Packendes Zeitzeugnis deutsch-deutscher Geschichte
Was uns erinnern lässtDie für mich noch unbekannte Autorin Kati Naumann hat einen Roman geschrieben, der mich tagelang sehr beschäftigt hat. Er erzählt die Geschichte einer Familie im deutsch-deutschen Grenzgebiet. Ein Leben ...
Die für mich noch unbekannte Autorin Kati Naumann hat einen Roman geschrieben, der mich tagelang sehr beschäftigt hat. Er erzählt die Geschichte einer Familie im deutsch-deutschen Grenzgebiet. Ein Leben zwischen Stacheldrahtzäunen. Für mich als Österreicherin ein unvorstellbares Gefühl und ein Thema, das für mich Neuland ist. Umso beeindruckter war ich von der Erzählkunst der Autorin, bei der die Liebe zu diesem Ort und der Natur, besonders dem Wald, durch jede Zeile zu spüren ist.
In einem der zwei Erzählstränge wird die Geschichte der (fiktiven) Familie Dressel erzählt, die von 1945 bis 1977 in dieser Sperrzone lebte. Seit der Teilung Deutschlands liegt das Hotel Waldeshöh am Rennsteig im Thüringer Wald im Grenzgebiet. Gut betuchte Hotelgäste, anschließend ein sicherer Unterschlupf für Kinder aus der Stadt, die während des Zweiten Weltkrieges aufs Land geschickt wurden - Wanderstation und schließlich ab 1945 nur mehr die Familienunterkunft der Dressel - das alles stand für das Hotel Waldeshöh. Danach durfte niemand mehr ohne Passierschein hinaus oder hinein. Kein Wanderer verirrt sich mehr in die Gegend, der Schulweg ist mühsam und doch gibt die Familie nicht auf. Sie stellen sich allen Anfeindungen des Regimes und wollen ihre Heimat nicht verlassen.
Im Jahr 2017 stößt die alleinerziehende Mutter Milla bei ihrer Suche nach "Lost Places" auf den Keller des ehemaligen Hotels Waldeshöh. Zuerst ist sie begeistert endlich als Erste auf einen "Lost Place" (vergessene Orte) zu stoßen und ihren Instagram Account noch populärer zu machen. Im unzerstörten Keller findet sie Schulhefte und noch selbst hergestellte Marmelade und behält ihren Fund noch für sich. Milla versucht diese Christine Dressel, deren Namen auf dem Heft steht, zu finden, um noch mehr über diesen unterirdischen Schatz zu erfahren. Bald ist sie mitten drinnen in einer unglaublichen Familiengeschichte, denn Christine erzählt ihr von ihren Vorfahren der Hoteldynastie in der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und vom Leben im "Nirgendwo"....dem Sperrgebiet zwischen den Grenzen und schließlich ihrer Zwangsaussiedlung.
Kati Naumann - diesen Namen muss ich mir merken, denn ihr nächstes Buch werde ich definitv lesen! Was sie hier an privaten Erinnerungen und Recherchen mit Zeitzeugen erzählt, die sie in die fiktive Handlung miteingewoben hat, ist ein grandioses Zeitzeugnis. Beide Handlungsstränge bauen logisch aufeinander auf und auch wenn ich anfangs mit Milla nicht so recht warm geworden bin, änderte sich das im Laufe der Geschichte. Die Charaktere sind bis in die kleinsten Nebenfiguren liebevoll gezeichnet und wunderbar authentisch. Vorallem die Frauen aus dem Vergangenheitsstrang sind starke Persönlichkeiten. Besonders ans Herz gewachsen ist mir die optimistische Johanna, die noch aus jeder noch so aussichtlosen Situation etwas Positives gewinnen konnte. Die mondäne Marie oder die aufmüpfige Elvira stehen den männlichen Protagonisten in nichts nach - im Gegenteil...sie sind unerschütterlich und stark.
Dieser Roman um Zwangsumsiedlung und ein Leben in einem Sperrgebiet, wo die Menschen besonders überwacht und schikaniert wurden, hat mich gefesselt. Die Schikanen des Regimes und die Repressalien, denen die Familie ausgesetzt wurde, machten mich sprachlos. Es ist ein Blick hinter den Zaun in die ehemalige DDR und ihre Machenschaften. Die Erzählung hat mich mitgenommen und die Bedeutung meiner eigenen Heimat vor Augen geführt.
Schreibstil:
Der Schreibstil der Autorin ist packend, gefühlvoll und bildhaft. Ich war mit ihr im Wald und in der Sperrzone, im versteckten Keller und in der grauen Industriestadt. Kati Naumann erzählt wunderbar atmosphärisch und hat hervorragend recherchiert. Was ich in meinem Vorabexemplar vermisst habe, ist ein Stammbaum der Familie und ich hoffe, dass sich dieser im Hardcover befinden wird, das am 1. März erscheint.
Fazit:
Ein Roman über die Bedeutung von Heimat und ein packendes Zeitzeugnis deutsch-deutscher Geschichte. Wunderbar erzählt, einfühlsam beschrieben und vorallem ohne zu verurteilen. Wieder ein Roman, der mich einiges gelehrt hat und sicherlich noch lange in Erinnerung bleibt. Von mir gibt es 5 Sterne, den Lieblingsbuch-Status und eine absolute Leseempfehlung!