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Veröffentlicht am 14.06.2019

Tolstois Zeigefinger

Auferstehung
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Tolstois "Die Auferstehung" unterscheidet sich sehr von seinen anderen bekannten Romanen und das ist vom Autor auch durchaus so beabsichtigt. Er wollte mit diesem Buch nicht unterhalten, sondern seine ...

Tolstois "Die Auferstehung" unterscheidet sich sehr von seinen anderen bekannten Romanen und das ist vom Autor auch durchaus so beabsichtigt. Er wollte mit diesem Buch nicht unterhalten, sondern seine Gesellschaftskritik, seine Lehre verkünden. Das tut er auch und zwar leider mit schwer erträglicher Penetranz. Der erhobene Zeigefinger fuchtelt dem Leser die ganze Zeit vor den Augen herum und läßt diesen die Geschichte kaum noch erkennen.

Die Grundgeschichte – inspiriert von einem tatsächlichen Gerichtsfall – ist interessant und berührend. Der Adlige Nechljudow wird als Geschworener mit einer für ihn schon fast vergessenen Jugendsünde konfrontiert und erkennt, welche gravierenden Auswirkungen diese für die junge Katjuscha Maslowa hatte. Er hat sie Jahre zuvor verführt, dann sein komfortables Leben weitergeführt. Katjuscha wurde schwanger, von der Gesellschaft verstoßen, stürzt ab, wird zur Protituierten und steht nun wegen eines vermeintlichen Tötungsdeliktes vor Gericht. Die Geschichte dieser beiden, die unterschiedlichen Gefühle, Lebenswelten und Auswirkungen einer Nacht werden berührend geschildert, Katjuscha ist dem Leser sehr nahe, ist eine beeindruckende Persönlichkeit, deren Seelenleben einen kaum kalt lassen kann. Auch Nechljudows Wandlung vom unschuldigen, ehrlich verliebten Jüngling zu einem jungen Mann, der sich zu leicht von seinem gesellschaftlichen Umfeld korrumpieren läßt und gar nicht richtig versteht, was er Katjuscha antut, liest sich gut, wenn seine Motivationen auch ab und an etwas zu ausführlich erklärt werden.

Beeindruckend ist, wie farbig das Gerichtsverfahren beschrieben wird, mit welch guter und spitzer Beobachtungsgabe Tolstoi seine Charaktere darstellt. Der Einblick ins Justizsystem des zaristischen Russland ist aufschlußreich, umfaßt im weiteren Verlauf des Buches noch Beschreibungen vom Gefängnisalltag, Gefangenentransporten nach Sibirien, Einblicke in die Organisation des Strafvollzuges. Sehr schön aufgezeigt ist ebenfalls, wie sehr menschliche Schwächen juristische Entscheidungen beeinflussen können und wie viel man erreichen konnte, wenn man nur die richtigen Leute kannte. Soweit die Stärken des Buches.

Wie anfangs erwähnt, ging es Tolstoi nicht um das Unterhalten, sondern um seine Botschaft. Er nutzt hier Nechljudow, der durch das Schicksal Katjuschas nicht nur sein eigenes Fehlverhalten erkennt und gutmachen möchte, sondern eine radikale abrupte (und dadurch unglaubwürdige) 180-Grad-Wendung vom gedankenlosen Adligen zum Social Justice Warrior macht. Man bekommt den Eindruck, Nechljudow möchte im Alleingang das Justizsystem verändern, er erinnerte mich ein wenig an die ???-Bücher meiner Kindheit. ("Wir übernehmen jeden Fall!") Uns werden nun zahlreiche, kaum noch auseinanderhaltende Schicksale präsentiert, und Nechljudow will ihnen allen helfen, denn natürlich sind sie alle unschuldig. Der zweite Teil des Buches besteht aus sich sehr ähnlichen Beschreibungen von Nechljudow, der einflußreiche Menschen aufsucht und sie um Intervention zugunsten von Strafgefangenen ersucht. Das ist für den Leser, der mit Namen, äußerlichen Beschreibungen und Fallgeschichten geradezu überschwemmt wird, viel zu viel.

Hinzu kommt, daß Tolstoi, eigentlich ein begnadeter Erzähler, sich hier in plumper schwarz-weiß-Malerei ergeht und dies auch noch mit ungeschickten Erzählmitteln. Das vermittelte Weltbild ist von schmerzhafter Schlichtheit: alle Reichen sind böse, hartherzig, unehrlich und etwas beschränkt. Alle Inhaftierten sind unschuldig. Die Armen sind ehrlich, gutherzig und edel. Etwas Differenzierung hätte Tolstois Botschaft, die im Grunde ja gut und sinnvoll ist, stärker gemacht. So tut er das, was er den Reichen im Buch vorwirft: er ergeht sich in Pauschalurteilen. Das ist anstrengend, verkauft den Leser für dumm und schwächt die Botschaft.

Im dritten Teil widmet sich das Buch wieder etwas mehr der Kerngeschichte zwischen Nechljudow und Katjuscha, wird auch an vereinzelten Stellen ein (klein) wenig differenzierter. Das Ende dieser Geschichte ist gut konzipiert. Das Ende des Buches ist leider zum politisch-religiösen Flugblatt (inklusiver extensiver Bibelzitierung) geworden.

Hätte Tolstoi sich auf seine Kerngeschichte konzentriert, eventuell noch ein oder zwei weitere Nebenschicksale eingebaut, hätte er seine Aussage differenzierter und weniger platt vorgebracht, wäre dies ein bemerkenswertes Buch mit wichtigen Überlegungen zu Justiz, Menschlichkeit, Macht und Gerechtigkeit geworden. So ging es einem leider zum Großteil auf die Nerven.

Veröffentlicht am 08.06.2019

Erfüllte nicht ganz die Erwartungen

Die Krankheitensammlerin
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In „Die Krankheitensammlerin“ begleiten wir Fiona, die, wie der Titel schon verrät, gleich mit mehreren chronischen Krankheiten zu kämpfen hat. Die Diagnose einer Schilddrüsenunterfunktion ist für sie ...

In „Die Krankheitensammlerin“ begleiten wir Fiona, die, wie der Titel schon verrät, gleich mit mehreren chronischen Krankheiten zu kämpfen hat. Die Diagnose einer Schilddrüsenunterfunktion ist für sie der zündende Moment, ihr Leben zu ändern. Das fand ich von der Thematik her sehr interessant, denn ich kenne sonst keine Romane, in denen es um Schilddrüsenkrankheiten geht und ich war gespannt, wie Fiona ihr neues Leben, ihre Vorsätze, angehen würde. Der Klappentext verrät, daß sie dabei ziemlich unbarmherzig mit sich selbst ist. Leider ist der Klappentext irreführend, denn letztlich geht es sehr stark um Manie und Psychose. Ein großer Teil des Buches beschreibt Fionas Abgleiten in dieselben. Es wäre sinnvoll gewesen, diesen Fokus im Klappentext nicht gänzlich unerwähnt zu lassen, denn so gehen die Leser mit falschen Erwartungen an das Buch und Leser, die sich eher für die in „Die Krankheitensammlerin“ behandelten Themen interessieren, werden nicht durch den Klappentext angesprochen.

Ich wollte Fiona auf ihrer Reise begleiten, lesen, wie sie mit der Diagnose zurechtkommt, wie ihre radikalen Vorsätze sich gegen die Realität behaupten müssen und was sie dadurch ändert. Eine solche Reise gibt es aber leider nicht. Die detaillierten Beschreibungen ihrer manischen Phasen, ihrer durch die Psychose beeinflussten Gedanken fand ich anstrengend. Das spricht allerdings auch für die Autorin, denn solche Beschreibungen sollen auch anstrengend sein, sonst würden sie am Thema vorbeigehen. Überhaupt ist der Schreibstil eigentlich erfreulich. Es blitzt trockener Humor hindurch, es ist gerade am Anfang noch eine gewisse Leichtigkeit vertreten, es kann aber auch die Verzweiflung und eben auch die Manie gut vermittelt werden. Einige Stilmittel (wie zB recht sinnlose und halbherzig umgesetzte Namensdoppelungen) waren allerdings nicht mein Fall.

Fiona ist keine sympathische Protagonistin, das soll sie auch gar nicht sein. Am Beginn und am Ende des Buches und in manchen Momenten zwischendurch kann man mit ihr mitfühlen, aber den Großteil des Buches über ist sie unangenehm. Es gibt unsympathische Protagonisten, über die man gerne liest, bei Fiona gleitet es aber zu sehr ins Enervierende ab. Das ist sicher zum großen Teil ihren Krankheiten geschuldet, aber für meinen Geschmack war es doch etwas zu viel Selbstmitleid, zu viel mangelnde Empathie, zu viel Herabsehen auf andere. Sie theoretisiert ausführlich zu diversen Themen, was mir ebenfalls zu viel war. Man hätte ihre Charakteristika meiner Meinung nach auch etwas weniger ausführlich und wiederholend vermitteln können, so daß die Botschaft angekommen, aber Fiona dem Leser nicht so sehr auf die Nerven gegangen wäre.

Die Gewichtung entsprach auch in anderen Punkten nicht meinem Geschmack. Während die für Fiona wichtigen Menschen und ihre Beziehung zu ihnen seltsam blaß bleiben, wird eine Zufallsbegegnung mit einem Obdachlosen sehr breit berichtet, nimmt eine meines Erachtens viel zu übertriebene Entwicklung, die für das Buch zu überfrachtet ist.

Manche Fragen blieben offen, versickerten in der Geschichte. Ein schwerwiegendes Thema wurde ganz am Ende in ein paar Sätzen kurz angesprochen, war – wie das Ende der Obdachlosengeschichte - für diese Nebenbeibehandlung viel zu gewichtig und für die Geschichte nicht relevant.

Oft hatte ich das Gefühl, daß alle mögliche Gesellschaftskritik unbedingt in die weniger als 200 Seiten hineingepreßt werden sollte, was zu Lasten der Geschichte und der Charaktere ging. Der an vielen Stellen so schöne trockene Humor mußte dann der trockenen Belehrung Platz machen, der Leser wurde im Vorbeigehen mit Themen konfrontiert, die sich nicht in einigen Absätzen nebenbei behandeln lassen.

Bei den ungünstigen Gewichtungen und generell hätte ein gutes Lektorat viel bewirken können. Eine sorgfältige Nachlektorierung des Buches wäre meines Erachtens ohnehin angebracht. Es sind zahlreiche Fehler vorhanden, darunter gleich mehrere störende Logikfehler.

Insofern bin ich zwiegespalten. Der Schreibstil ist überwiegend gut, das Thema ungewöhnlich und an vielen Stellen gelungen vermittelt (auch wenn es leider nicht das Thema war, das der Klappentext verspricht). Gerade der Anfang des Buches ist gelungen, nimmt den Leser gleich mitten in die Geschichte. Der letzte Teil ist berührend und beinhaltete das, was ich eigentlich von der Geschichte erwartet hatte. Die oben genannten Punkte haben aber leider mein Lesevergnügen stark beeinträchtigt.

Veröffentlicht am 19.04.2019

Ein etwas trockener, summarischer Blick auf Weimar

Weimar
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Der Gedanke, die Geschichte jener knapp sechzig Jahre zu erzählen, in denen Weimar eine Hochburg der Kultur und der deutschen Geistesgrößen war, ist eine sehr gute. In diesem Buch wird in sechs Kapiteln ...

Der Gedanke, die Geschichte jener knapp sechzig Jahre zu erzählen, in denen Weimar eine Hochburg der Kultur und der deutschen Geistesgrößen war, ist eine sehr gute. In diesem Buch wird in sechs Kapiteln jener Zeit zwischen 1775 (Goethes Ankunft in Weimar) und 1832 (Goethes Todesjahr) gedacht, das erste dieser Kapitel gibt eine (sehr trockene) Übersicht über Weimar vor 1775.
Die Aufmachung des Buches ist durchschnittlich. Ziemlich kleine Schrift, durchschnittliches Papier, einige Abbildungen. Es sticht nicht sonderlich heraus.

Hauptsächlich geht es im Buch neben Goethe und Schiller um Wieland und Herder. Andere Weimarer Persönlichkeiten wie der Herzog, seine Frau, seine Mutter, seine Maitresse, Johanna Schopenhauer, Charlotte von Stein, später Eckermann kommen auch immer wieder vor. Ein Überblick über die wesentlichen Weimarer Einwohner jener Zeit ist also gegeben.

Der Inhalt ist eine Mischung aus erzählerischem Text und zahlreichen Zitaten von Zeitgenossen. Hier ist eine Vielfalt an Leuten vertreten, die Zitate sind zahlreich und überwiegend gut gewählt und angenehm in den Text eingebunden. Der erzählerische Text wird auf angenehme Weise durch die direkten Ansichten der Menschen jener Zeit ergänzt. Es finden sich hier die mittlerweile etwas überbenutzten Zitate, ohne die kein Buch ohne Goethe anscheinend auskommen kann (warum auch immer): Schillers "stolze Prüde", Johanna Schopenhauer Tasse Tee für Christiane Vulpius und Bettina Brentanos tollgewordene Blutwurst. Daneben gibt es aber auch viele Zitate, die mir neu waren und die ich oft sehr unterhaltsam fand.

Der Text des Buches hat mich dagegen weniger angesprochen. Größtenteils ist alles recht trocken erzählt, nur selten blitzt mal eine originellere Formulierung durch. Gestört hat mich, wie oft aufgezählt oder summiert wird. Von Wieland lesen wir im ganzen Buch fast nur Passagen in der Art von "Wieland arbeitete an x, dann noch an y und stellte z fertig". Auch gerne genommen "Goethe reiste am soundsovielten nach x, kam dort am soundsovielten an, reiste drei Tage später nach y". Das mag rein zur Informationsvermittlung geeignet sein, aber wer möchte denn ständig solche Auflistungen lesen und kann (möchte) sie sich merken? Auf der Werke der Autoren selbst wird so gut wie gar nicht eingegangen. Wir erfahren, wer was wann schrieb, das war's. Manche Ereignisse, Hintergründe werden kurz angesprochen, aber nicht hinreichend erklärt. Mit Hintergrundwissen geht dies, aber der Leser ohne Hintergrundwissen wird öfter verwirrt sein.

Die Personen selbst sind mir auch relativ fremd geblieben. Dieses Buch hätte mich nicht neugierig auf Schiller, Herder oder Wieland gemacht, und auf Goethe wohl eher auch nicht. Die Fakten lassen nur sehr selten die Menschen hinter den Namen lebendig werden. Man erfährt ab und an etwas Persönliches, Herders Griesgrämigkeit und soziale Unverträglichkeit kommen gut heraus; den Eindruck, den Goethe auf andere machte (oder eben nicht) ist unterhaltsam, ein paar launige Fakten, wie Goethes Gedicht über außereheliche Impotenz, sind nett zu lesen, aber diese Dinge machen nur einen kleinen Teil des Buches aus. Größtenteils besteht das Buch aus trockenen biographischen Fakten, mit ein paar persönlicheren Einsprengseln. Sehr enttäuschend das Kapitel, das sich schwerpunktmäßig der Freundschaft zwischen Goethe und Schiller widmet. So uninspiriert las ich von dieser Freundschaft bisher noch nicht. Schillers Todeskampf, sein Tod werden nebenbei, ohne weitere Informationen (die nun wirklich zahlreich vorhanden sind) erwähnt. Goethes letzte Tage sind dagegen en detail berichtet. Allgemein ist Schiller etwas summarisch abgehandelt.

Es erschien mir ohnehin, daß die Autoren sich vielleicht mit der Fülle der Themen ein wenig verzettelt haben. Das letzte Kapitel widmet sich fast ausschließlich Goethe, weil seine Weggefährten zu dem Zeitpunkt fast alle verstorben waren. Hier wird es persönlicher, man spürt den Menschen Goethe, bekommt ein besseres Verständnis. Das Summarische ist kaum noch vorhanden, vielleicht, weil sich die Autoren hier auf eine Person konzentrieren konnten.

So schließe ich das Buch nicht sonderlich begeistert. Informationen gab es, aber sie wurden für meinen Geschmack nicht unterhaltsam oder ansprechend präsentiert, trotz der guten Idee mit den Zitaten. Es fehlte das Gefühl für die Großen von Weimar, für die Menschen hinter den Werken, es wurde zuviel aufgezählt, zu wenig erzählt.

Veröffentlicht am 20.03.2019

Ungewöhnliche Geschichte, ausgesprochen anstrengender Schreibstil

Die Stadt der Blinden
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"Die Stadt der Blinden" ist ein weiteres Buch, das ich durch die wundervolle "Wir lesen Klassiker"-Gruppe hier entdeckt habe. Das Buch fand ich allerdings etwas weniger wundervoll.

Die Geschichte ist ...

"Die Stadt der Blinden" ist ein weiteres Buch, das ich durch die wundervolle "Wir lesen Klassiker"-Gruppe hier entdeckt habe. Das Buch fand ich allerdings etwas weniger wundervoll.

Die Geschichte ist ungewöhnlich und sehr wichtig, führt sie uns doch gleich auf mehrere Arten in die Abgründe der menschlichen Existenz. Das Geschehen beginnt sofort und das gute Erzähltempo hält sich über mehrere Kapitel. Ein Mann erblindet am Steuer seines Autos, es gibt keine Erklärung. Schon bald erblinden alle jene, die Kontakt mit ihm hatten und die plötzliche Erblindung wird zur Epidemie. Es ist spannend, die Ausdehnung der Blindheit zu "erlesen", die verschiedenen Schicksale zu verfolgen. Niemand in diesem Buch wird beim Namen genannt, alle werden nur beschrieben: "der erste Blinde", "die Frau des Arztes", "die Frau mit der dunklen Blinde" oder "der Mann mit der Augenklappe". Diese Entpersönlichung setzt sich auch darin fort, daß überhaupt nichts beim Namen genannt wird - kein Orts- oder Straßenname, nichts. Nicht einmal die Kapitel sind nummeriert.

Der Schreibstil tut sein Übriges zur Verwirrung. Wörtliche Rede ist nicht durch Anführungszeichen oä gekennzeichnet, Dialoge finden in endlosen, nur durch Kommata strukturierten Sätzen statt. So kann man schwer erkennen, wer der Gesprächsführenden was sagt, wo eine Aussage anfängt oder aufhört. Die Endlossätze charakterisieren auch den Erzähltext und so blickt man auf Seiten voller kaum strukturierter Sätze, fast ohne Absätze. Das alles sind originelle und sicher auch effektive Stilmittel, die Orientierungslosigkeit der Blinden soweit wie möglich auf den Leser zu übertragen. Allerdings machte mir zumindest das Lesen so sehr wenig Spaß. Es war anstrengend, mühsam, verwirrend und dadurch oft schlichtweg nervig.

Am Ball gehalten hat mich die Geschichte, die in erschreckend deutliche Tiefe geht, vor keiner Scheußlichkeit zurückschreckt (weniger wäre hier manchmal ausreichend gewesen) und dann, wenn der Leser davon richtiggehend erschöpft ist, plötzlich Ton und Atmosphäre wechselt. So werden die Blinden aus Quarantänegründen interniert und das ausgesprochen gedanken- und versorgungslos. Hier wird deutlich aufgezeigt, wie schnell Menschengruppen ausgegrenzt werden können und wie schnell ihnen dann - obwohl sie niemandem etwas getan haben - Feindseligkeit entgegenschlägt. Geschichte und Zeitgeschehen zeigen, daß die hier beschriebene Entwicklung nur zu realistisch ist. Ebenso realistisch ist die gnadenlos geschilderte Entwürdigung, Entmenschlichung und Gewaltentwicklung. Menschlichkeit ist in diesem Buchabschnitt die Ausnahme. Zum Ende hin wird es wieder sanfter, kontemplativer, freundlicher.

Die völlige Hilflosigkeit, die durch den unvorbereiteten Verlust eines solch wichtigen (vielleicht des wichtigsten?) Sinnes eintritt, ist der andere Abgrund, der uns plastisch geschildert wird. In einer Welt voller Blinder, ohne Hilfe, ohne Unterstützung, ist man schnell verloren, werden die einfachsten Handgriffe unmöglich, muß man die Würde oft aufgeben.

So erkennt man beim Lesen ernüchtert (und erneut), wie unglaublich dünn die Schutzschicht der Zivilisation ist, wie schnell Menschen zu Unmenschen (und ich sage hier absichtlich nicht "wie Tiere", denn Tiere würden sich niemals so abscheulich verhalten) werden. Man sieht, wie schnell man durch die eigene Regierung ausgegrenzt und vernichtet werden kann und wie andere wegschauen, solange sie nicht betroffen sind. Dabei kann es, auch das eine wichtige Botschaft, absolut jeden treffen.
Man lernt die eigenen funktionierenden Sinne, die problemlose Versorgung mit Nahrung, Strom und Wasser, den Schutz einer funktionierenden Rechtsordnung ganz neu zu schätzen.

Leider aber hat der Stil das Lesevergnügen doch sehr beeinträchtigt, einige Logikfehler haben mich gestört und mir blieben für mich relevante Punkte offen. Zwischendurch gab es mehrere Längen und zähe Beschreibungen oder Philosophierungen. Die Stilmittel in allen Ehren, aber ein wenig mehr Zugänglichkeit hätte dem Buch meines Erachtens nicht geschadet.

Veröffentlicht am 10.03.2019

Interessante Geschichte, zäh erzählt

Der verbotene Fluss
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In diesem Buch begleiten wir die junge Deutsche Charlotte ins spätviktorianische England des Jahres 1890, wo sie auf dem Landsitz Chalk Hill eine Stelle als Gouvernante angenommen hat. Das Erzähltempo ...

In diesem Buch begleiten wir die junge Deutsche Charlotte ins spätviktorianische England des Jahres 1890, wo sie auf dem Landsitz Chalk Hill eine Stelle als Gouvernante angenommen hat. Das Erzähltempo zu Beginn ist erfreulich, die Erzählung von Charlottes Anreise und ihren ersten Eindrücken von England liest sich flüssig. Charlotte selbst wird uns hervorragend nahegebracht. Ohne langwierige Erklärungen wird ihr Charakter greifbar und bekommt rasch Kontur. Auch die anderen Charaktere des Buches, selbst diejenigen, die nur kurz vorkommen, sind sehr gut konzipiert und lebendig. Man kann sie sich ebenso gut vorstellen wie die diversen Schauplätze. Ob es nun der gemütliche Pub ist, in dem Charlotte ihr erste Abendessen einnimmt, das elegante unterkühlte Eßzimmer auf Chalk Hill, Charlottes gemütliches Schlafzimmer oder die entzückende Teestube, bei der ich immer Lust auf Scones bekam – ich sah es beim Lesen richtig vor mir.

Die Mutter von Charlottes Schützling Emily starb einige Monate zuvor und der Witwer, Sir Andrew, hat seiner Tochter, allen Dienstboten und überhaupt allen Menschen in seinem Umfeld verboten, sie auch nur zu erwähnen. Das fand ich deshalb irritierend, weil es so sinnlos ist. Natürlich wird es nicht möglich sein, eine gerade verstorbene Frau nie zu erwähnen, gerade ihrer 8jährigen Tochter nicht. Natürlich werden die Leute sich verplappern, was sie ja dann im Buch auch unablässig tun. Und natürlich wird durch so eine Anordnung die Neugier und der Klatsch erst recht angefacht. Sir Andrew als intelligenter und rationaler Mann sollte das wissen. Und anstatt seine neue Gouvernante wenigstens knapp zu informieren, erwähnt er ihr gegenüber kein Wort davon und so erfährt sie vom ersten Moment aus versehentlich gemachten Bemerkungen lauter kleine Details, die ihre Neugier mehr anfachen, als es zwei erklärende Sätze von Sir Andrew getan hätten.

Nun müssen aufgrund dieses Konstrukts lauter Situationen geschaffen werden, in denen Charlotte zufällig etwas über den geheimnisvollen Tod erfährt und dies geht leider sehr zu Lasten der Erzähltempos. Es werden zahlreiche belanglose Alltagssituationen geschildert und ich fand irgendwann die ganzen Spaziergänge, Teekuchenverzehrungen, Plaudereien uä sehr langweilig, außerdem ähnelten sich die Szenen im Konstrukt zu sehr und es gab mir etwas zu viele Zufälle. Während Charlotte also in quälender Langsamkeit ein Puzzlestück nach dem anderen erhält, widmen sich immer wieder einzelne Kapitel dem Journalisten Thomas Ashdown in London. Hier ist die Charakterzeichnung nicht so gut, die Leute blieben mir fremd und der Anteil der irrelevanten Szenen und unnötigen Details war noch größer. Was Tom mit der eigentlichen Geschichte zu tun hat, erfahren wir auch erst auf Seite 260 und so waren seine Kapitel für mich unwillkommene Unterbrechungen. Letztlich war er für das weitere Geschehen mE auch nicht in dem Maße relevant, daß es seine ausführliche Vorgeschichte gebraucht hätte. Hier wurde zudem leider auf Kosten der Handlung versucht, zu viel Zeitgenössisches unterzubringen. Außerdem neigen er und Charlotte beide zum ausführlichen Grübeln, wodurch wir bereits Gelesenes dann noch einmal erfahren.

Zum Ende hin wird das Tempo wieder besser und die Geschichte selbst ist durchaus originell und vielschichtig. Mit einer strafferen Erzählweise hätte dies ein sehr gutes Buch sein können, auch weil Charlotte ein interessanter Charakter ist, an dem ich als Leser Anteil nehmen konnte und bei dem Stereotype vermieden wurden. So aber ist es mir alles zu überfrachtet und im Mittelteil mußte ich mich manchmal zum Weiterlesen zwingen und habe auch einiges überflogen. Geärgert hat mich ein etwas plumper Fehler, als auf die Frage „Sie sprechen von einer Geisteskrankheit?" geantwortet wird „Sie sieht Geister, in der Tat.“ Der Roman spielt in England und in der englischen Sprache gibt es keinen Begriff für „Geisteskrankheit", der eines der englischen Worte für „Geister" beinhaltet. Dieses Wortspiel wäre also im Englischen unmöglich.

Die Autorin hat ein kleines Nachwort angehängt, in dem nützliche Hintergrundinformationen enthalten sind. Sie erwähnt dort auch, daß sie von „Jane Eyre" inspiriert war und etwas Ähnliches schaffen wollte. Den Leser zu einem derartigen Vergleich mit einem der besten viktorianischen Romane einzuladen ist…mutig.