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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 14.05.2019

Absolut hörenswert!

QualityLand (QualityLand 1)
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Das Wichtigste zuerst: Möglichst als Hörbuch genießen. Marc-Uwe Kling liest einfach zu gut. Auch wenn ich die gedruckte Version nicht kenne und mir eigentlich keinen Vergleich erlauben kann - die Lesung ...

Das Wichtigste zuerst: Möglichst als Hörbuch genießen. Marc-Uwe Kling liest einfach zu gut. Auch wenn ich die gedruckte Version nicht kenne und mir eigentlich keinen Vergleich erlauben kann - die Lesung ist genial, so voll mit perfekt abgestimmten Stimm- und Sprachwitz, dass ich es vermutlich schriftlich nicht ganz so genießen könnte.

QualityLand ist eine wunderbar spritzige, satirische Dystopie, die genau an den richtigen Stellen "piekst". Das Buch ist grundlegend politisch, ist aber kein rein politisches Buch (soll heißen: Auch wer sich nicht für Politik interessiert, wird seinen Spaß haben, es gibt noch genug andere Themen). Die Zukunft, die Kling hier schildert, ist unglaublich unfassbar und gleichzeitig unfassbar vorstellbar.

Totale Überwachung überall, getarnt als digitale Helferlein und "Lebenserleichterer". Sei es der virtuelle Shop, dessen Produkte nicht mal mehr bestellt werden müssen, da das System die Vorlieben seiner Kundschaft kennt (wirklich?); der soziale Status, der den Lebensstandard und -partner vorgibt oder der digitale Helfer, der immer ansprechbar ist (Alexa, Siri und Co. lassen grüßen). Auswahlmöglichkeiten werden nur vorgegaukelt, Androiden handeln oft am Menschlichsten. Alles klingt etwas verrückt, aber es gab genug Momente in diesem Buch, bei denen ich zustimmend nickte: "Yep, wir sind auf dem gerade Weg genau dorthin."

Ein kafka-esquer Hauptdarsteller in einem orwell-esquem Plot mit ganz viel kling-esquem, systemkritischem Humor. Total schräger Satz, daher hier noch einmal in Kurzform: Absolut hörenswert!

Veröffentlicht am 14.05.2019

Ein Buch, das nachhallt.

Loyalitäten
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Ein eher kurzes Buch, aber die Tiefe und Intensität ist beeindruckend. Die Art, wie Delphine de Vigan schreibt, gefällt mir sehr. Sie braucht nur rund 180 Seiten um unverwechselbare, interessante Charaktere ...

Ein eher kurzes Buch, aber die Tiefe und Intensität ist beeindruckend. Die Art, wie Delphine de Vigan schreibt, gefällt mir sehr. Sie braucht nur rund 180 Seiten um unverwechselbare, interessante Charaktere zu kreieren, ebenso wie ein fesselndes Setting und einen Plot, der mich sehr eingenommen hat und viele ethische und moralische Fragen aufwirft. Ganz toll auch die Übersetzungarbeit von Doris Heinemann, die uns den Text auf Deutsch zugänglich macht, ohne, dass er seinen "französischen Stil" verliert.

Im Buch geht es um Théo, einen Jungen, der von der gescheiterten Ehe seiner Eltern zerrissen wird. In vielerlei Hinsicht ist er der am erwachsenste Charakter der zerstörten Familie, er ist derjenige, der sich um die Bedürfnisse von Vater und Mutter kümmert, die beide in erster Linie mit sich selbst beschäftigt sind. Die Mutter ist verbittert und manipulativ, der Vater in einer ernsten Depression gefangen. Aber Théo ist noch nicht einmal 13 und kann dieser Verantwortung nicht gerecht werden - er ertränkt seinen Kummer darüber in Alkohol, die betäubende Wirkung ist seine Zuflucht. Mathis ist sein bester Freund und Saufkumpan, der Thés Niedergang mit Sorgen beobachtet, ebenso wie Hélène, die Lehrerin der Jungs, die bemerkt, dass da etwas nicht stimmt. Der letzte erzählende Charakter ist Cécile, die Mutter von Mathis', die auch gewissen Dinge bemerkt, die aber genug eigene Probleme hat, denn ihr Mann scheint nicht der zu sein, für den sie ihn immer gehalten hat.

Der Titel passt perfekt zum Buch: Zu wem sind wir loyal und warum? Verschiedene Arte von Loyalität stehen hier im Fokus: Zwischen Familien, Kindern und Eltern, Freunde und Partnern, Kollegen. Théo ist zu beiden Eltern loyal, innerlich wie äußerlich: Er beschützt sie voreinander und vor der Außenwelt. Mathis ist loyal gegenüber seinem Freund, auch wenn er sich große Sorgen macht. Hélène muss aus beruflichen Gründen ihrem Arbeitgeber gegenüber loyal sein, auch wenn es ihr schwer fällt, die Grenzen einzuhalten. Cécile ist - oder versucht - loyal zu dem Bild vom gemeinsamen Glück zu sein, das sie für sich und ihre Familie erschaffen hat. Irgendwie sind alle gleichzeitig loyal und besorgt, und die Frage ist: Ist Loyalität wirklich immer die beste Lösung? Wann sollte sie aufhören, um jemanden zu beschützen oder zu retten? Ist man noch loyal, wenn man aus diesem Grund, also aus gutem Grund, illoyal sein muss?

Die Thematik ist topaktuell und sehr gut umgesetzt. Mit haben sowohl Schreibstil als auch die Intensität der Geschichte sehr gut gefallen. Ein Buch, das nachhallt.

Veröffentlicht am 14.05.2019

Melancholische, realistische Familiengeschichte

Das wilde Leben der Cheri Matzner
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Das war ein sehr bewegendes Lesevergnügen und ein beeindruckendes Debüt. Erzählt wird die Geschichte der Familie Metzner in zwei Generationen. Zunächst stehen Cici und Sol im Vordergrund, die Frischverliebten, ...

Das war ein sehr bewegendes Lesevergnügen und ein beeindruckendes Debüt. Erzählt wird die Geschichte der Familie Metzner in zwei Generationen. Zunächst stehen Cici und Sol im Vordergrund, die Frischverliebten, die für ihre gemeinsame Zukunft von ihrer eigenen Familien verstoßen werden und so ganz auf sich allein gestellt durchstarten. Ein Baby soll das Glück perfekt machen, doch dieses bleibt versagt - so kommt es zur Adoption von Cheri. Zeitsprung zu eben jener Cheri, die anläßlich ihres 40. Geburtstags über ihr bisheriges Leben, die aus verschiedenen Gründen komplizierte Beziehung zu ihren Eltern und die nicht weniger einfache Beziehung zu ihren Ehemann reflektiert.

Das ist schon fast der ganze Plot. Das soll nicht heißen, dass im Buch nichts passiert, im Gegenteil, es kommt zu vielen merkwürdigen, komischen und traurigen Situationen, vieles wird nacherzählt, die Kapitel springen in den Zeiten. Doch bei allem stehen die Charaktere im Vordergrund, sie sind es, nicht der Plot, die die Geschichte voran bringen. Das Buch stellt das Leben aller Charaktere und ihre Beziehungen untereinander sehr realistisch dar, mit allen Höhen und, vor allem, allen Tiefen. Es geht dabei vorrangig um Eltern-Kind- sowie Paarbeziehungen.

Das Verhältnis zu Cheri und ihren Eltern ist aus verschiedenen Gründen angespannt, neben zu lange verschwiegenen oder verdrängten Familiengeheimnissen und (un)bewusster Ablehnung bzw. empfundener Ausgrenzung gehören dazu Fragen wie: Wie viel Liebe muss ich geben, wie viel ist zuviel? Welche Erwartungen habe ich an mein Kind - vielleicht aus egoistischen Gründen, die im "Ich will doch nur dein Bestes"-Kontext verschleiert sind? Und: Welche Rolle spielt Blutsverwandschaft vs. Adoption?

Ähnlich facettenreich werden die Paarbeziehungen zwischen Cici und Sol (Cheris Eltern) als auch Cheri und ihrem Mann dargestellt. Was kommt nach der ersten großen Verliebtheit, also da, wo die meisten Romane enden? Was ist, wenn der Alltag Einzug hält? Die Gewohnheit? Die Liebe sich auf andere Dinge "verschiebt"? Wie viel kann/muss/darf eine Ehe aushalten?

Wer an derartigen Überlegungen Gefallen hat, ist mit diesem Buch sehr gut bedient. Cheri ist keine strahlende Titelheldin, sondern eine mit echten Ecken und Kanten, und ich fand es sehr spannend nach und nach zu verstehen, wie sie (und ihre Eltern) zu der wurde, die sie ist. Mit jeder Seite konnte ich mich besser in die Geschichte einfühlen und, fast ohne dass ich es bemerkt habe, war ich so gepackt, dass ich beim Kapitel "Michael" weinen musste - das war sehr bewegend und so... echt.

Sehr gut haben mir auch die Verknüpfungen mit zeitgeschichtlichen Ereignissen gefallen, die die inneren Strapazen der Familie quasi weltpolitisch widerspiegeln (Kubakrise in den früheren Kapiteln, drohender Irakkrieg in den späteren).

Und dann kam der Epilog - ein kleiner Meisterstreich der Autorin, der die zuvor gelesenen knapp 500 Seiten noch einmal in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen und noch eine extra Schippe Verständnis und Mitgefühl für die Charaktere draufpackt.

Ein empfehlenswertes Debüt!

Veröffentlicht am 14.05.2019

Ein weiteres Puzzlestück zum Verständnis

Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache
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In diesem kurzen, sehr frühen Essay (erstmals 1984 veröffentlicht) beschreibt David Foster Wallace seine eigene Version der Depression und wie sich sein leben verändert hat, seit er Antidepressiva nimmt. ...

In diesem kurzen, sehr frühen Essay (erstmals 1984 veröffentlicht) beschreibt David Foster Wallace seine eigene Version der Depression und wie sich sein leben verändert hat, seit er Antidepressiva nimmt. Seine Erzählung ist ehrlich, direkt und offen, er hält nichts zurück und beschreibt detailliert seine Sinnestäuschungen, seinen ersten Selbstmordversuch und wie er seine Krankheit und alles, was damit zusammenhängt, wahrnimmt. Mir hat der Text sehr "gefallen" - wenn man in diesem Kontext von "gefallen" sprechen kann - denn der Autor hat sich der Sache direkt und offen angenommen. Die Geschichte war gleichermaßen interessant, lehrreich und hilfreich.
I "enjoyed" the text - as far as you can "enjoy" such a topic - and valued the author's style and direct approach.

Als Angehörige eines Betroffenen stellen Berichte wie dieser wichtige Teile eines großen Puzzles dar, das ich niemals komplett lösen kann und werden - aber manchmal ist es schon ein kleiner Erfolg, ein Ecktstück zu finden, das mir etwas mehr Einblick ins Gesamtbild bietet. Solange ich nicht selbst betroffen bin, werde ich die Erkrankung Depression nie ganz verstehen können - nicht nur, weil sie so schwer zu begreifen ist, sondern auch in so vielen Varianten auftritt. DFWs Erklärung bietet hierfür einen neuen Ansatz des Verstehens, den ich gerne aufgenommen habe.

Großes Lob auch an die Audioproduktion: Der fantastische Lars Eidinger liest das natürlich sensationell gut!

Veröffentlicht am 14.05.2019

Perfekte Symbiose aus Text und Lesung

Kaffee und Zigaretten
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Bislang habe ich mit Ferdinand von Schirach nur gute Erfahrungen gemacht - mir gefällt seine unaufregte, fast lakonisch-kühle Art des Erzählens sehr. Der Trend setzt sich auch bei "Kaffee und Zigaretten" ...

Bislang habe ich mit Ferdinand von Schirach nur gute Erfahrungen gemacht - mir gefällt seine unaufregte, fast lakonisch-kühle Art des Erzählens sehr. Der Trend setzt sich auch bei "Kaffee und Zigaretten" fort, seinem bisher wohl persönlichsten Werk. Die über 40 teils sehr kurzen, teils etwas längeren Kapitel bestehen aus Anekdoten, Alltagsbeobachtungem und -überlegungen, Gedankenspielen, Vergleichen und persönliche Erinnerungen. Es gibt Hintergründiges zur Familie derer von Schirach (mit denen man schon selbst sicher ein gutes Buch füllen könnte), Erzählungen aus vergangenen Gerichtsfällen und anderen Ereignissen undundund. Es ist eine Art philosophierende Biographie - oder ein Zustandsbericht mit biografischen Hintergrund. Es lässt sich schwer in eine Form pressen, aber vielleicht ist das auch gar nicht nötig: es ist einfach sehr gut, unterhaltsam und gedankenanregend so, wie es ist.

Es hat keine sechs Prozent des Hörbuchs gebraucht, da war ich schon so geflasht, dass ich gar nicht wusste, wohin mit mir. Nach einem kurzen biografischen Ausflug in die Kindheit gab es ein unaufgeregtes Cameo von Mick Jagger im Kino (bei Indiana Jones, no less) einen Vergleich der Filmadaptionen von "Swimming Pool" (Schneider/Delon) und "A Bigger Splash" (Swinton/Fiennes) und ein zeitgeschichtliches Gedankenstück über die raf-Anwälte Schily, Ströbele und Mahler. Allein diese drei popkulturellen bzw. jüngergeschichtlichen Themen haben mich total fasziniert, und auch wenn dieses fulminante Auftaktfeuerwerk im Folgenden etwas abnahm (kann der Autor ja nicht ahnen, dass er damit drei Treffer bei mir in Folge erzielt) blieben auch die weiteren Kapitel durchgängig interessant, teils faszinierend und immer hörenswert.

(Da ich kurz zuvor Aus dem Dachsbau gehört habe, drängte sich der Vergleich für mich geradezu auf, und alles das, was ich bei von Lotzow kritisiert, habe, setzt von Schirach weit, weit gekonnter um. Zwei Werke mit einer ähnlichen Intention, doch nur eines trifft das Ziel.)

Was auch für den Vortrag des Hörbuchs gilt: Lars Eidinger liest den Schirach so wunderbar, so passend melancholisch-bittersweet, ich feiere seine Genialität und diese perfekte Symbiose aus Text und Lesung.