als Tor zum Rest der Republik.
Ihre Devise hieß: Nur nicht auffallen. Und trotzdem kam immer wieder die Angst hoch, dass man ihnen diese Heimat doch noch wegnimmt.
Ich habe mich beim Lesen an vieles erinnert, was ich zum Teil ganz hinten im Gedächtnis vergraben hatte – wie man sich verhalten musste, was man wem sagen durfte und was nicht, welche Kleidung in der Schule verboten war und welche ausdrücklich erwünscht. Nur die Westpäckchen kenne ich leider nicht aus eigener Erfahrung.

Sehr gefallen hat mir Kati Naumanns poetische Sprache. Einer meiner Lieblingssätze ist: „Sie schob ihre Füße unter das Laub, als wären es Wurzeln, und blieb für einige Zeit unbeweglich, wie einer der Bäume.“ (S. 13)

„Was uns erinnern lässt“ ist eines der Bücher, das noch lange in mir nachhallen wird. Eine sehr emotionale und poetische Geschichte über ein wichtiges Stück verdrängte DDR-Geschichte. #gegendasvergessen

Veröffentlicht am 22.02.2019

Einmal Ehebrecher, immer Ehebrecher

Das Heinrich-Problem
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„Alberta, in den letzten 10 Jahren war unsere Beziehung, unser … Bündnis, wie ein Paar alter Pantoffeln. Bequem meinetwegen, aber ausgetreten und abgenutzt.“ (S. 10) Berti fällt aus allen Wolken, als ihr ...

„Alberta, in den letzten 10 Jahren war unsere Beziehung, unser … Bündnis, wie ein Paar alter Pantoffeln. Bequem meinetwegen, aber ausgetreten und abgenutzt.“ (S. 10) Berti fällt aus allen Wolken, als ihr Mann Heinrich ihr mit diesen Worten das Ende ihrer Ehe mitteilt.
Berti ist Coach für Lebens- und Beziehungsfragen und hat schon einigen Frauen (und Männern) geholfen, ihrem Leben eine Wendung oder neuen Sinn zu geben. Aber dass sie selbst auch mal vor diesem Problem stehen würde, hätte sie nie gedacht. Berti vermutet natürlich, dass Heinrich längst eine neue, jüngere, Frau gefunden hat. Er ist nicht der Typ, der allein lebt. Dazu lässt er sich viel zu gern umsorgen und bekochen.
Kurz darauf lernt Berti sie auch schon kennen – die Neue. Und stellt fest, dass sie nicht die Einzige ist, die Heinrich all die Jahre betrogen hat. Ganz im Gegenteil. Seine Sekretärin Martha könnte Geschichten erzählen ... „Wieviel Wahrheit können sie denn vertragen?“ (S.77) Aber will Berti wirklich alles wissen? Ist sie schon bereit dafür? Ja! Sie beginnt sich Verbündete im Kampf gegen Heinrich zu suchen und einen totsicheren Plan auszuarbeiten. Nein, sie will ihn nicht umbringen, nur mit seinen eigenen Waffen schlagen und an seiner empfindlichsten Stelle treffen ... „Es ist immer gut, seinen Gegner zu kennen.“ (S. 22)

Heinrich ist ein Mann, den man so richtig schön hassen kann. Ein Mann in den besten Jahren, Anwalt, mit allen Wassern gewaschen, der seine Frau jetzt über den Tisch ziehen will und sich für sehr schlau hält. 20 Jahre lang drehte sich alles nur um ihn. Berti hielt ihm den Rücken frei und die Wohnung sauber, das Essen stand stets pünktlich auf dem Tisch. Um Geldangelegenheiten hat sie sich nie kümmern müssen. Leider wollte er leider keine Kinder mehr – Juliane, seine Tochter aus erster Ehe, war störend genug in ihrer Zweisamkeit, fand Heinrich.
Und Berti war zufrieden. Ihre Coaching-Tätigkeit war mehr ein Art bezahltes Hobby, die Einnahmen deckten gerade mal die Miete für die Praxis. Nach Heinrichs Eröffnung kommt das böse Erwachen. Erst glaubt sie an einen blöden Scherz, dann daran, dass er es sich noch mal überlegt – und kurzzeitig sieht es auch wirklich so aus. Aber nicht mit ihr! Berti wächst über sich hinaus und hält sich endlich mal an die Ratschläge, die sie sonst ihren Kund(in)en gibt: „Wenn sie nichts tun, haben sie bereits verloren.“ (S. 142)

Ich habe mich selten so über die Rache einer betrogenen Ehefrau an ihrem Mann amüsiert, wie bei diesem Buch. Alexandra Holenstein schreibt sehr erfrischend, rasant, und mit einer ordentlichen Portion Situationskomik.
Alle Protagonisten (über die ich hier nicht zu viel verraten möchte) sind sehr treffend ausgearbeitet. Meine Lieblingsnebendarstellerin ist dabei Bertis Dauerkundin Rosa. Am meisten gewundert habe ich mich über Heinrichs Tochter Juliane, die sehr lange gebraucht hat, um hinter dessen Fassade zu schauen. Dafür hätte ich sie mehrfach gern mal ordentlich durchgeschüttelt.
„Das Heinrich-Problem“ ist von Beginn an tolles Kopfkino und ich kann es mir sehr gut verfilmt vorstellen.

Veröffentlicht am 21.02.2019

Olivera auf der Flucht

Die Salbenmacherin und der Engel des Todes
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Olivera steht kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes. Eigentlich müsste sie glücklich sein, aber der Tod ihrer geliebten Großmutter im fernen Konstantinopel stürzt sie in eine tiefe Depression. Weder ...

Olivera steht kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes. Eigentlich müsste sie glücklich sein, aber der Tod ihrer geliebten Großmutter im fernen Konstantinopel stürzt sie in eine tiefe Depression. Weder ihr Mann Götz noch die Arbeit im Spital können sie von ihrem Schmerz ablenken.
Eines Nachts wird in ihre Offizin eingebrochen und alles verwüstet. Kurz darauf stirbt einer der Pfründer im Spital, während sie ihn behandelt. Olivera kann die Vorwürfe, ihn vergiftet zu haben, zum Glück entkräften. Als dann aber auch noch eine Wöchnerin stirbt, weisen wieder alle Indizien auf Olivera hin. Ihr Freund Jacob, der Henker, muss sie verhaften, verhilft ihr aber auf dem Weg ins Gefängnis zur Flucht. Olivera bleibt nicht viel Zeit, der Winter naht und ihr Kind kann jederzeit kommen. Wer steckt hinter den Morden und warum lenkt der Täter den Verdacht auf sie? Ist es nur ein Zufall oder von langer Hand geplant?

„Die Salbenmacherin und der Engel des Todes“ ist bereits der 4. Teil der historischen Krimireihe um Olivera und spielt im mittelalterlichen Nürnberg. Ich würde empfehlen, die Bücher der Reihe nach zu lesen, weil die sich Handlung und Personen immer weiterentwickeln.

Olivera ist eine starke, gebildete Frau und sehr hilfsbereite Frau. So behandelt sie auch Patienten, die sie nicht bezahlen können. Leider muss sie immer noch gegen die Vorurteile und Missgunst ihrer Neider und Feinde kämpfen. Im letzten Band „Die Salbenmacherin und die Hure“ hatte sich vor allem der Stadtmedicus auf Olivera eingeschossen. Er verteufelt sie und ihre Arzneimittel bzw. Behandlungsmethoden immer noch und versucht ihr zu schaden, wo es nur geht.
Zum Glück hat Olivera auch schon neue Freunde gefunden, wie z.B. den Henker Jacob, die Hebamme Brida und die frühere Hure Gerlin, welche jetzt im Spital arbeitet und zu Olivera aufsieht.
Der ehemalige Straßenjunge Jona ist inzwischen Götz’ Lehrjunge in der Apotheke. Leider trauen Götz und sein Knecht Mathes ihm nicht. Sie glauben, dass er in Oliveras Offizien eingebrochen ist um Arzneimittel zu stehlen und zu verkaufen. Dabei hat sich Jona nichts zu Schulden kommen lassen, sondern auf einen Neuanfang gehofft. Das Misstrauen der Männer setzt ihm zu: „Gott lässt nicht zu, dass es Dieben wie uns gutgeht.“ (S. 156)

Ich bin immer wieder fasziniert, was für Medikamente und Arzneimittel damals in welcher Form angewendet wurden bzw. was man alles für die Heilkunst benutzte.

Sehr interessant sind auch die Schilderungen, wie im Mittelalter Verbrechen aufgeklärt wurden. Ermittlungen, so wie wir sie kennen, gab es kaum. Stattdessen setzte die Gerichtsbarkeit auf peinliche Befragungen. Diese werden genau so facettenreich geschildert wie die damaligen Lebensumstände.

Silvia Stolzenburg erzählt die Geschichte wieder extrem spannend und temporeich. Man mag das Buch eigentlich kaum aus der Hand legen, weil man um Olivera bangt und mit ihr mit mitfiebert. Leider war das Buch viel zu schnell ausgelesen und ich hoffe auf eine baldige Fortsetzung.

Veröffentlicht am 18.02.2019

Zwei Leben – Zwei Welten

Die Fliedertochter
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1936 geht die aufstrebende Varieté-Sängerin Luzie von Berlin nach Wien. Eigentlich träumt sie von einer Karriere beim Film, aber die Halbjüdin fühlt sich nach dem Erstarken des Nationalsozialismus nicht ...

1936 geht die aufstrebende Varieté-Sängerin Luzie von Berlin nach Wien. Eigentlich träumt sie von einer Karriere beim Film, aber die Halbjüdin fühlt sich nach dem Erstarken des Nationalsozialismus nicht mehr sicher. Ihr Großvater schenkt ihr zum Abschied ein Tagebuch. Diesem vertraut sie ihre Sorgen und Ängste an, ihr Heimweh und ihre Träume – und die Gefühle, die sie bald für die Freunde Bela und Richard hegt.
Luzie hat Glück und bekommt ein Engagement im „Theater an der Wien“. Dieses ist ein Sammelbecken für viele Künstler, die wie sie Nazi-Deutschland verlassen mussten. Dass sie Halbjüdin ist, hat bisher dank ihrer geschönten Biografie noch niemand herausbekommen – aber wie lange geht das noch gut? Und bringt sie damit nicht auch die, die sie decken in Gefahr?

Berlin 2018: Paulina wird von ihrer „Ersatzoma“ Antonia (kurz Toni) gebeten, an ihrer statt nach Wien zu fahren. Toni hat einen beunruhigenden Brief von einer Lena Brunner bekommen, deren Vater Peter Matusek ausgerechnet ihr etwas hinterlassen hat. Toni ist irritiert, weil sie noch nie von ihm gehört und auch sonst keine Verbindung nach Wien hat. Aber Peter hat eine klare Anweisung hinterlassen: Lotte Laurich, Berlin, Unbedingt suchen. Tochter Antonia Laurich, geboren 1943.“ (S. 41)

„Die Fliedertochter“ ist bereits der vierte Roman von Teresa Simon und hat mich wieder von Beginn an in seinen Bann gezogen.
Paulina ist eine interessante Frau, eine Künstlerin, die nicht viel von sich preisgibt. „Auf der Suche. Kunst hilft mir dabei, egal, in welcher Form. Sie zu erleben, ist für mich wie Atmen, ein tiefes Inhalieren, so lange, bis ich satt bin.“ (S. 26) Ihre Reise nach Wien ist eigentlich nur als kurze Auszeit gedacht, in der sie u.a. ihre Beziehung zu ihrem On-/Off-Freund überdenken will. Aber als sie beginnt, Luzies Tagebuch zu lesen, rücken die Rückreise, ihre eigenen Sorgen und Probleme bald in den Hintergrund. Vor allem als sie feststellt, dass sie und Luzie eine Gemeinsamkeit haben – eine Schneekugel vom Wiener Prater aus den Jahren 1936 bzw. 1938. „Geheimnisse haben ihren ganz eigenen Reiz, findest Du nicht?“ (S. 103)
Genau wie Paulina hat auch mich Luzies Geschichte sofort gepackt. Ich habe mit ihr gelitten, mich um ihre Großeltern gesorgt, die sie nur ungern zurückgelassen hat. Die Schuldgefühle deswegen überrollen sie an manchen Tagen. Dann kommt der „Beitritt“ Österreichs zu Deutschland – Luzies Angst um ihre gefälschte Identität flackert erneut auf, sie zieht sich zurück. Aber sie beweist auch immer wieder Mut – zum Teil leider ohne vorher richtig darüber nachzudenken, was ihr dann beinahe zum Verhängnis wird.

Ich habe schon viele Bücher über die Nazis und den 2. WK gelesen (auch Teresa Simon thematisiert diese Zeit in allen ihren Büchern), trotzdem war ich wieder erschüttert, was die Juden und anderen „Asozialen“ – Homosexuelle, Behinderte, Zigeuner etc. – erdulden mussten. Die sogenannten „Herrenmenschen“ herrschen nicht nur durch brutale Gewalt, Teresa Simon erzählt auch von Euthanasie und der Zwangssterilisation einer jungen Frau – an dieser Stelle ist mir fast das Buch aus der Hand gefallen und auch jetzt bekomme ich bei der Erinnerung daran sofort wieder eine Gänsehaut.

Doch auch die Fans von Liebesgeschichten kommen bei „Der Fliedertochter“ auf ihre Kosten. Neben der Schneekugel gibt es nämlich noch eine weitere Parallele zwischen Luzie und Paulina – beide fühlen sich zu je 2 Männern hingezogen und müssen sich entscheiden.
Und nicht zuletzt versteht es die Autorin, sehr viel Wiener Flair und Schmäh in beiden Strängen ihrer Geschichte zu transportieren. Ich war vor 30 Jahren schon mal in Wien und möchte nach dem Buch jetzt unbedingt mal wieder hin.

Veröffentlicht am 14.02.2019

Zum Glück kein typischer „Insel-Arzt-Roman"

Das Seehospital
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Frida studiert 1920 gegen den Willen ihrer Familie in Hamburg Medizin. Ihr Großvater, das Familienoberhaupt, hat ihr deswegen sogar den Geldhahn zugedreht. Als er stirbt fährt Frida zur Beerdigung nach ...

Frida studiert 1920 gegen den Willen ihrer Familie in Hamburg Medizin. Ihr Großvater, das Familienoberhaupt, hat ihr deswegen sogar den Geldhahn zugedreht. Als er stirbt fährt Frida zur Beerdigung nach Hause nach Amrum – obwohl sie die Enge, Einschränkungen und Konventionen auf der Insel hasst. Eigentlich will sie schnell zurück nach Hamburg, aber dann erklären ihre Mutter und ihr Stiefvater, dass das Erbe ihres Großvater viel kleiner ausfällt als erwartet – sie müssten das Inselhospital schließen, welches ihr Großvater für lungenkranke Waisenkinder errichtet hat. Das wollen Frida und ihre Schwestern Louise und Emily vermeiden, denn in Hamburg herrschen schlimme Zustände, die Kinder kamen halb verhungert aus dem Waisenhaus bei ihnen an. Da das Personal bereits entlassen wurde, kümmern sich die drei jungen Frauen um die Kinder, bis ihnen hoffentlich eine bessere Lösung einfällt. Frida pausiert sogar mit ihrem Studium.

Frida, Louise und Emily sind sehr verschieden. Frida wirkt oft kühl und diszipliniert, aber sie brennt für die Medizin und will unbedingt Ärztin werden. Alles Neue, wie z.B. die Röntgenuntersuchungen, fasziniert sie. Sie will den Menschen helfen und scheut sich nicht, auch andere um Hilfe zu bitten.
Die kecke Louise hat noch keinen Plan für ihr Leben, liebt aber Amrum und will auf jeden Fall hierbleiben. „... spürst Du nicht auch die Freiheit? Ein Blick übers Meer und Du kommst zur Ruhe.“ (S. 68) Sie träumt von einer Ehe aus Liebe. Als ihre Mutter ihr vorschlägt, einen 50jährigen Jagdfreund ihres Vaters zu heiraten, verschwindet sie. Hat sie sich etwas angetan?
Emily träumt vom eigenen Fotoatelier in Hamburg oder Berlin, ordnet sich aber dem Willen ihrer Mutter und ihres Stiefvaters unter – schließlich geht nichts über die Familie. Nicht einmal das eigene Glück? „Einer muss doch dafür sorgen, dass alles weiterläuft.“ (S. 253)
Christian, der Halbbruder der Schwestern, ist erst 13, sehr verzogen und wird permanent bevorzugt. Er war mir extrem unsympathisch, weil er eine widernatürliche Freude daran hatte, hilflose Tiere und schwächere bzw. kleinere Kinder zu quälen. Ihm hätte ich mehrfach gern „den Hosenboden stramm gezogen“.
Luises Mutter ordnet sich ihrem Mann komplett unter – was er sagt ist Gesetz und wird nicht hinterfragt. Auch das Wohl ihrer Töchter scheint ihr leider nicht wirklich am Herzen zu liegen. Hauptsache, der schöne Schein wird gewahrt. Ich konnte ihre Beweggründe nicht immer verstehen, aber sie war als Figur trotzdem in sich stimmig.
Rudolf, der Stiefvater, tut nach außen so, als würde ihm die Familie über alles gehen, dabei will er nur nicht seinen Lebensstil aufrechterhalten. Er war mittellos und ist erst durch die Hochzeit zu Geld gekommen ...

Das Setting ist in sich stimmig. Die Autorin beschreibt die gegensätzlichen Lebensweisen auf der rauen Insel und der vom Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Großstadt, von arm und reich sehr bildlich. Sie geht auch auf die Zustände in den Hospitälern und Waisenhäusern ein, die zum Teil erschreckenden Behandlungs- und Forschungsmethoden, das Elend in den Gängevierteln und die sich verbreitenden Heroinsucht so kurz nach dem 1. WK.

„Das Seehospital“ hat mir sehr gut gefallen. Helga Glaesener beweist wieder einmal, dass sie eine ganz große Könnerin ihres Fachs ist. Ihr Buch hebt sich positiv von der Masse der „Insel-Arzt-Romane“ ab. Sie verwendet keine stereotypen Charaktere, die Personen und deren Handelungen passen genau in die damalige Zeit. Sie erspart ihren Lesern vorhersehbare Liebesgeschichten und unnötige Happy Ends. Es muss nicht alles gut ausgehen, das tut es im wirklichen Leben doch auch nicht.