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Veröffentlicht am 01.05.2019

Spannender Krimi und Wohlfühllektüre im besten Sinne

Weiße Fracht
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Es kommt selten vor, dass ein sogenannter „Urlaubskrimi“ all meine Erwartungen erfüllt, und noch weniger erwarte ich die Fortsetzung einer solchen Reihe mit Ungeduld – außer bei den „Lost in Fuseta“-Kriminalromanen, ...

Es kommt selten vor, dass ein sogenannter „Urlaubskrimi“ all meine Erwartungen erfüllt, und noch weniger erwarte ich die Fortsetzung einer solchen Reihe mit Ungeduld – außer bei den „Lost in Fuseta“-Kriminalromanen, was mit Sicherheit der Hauptfigur geschuldet ist. Leander Lost, der Hamburger Kommissar, der sein Austauschjahr bei der portugiesischen Polícia Judiciária an der Ost-Algarve verbringt. Von seinen Kollegen oft scherzhaft Senhor Léxico genannt, weil er zum einen alles weiß, zum anderen als Asperger eine ganz besondere Sicht auf die Fragen der Existenz hat. Im zwischenmenschlichen Bereich ist er eher unbeholfen, bedient sich in der Kommunikation eines „Kompendiums sinnloser Sätze, schießt oft über das Ziel hinaus. Und obwohl er nicht lügen kann, ist er doch in der Lage, anhand seiner genauen Beobachtungsgabe bei einem Gegenüber im Bruchteil einer Sekunde festzustellen, ob dieser die Wahrheit sagt. Eine Fähigkeit, die bei Vernehmungen von unschätzbarem Nutzen ist.

Gemeinsam mit Graciana und Carlos, seinen portugiesischen Kollegen, ermittelt er im Mordfall an einem deutschen Aussteiger, dem Bruder des stellvertretenden Hamburger Polizeipräsidenten, was zur Folge hat, dass zwei ehemalige Kollegen Losts die Ermittlungen vor Ort unterstützen sollen. Dumm, überheblich und ohne Fingerspitzengefühl in ihren Aktionen, sehen Graciana und Carlos, wie geringschätzig sie ihren deutschen Freund behandeln. Und das bringt ihnen keine Sympathiepunkte ein.

Eine zweite Leiche wird gefunden, aber die Ermittlungen kommen nur stockend voran. Aber dann, der entscheidende Durchbruch, der darauf hinweist, dass die Helfershelfer eines inhaftierten Kriminellen eine große Menge Drogen auf dem Seeweg ins Land einschleusen wollen und dass der ermordete Deutsche auf irgendeine Art darin verwickelt war…

Spannend, aber „Weiße Fracht“ ist mehr als ein bloßer Kriminalroman, obwohl der Autor ein höchst interessantes Thema beleuchtet, nämlich die Kanäle, auf denen Drogenlieferungen nach Europa gelangen. Dazu die sympathischen Protagonisten, die detaillierten Landschaftsbeschreibungen, die unaufdringlichen Schilderungen der portugiesischen Lebensart, und dann natürlich auch die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Ribeiro sehr feinfühlig beschreibt und von Band zu Band weiterentwickelt. Aber auch die Dramatik, die sich aus dem Umstand ergibt, dass das Austauschjahr des deutschen Kommissars sich dem Ende entgegen neigt und die Rückkehr nach Hamburg im Raum steht. Gerade jetzt, wo sich für ihn beruflich und im Privaten alles zum Guten zu entwickeln scheint. Als Leser drückt man ihm die Daumen, hoffend, dass dieser Kelch an ihm vorübergeht. Aber wozu hat er schließlich Freunde? Die werden schon noch eine Lösung finden, oder?

„Weiße Fracht“ unterhält im besten Sinne. Und nun beginnt wieder die Wartezeit, bis der nächste Teil der Reihe mit Leander Lost und Graciana und Carlos, seinen Freunden von der Polícia Judiciária, erscheint. Ich warte ungeduldig darauf!

Veröffentlicht am 28.04.2019

Ein ungeschönter Blick oder Schreiben als Therapie

Cherry
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„Cherry“ speist sich aus der Biografie des Autors. Allerdings bleibt es dessen Geheimnis, inwieweit die geschilderten Episoden seinen eigenen Erlebnissen entsprechen. Aber man darf davon ausgehen davon, ...

„Cherry“ speist sich aus der Biografie des Autors. Allerdings bleibt es dessen Geheimnis, inwieweit die geschilderten Episoden seinen eigenen Erlebnissen entsprechen. Aber man darf davon ausgehen davon, dass er den Großteil dessen, was er schildert, genau so erlebt hat.

Aufgewachsen in einer amerikanischen Mittelklasse-Familie, kommt Nico Walker bereits als Jugendlicher mit Drogen in Kontakt. College in Cleveland, Abbruch, danach Army. Knapp zwanzigjährig wird er in den Irak geschickt, heiratet vor der Abreise seine Freundin und leistet seinen Militärdienst an der Front bei über 250 Einsätzen in einem Sanitätskorps ab, wofür er zahlreiche Auszeichnungen erhält. Diese Zeit geht nicht spurlos an ihm vorüber. Opiode und Drogen betäuben. Nach seiner Rückkehr findet er sich im Alltag nicht mehr zurecht, kämpft mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Heroin hilft, und so wird er abhängig. Die Sucht will finanziert werden, also beschafft er sich das Geld durch Banküberfälle, wobei die erbeuteten Summen überschaubar sind. Er wird geschnappt und zu elf Jahren Haft verurteilt. Seine Entlassung steht für November 2020 an.

„Cherry“, Army-Slang für Frischlinge, ist sicherlich keine große Literatur, sondern eher der Versuch des Autors, Erlebtes mittels Schreiben zu verarbeiten. Eigentherapie, sozusagen. Obwohl die Sprache simpel ist, gewinnt das Buch spätestens dann an Tiefe, wenn Walker seine Erlebnisse im Irak-Krieg schildert. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass er nach der Rückkehr in die Heimat von Erinnerungen heimgesucht wird, die sich in PTBS manifestieren. Und hier zeigt sich dem Leser auch ein ungeschönter Blick auf ein Amerika, das seinen Veteranen nichts, aber auch gar nichts zu bieten hat und sie mit ihren Problemen, ganz gleich, ob gesundheitlicher oder finanzieller Natur, allein lässt. Die medizinische Betreuung erschöpft sich im Verschreiben von Medikamenten, die Abhängigkeit generieren. Und zu der Opiod-Krise geführt haben, die mittlerweile die gesamten Vereinigten Staaten überzieht.

Der Roman ist authentisch. Geschrieben von einem, der das Grauen er- und überlebt hat und glücklicherweise geschnappt wurde. Wer weiß, ob er sonst noch leben würde. Positiv vermerken muss man die Tatsache, dass Walker sich nicht in Selbstmitleid suhlt, sondern seine „Karriere“ mittlerweile aus der Distanz sieht und beschreibt. Bleibt zu hoffen, dass er auch nach seiner Entlassung einen großen Bogen um Drogen machen wird.

Die Filmrechte sind mittlerweile verkauft, für die Hauptrolle ist der englische Schauspieler Tom Holland im Gespräch.

Veröffentlicht am 19.03.2019

Wahrheit will keine Götter neben sich

Das Ende der Lügen
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Everybody’s darling wird sie wohl nicht mehr werden. Claire Dewitt, die unkonventionelle Protagonistin der amerikanischen Autorin Sara Gran, polarisiert. Und das ist auch gut so, denn glattgebügelte Ermittlerinnen ...

Everybody’s darling wird sie wohl nicht mehr werden. Claire Dewitt, die unkonventionelle Protagonistin der amerikanischen Autorin Sara Gran, polarisiert. Und das ist auch gut so, denn glattgebügelte Ermittlerinnen gibt es im Krimigenre wie Sand am Meer. Claire DeWitt ist wohltuend anders. Okkultem und Drogen in jeder Form nicht abgeneigt und Anhängerin des französischen Detektivs Silette, dessen Standardwerk Detection ihre Bibel und Leitfaden ist. Immer auf der Suche nach der Wahrheit, Gerechtigkeit spielt bei ihr nur die zweite Geige.

In „Das Ende der Lügen“, dem dritten Band der Reihe sind es verschiedene Fälle, miteinander verknüpft, in denen Claire die Wahrheit an Licht bringen will oder schon gebracht hat. Vergangenheit und Gegenwart. Der aktuelle betrifft sie selbst, denn ein absichtlich herbeigeführter Autounfall hätte sie fast das Leben gekostet. Stellt sich natürlich die Frage, wer ein Interesse daran hat, sie umzubringen. Ob das mit ihrer vor vielen Jahren verschwundenen Jugendfreundin Tracy zusammenhängt? Drei Teenager in Brooklyn, die beeinflusst von den Cynthia Silverton-Heftchenromanen ihre ersten Gehversuche in der Detektivarbeit gewagt hatten und durch das mysteriöse Verschwinden Tracys auseinandergerissen wurden. Wo findet sich die Lösung dieses Rätsels? In den Heftchen, die Claire kürzlich aufgetrieben hat ? Aber zuerst einmal gilt es herauszufinden, wer für den Mordversuch an „der besten Detektivin der Welt“ verantwortlich ist. Vielleicht findet sich ja ein Hinweis in einem ähnlichen Fall, den sie 1999 in L.A. bearbeitet hat.

Obwohl die Erzählweise durch die verschiedene Zeitebenen recht verschachtelt ist und sich die Zusammenhänge dem Leser nicht immer erschließen, verliert die Autorin nie den Überblick über die unterschiedlichen Handlungsstränge. Der Leser hingegen schon das eine oder andere Mal. Aber genau das macht den Reiz der Claire DeWitt-Romane aus. Alles ist irgendwie chaotisch, manche Fälle lassen sich lösen, andere wieder nicht. Wie im richtigen Leben.

Veröffentlicht am 18.03.2019

Mein Buch des Jahres!

Jahre des Jägers
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Kein Zweifel, mein Buch es Jahres steht bereits jetzt schon fest. Nach „Jahre des Jägers“ (ausgezeichnet übersetzt von Conny Lösch) kann ich mir kaum vorstellen, dass in 2019 noch ein Roman erscheint, ...

Kein Zweifel, mein Buch es Jahres steht bereits jetzt schon fest. Nach „Jahre des Jägers“ (ausgezeichnet übersetzt von Conny Lösch) kann ich mir kaum vorstellen, dass in 2019 noch ein Roman erscheint, der es mit diesem Schwergewicht aufnehmen kann.

Es ist ein Höllenritt, auf den uns Don Winslow in „Jahre des Jägers“ (Abschlussband der Kartell-Trilogie) mitnimmt. Ein Roman, vollgepackt mit Gewalt. Über Verluste, Rache, Gerechtigkeit. Über einen Krieg, in dem es nur Verlierer gibt, in dem unzählige Opfer zu beklagen sind. Über die Kartelle und das hausgemachte Drogenproblem der Vereinigten Staaten.

Über den Drogenfahnder Art Keller, der einen Krieg kämpft, den er nicht gewinnen kann, ganz gleich, wie hoch sein Einsatz ist. Der mittlerweile an der Spitze der DEA steht und noch immer in Grauzonen operieren muss, auch wenn er Adan Barrera, Oberhaupt des Sinaloa-Kartells, eigenhändig ins Jenseits befördert und damit den fragilen Frieden quasi gekillt hat. Denn nun entbrennt der Kampf um die Nachfolge. Los Hijos, die verwöhnten Söhne der Drogenbarone, vor allem interessiert an Geld, schnellen Autos und Frauen, wollen die Gebiete neu aufteilen und kämpfen skrupellos um die Vorherrschaft. Und dann ist da noch der Strippenzieher und Manipulator im Hintergrund, ein alter Widersacher Kellers, der nicht nur nach Rache sondern auch nach Einfluss giert. Blutige Kämpfe entbrennen, die zahllose Opfer fordern. Aussichtslos für Keller, diese Hydra zu besiegen, zumal auch der Schwiegersohn des neugewählten Präsidenten (die Ähnlichkeiten mit Trump und Kushner sind nicht zufällig) mit den Kartellen kuschelt und keine Scheu davor hat, Immobilienprojekte mit Drogengeldern zu realisieren, gedeckt von hochrangigen Mitarbeitern im Weißen Haus, die Keller lieber heute als morgen in die Wüste schicken wollen.

Fiktion oder Realität? Die Grenzen scheinen fließend. Fest steht, dass Winslow über Jahrzehnte hin akribisch für diese Trilogie recherchiert hat. Herausgekommen ist ein komplexes Werk, das sich nicht nur auf die Auseinandersetzungen zwischen Kartellen und Drogenfahndern konzentriert, sondern auch die damit zusammenhängenden Aspekte beleuchtet. Das Leben in den lateinamerikanischen Slums, das Schicksal minderjähriger Migranten, die Gangs in den amerikanischen Metropolen, die Gefängnisindustrie der Vereinigten Staaten. Dealer, Drogenabhängige, Geldwäscher mit weißen Kragen, korrupte Politiker in den höchsten Ämtern.

Winslow will Anstöße geben, aufrütteln, sensibilisieren für das, was in seinem Land geschieht. Er plädiert für eine veränderte Drogenpolitik, die auf Legalisierung, Prävention und Heilung setzt und dadurch dem bereits über vierzig Jahre andauernden „War on Drugs“ endlich ein Ende bereitet.

Nachdrückliche Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 28.02.2019

Der Mensch ist des Menschen Wolf

1793
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Stockholm, 1793. König Gustav III. ist seit einem Jahr tot, der Schwedisch-Russische Krieg hat das Land an den Rand des Abgrunds geführt. Das Volk hungert, die Monarchie wackelt. In Frankreich tobt die ...

Stockholm, 1793. König Gustav III. ist seit einem Jahr tot, der Schwedisch-Russische Krieg hat das Land an den Rand des Abgrunds geführt. Das Volk hungert, die Monarchie wackelt. In Frankreich tobt die Revolution und macht kurzen Prozess mit den Adligen. Köpfe rollen. Doch soweit ist es in Schweden noch nicht. Die staatliche Ordnung muss aufrechterhalten werden, Kriegsheimkehrer werden als Stadtknechte eingesetzt und missbrauchen ihre Macht. Chaos und Gier regieren, Willkür greift um sich, Moral ist nur noch eine leere Worthülse. Nach oben buckeln, nach unten treten.

In einem stinkenden See vor den Toren der Stadt entdecken zwei Kinder einen Ertrunkenen und alarmieren den Häscher Jean Michael „Mickel“ Cardell, einen traumatisierten Veteranen, der seinen Arm im Krieg verloren hat. Er zieht die Leiche aus dem Wasser. Einen Torso, dem sämtliche Gliedmaßen fehlen und dessen Kopf grausam verstümmelt wurde. Keine Hinweise auf die Identität des Toten. Mit der Aufklärung wird Cecil Winge, ein brillanter Kopf mit humanistischen Idealen, Jurist, und bei der Stockholmer Polizeikammer für besondere Verbrechen zuständig, beauftragt. Es soll sein letzter Fall sein, denn er ist dem Tod geweiht. Tuberkulose im Endstadium. Zu schwach, um die Ermittlungen alleine zu führen, ohne Unterstützung seiner Behörde. Er bittet Cardell um Hilfe, denn auch dieser hat sich einen Funken Rechtschaffenheit und Moral bewahrt. Zwei, die sich erkennen. Die für die Aufklärung des Falls im tiefsten Morast und den Niederungen der menschlichen Existenz wühlen müssen.

Noch ein historischer Kriminalroman? Nein, „1793“ ist weitaus mehr. Es ist eine Sozialreportage über eine düstere Stadt, in der das Chaos regiert. Keine süßen Düfte, die aus heimeligen Stuben wehen, sondern der Gestank verfaulenden Fleischs, der sich über die Gesellschaft legt. Über eine Gesellschaft, in der der Mensch des Menschen Wolf ist, in der Opfer zugleich Täter sind. Unterteilt ist der Roman in vier Abschnitte mit unterschiedlichen Schwerpunkten, wobei die Krimihandlung den Rahmen bildet, aber speziell die Lebensgeschichte der jungen Anna Stina, anschaulich und detailliert beschrieben, erschütternde Einblicke in das Leben dieser dunklen Zeit gewährt.

Für „1793“ wurde der Autor Niklas Natt och Dag mit dem Schwedischen Krimipreis für das beste Spannungsdebüt ausgezeichnet. Auch sein Autorenkollege Arne Dahl hat sich dazu geäußert: „1793 ist ein Meisterwerk. Ein wilder und ungewöhnlicher Mix, der das ganze Krimigenre revolutioniert“. Dieser Aussage kann ich mich anschließen, zumindest was historische Kriminalromane angeht.