Profilbild von cosmea

cosmea

Lesejury Star
offline

cosmea ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit cosmea über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 23.06.2019

Vier Kommissare ermitteln

All die unbewohnten Zimmer
0

In Friedrich Anis neuem Roman “‘All die unbewohnten Zimmer“ geht es eigentlich um zwei Fälle. Eine Frau wird getötet und ein Polizist wird schwer verletzt. Dann wird am Rande einer rechten Demo ein junger ...

In Friedrich Anis neuem Roman “‘All die unbewohnten Zimmer“ geht es eigentlich um zwei Fälle. Eine Frau wird getötet und ein Polizist wird schwer verletzt. Dann wird am Rande einer rechten Demo ein junger Polizist mit einem Stein erschlagen, während sein Kollege im Auto zurückbleibt. Drei aus anderen Romanen bekannte Ermittler tauchen hier wieder auf: der ehemalige Mönch Polonius Fischer löst einen glücklosen Kollegen als Leiter der Kommission ab, die im Fall des erschlagenen Polizisten ermittelt. Der Pensionär Jakob Franck unterstützt noch immer die ehemaligen Kollegen, indem er den Angehörigen die Todesnachricht überbringt. In diesem Fall hat er eine denkwürdige Begegnung mit dem Vater des erschlagenen Polizisten und stellt eigene Nachforschungen an. Tabor Süden, Spezialist für „Vermissungen“, sucht im Auftrag der Lebensgefährtin eines Verschwundenen und kommt auf diese Weise mit dem Polizistenmord in Berührung. Fariza Nasri, eine Halbsyrerin, die auf Betreiben ihres damaligen Chefs zu Unrecht für acht Jahre in die Provinz verbannt worden war, arbeitet erstmalig im Dezernat K111 mit Polonius Fischer zusammen.
Erzählt wird eine komplizierte Geschichte aus wechselnden Perspektiven mit falschen Fährten, einem erfundenen Geständnis und Zeugen, die aus Angst lange schweigen. In Anis neuem Roman geht es jedoch nicht nur um die Aufklärung von Verbrechen, sondern auch um die aktuelle Situation in Deutschland. Da kommen Ausländerfeindlichkeit und rechtsextreme Hetze gegen Flüchtlinge, die als Sozialschmarotzer verunglimpft werden, genauso zur Sprache wie die Rolle der Medien und der sozialen Netzwerke, und dieser Aspekt des Romans ist keineswegs eine überflüssige Zutat, sondern führt zum Kern des Geschehens.
Ich habe das Buch gern und mit großem Interesse gelesen, obwohl es sprachlich sehr speziell ist, auch wegen der zahlreichen Dialektausdrücke. Für mich ist es allerdings nicht Anis bester Roman.

Veröffentlicht am 22.06.2019

Ist das Ende der Welt nah?

Der Wal und das Ende der Welt
0

Ein nackter junger Mann wird eines Tages am Strand des kleinen Fischerdorfs St. Piran in Cornwall angespült. Die Dorfbewohner retten ihn, und er mobilisiert seinerseits eine Hundertschaft, um ...

Ein nackter junger Mann wird eines Tages am Strand des kleinen Fischerdorfs St. Piran in Cornwall angespült. Die Dorfbewohner retten ihn, und er mobilisiert seinerseits eine Hundertschaft, um den gestrandeten Wal zu retten, der ihn ans Ufer getragen hat. Bei dem jungen Mann handelt es sich um Joe Haak, einen jungen Mathematiker, der fluchtartig seinen Arbeitsplatz bei der Londoner Bank Lane Kaufmann verlassen hat, nachdem die von ihm entwickelte Software Cassie mittels ihrer Voraussagen einen Riesenschaden verursacht hat und wenig später das Ende der Welt, wie wir sie kennen, vorhersagt. Joe Haak glaubt, dass er seinen Arbeitsplatz verloren hat und in Kürze strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen wird.
John Ironmonger erzählt in diesem Roman nicht nur das persönliche Schicksal eines jungen Mannes, der als Fremder in diesen Ort kommt und doch freundlich aufgenommen wird. Joe nutzt seinerseits sein Wissen über globale Zusammenhänge und verhängnisvolle Kettenreaktionen, wenn Versorgungswege zusammenbrechen und aufgrund von weltweiten Epidemien, Kriegen oder Naturkatastrophen die Versorgungswege unterbrochen werden. Cassie sagt den globalen Kollaps voraus, und tatsächlich bricht eine gefährliche Grippeepidemie aus, die an die Grippe von 1918 erinnert, die weltweit 500.000 oder sogar eine Million Opfer forderte. Das Programm Cassie kann zwar die Entwicklung der Aktienkurse in der nahen Zukunft vorausberechnen und von daher den Tradern der Bank bei ihren Kaufentscheidungen helfen, ist aber nicht in der Lage den menschlichen Faktor zu kalkulieren. Wie wird sich die Menschheit angesichts des drohenden Weltuntergangs verhalten? Werden die Menschen zum Äußersten entschlossen aufeinander losgehen, um das eigene Überleben zu sichern, oder werden sie zu mitmenschlichem Verhalten und Solidarität in der Lage sein? Große Philosophen wie Hobbes, auf den immer wieder Bezug genommen wird, haben diese Frage sehr pessimistisch beantwortet. John Ironmonger hat dagegen eine herzerwärmende Geschichte voller Hoffnung geschrieben – wie ein modernes Märchen und im letzten Teil in gewissem Umfang absehbar. Erzählt wird aus der Perspektive von Joe Haak, aber es wird auch weit in die Zukunft vorgegriffen, wenn sich die Generation der Enkel die Geschichte von Joe Haak und dem gestrandeten Wal erzählt. Ein schöner Roman, den ich gern gelesen habe.

Veröffentlicht am 22.06.2019

Entwurzelte Menschen und Bäume

Betrunkene Bäume
0

Ada Dorians Debütroman erzählt die Geschichte von Erich, der mit über 80 wegen seiner zunehmenden Gebrechlichkeit kaum noch in der Lage ist, allein zu leben. Seine Tochter Irina hat nicht genug ...

Ada Dorians Debütroman erzählt die Geschichte von Erich, der mit über 80 wegen seiner zunehmenden Gebrechlichkeit kaum noch in der Lage ist, allein zu leben. Seine Tochter Irina hat nicht genug Zeit, sich ständig um ihn zu kümmern. Sie stellt eine Haushälterin für ihn ein und drängt ihn immer wieder, ins Heim zu ziehen. Erich hat mit Dascha die Liebe seines Lebens, verloren, weil er das ihr gegebene Versprechen gebrochen hat. Beide wollten nach dem Ende von Erichs Berufstätigkeit in Daschas sibirische Heimat zurückkehren. Eines Tages lernt Erich die knapp 18jährige Katharina kennen, die ein etwas dubioser Bekannter in einer leeren Wohnung im selben Haus untergebracht hat. Sie ist von zu Hause ausgerissen, nachdem der Vater die Familie verlassen hat. Katharina gibt ihrer Mutter die Schuld. Ihr Leben läuft völlig aus dem Ruder. Sie schmeißt die Schule und verliert ihren besten Freund seit Kindertagen an eine Rivalin. Katharina und Erich haben eine Gemeinsamkeit, nämlich den Bezug zu Sibirien. Katharinas Vater arbeitet neuerdings dort, und Erich hat als junger Mann in der sibirischen Taiga biologische Forschungen betrieben. Sein Führer Wolodja, nach harten Jahren im Arbeitslager ein verarmter Obdachloser, teilt sein enormes Wissen mit ihm. Hier hat Erichs Liebe zu Bäumen ihren Ursprung und die betrunkenen Bäume aus dem Titel finden eine Erklärung: Wenn in Permafrost-Regionen der Boden taut, verlieren die Wurzeln ihren Halt und die Bäume neigen sich in alle Richtungen. Erichs lebenslange Liebe zu Bäumen zeigt sich auch in der Tatsache, dass er in seinem Schlafzimmer einen ganzen Wald züchtet, was niemand wissen und sehen darf, auch seine Tochter nicht.
Die berührende Geschichte enthält zahlreiche Rückblenden in die Vergangenheit und beleuchtet Erichs und Daschas Beziehung. Sie behandelt Themen wie Familie, Liebe und Freundschaft, Verrat und nicht wieder gutzumachende Schuld, vor allem aber Verwurzelung in der Heimat. Wo ist für uns Heimat, und wie wichtig ist sie für uns? Dorians Debüt ist ein schöner Roman ohne Happy End, aber nicht ohne Hoffnung. Sehr empfehlenswert.

Veröffentlicht am 30.05.2019

In den Fängen der Geheimdienste

Die stille Tochter
0

Gard Sveens “Die stille Tochter“ ist der vierte Band einer Reihe. Es handelt sich um eine Geschichte, die auf zwei Zeitebenen erzählt wird: 70er – 80er Jahre und 2016. 1973 setzt sich die 17jährige DDR-Schwimmerin ...

Gard Sveens “Die stille Tochter“ ist der vierte Band einer Reihe. Es handelt sich um eine Geschichte, die auf zwei Zeitebenen erzählt wird: 70er – 80er Jahre und 2016. 1973 setzt sich die 17jährige DDR-Schwimmerin Christel Heinze bei einem Schwimmwettkampf in Oslo von ihrer Mannschaft ab und lebt später dauerhaft in Norwegen. 1982 verschwindet sie spurlos. Sie war inzwischen vom KGB zur Spionage gezwungen worden – mit der vagen Aussicht, Kontakt zu ihrer Familie halten und ihre schwer krebskranke Schwester Magda besuchen zu können. Ihr bester Freund in diesen Jahren ist Arvid Storholt, ein Doppelagent, der sich zunächst aus Überzeugung dem KGB anbietet, als er sich offenbart, jedoch gedrängt wird, für den norwegischen Geheimdienst zu arbeiten. Nach seiner Enttarnung wird er nach acht Jahren Gefängnis begnadigt und 2016 in seinem Haus ermordet. Etwa zur gleichen Zeit wird auch die Leiche einer Unbekannten in einem See gefunden. Ist es die seit 34 Jahren vermisste Christel Heinze? Der Polizist Tommy Bergmann wird vom Geheimdienst mit den Ermittlungen beauftragt, spürt aber sofort, dass seine Vorgesetzten Wissen zurückhalten und ihn eigentlich nur benutzen, um endlich herauszufinden, wer der Bär ist, ein legendärer Spion, dessen Identität nie bekannt geworden ist. Auf diese Person spielt im übrigen auch der norwegische Originaltitel an, und so nennt sich Christels ansonsten namenloser Liebhaber. Der deutsche Titel "Die stille Tochter" erschließt sich mir dagegen nicht.
Tommy wird bei seinen Ermittlungen behindert und ausgebremst, wenn er zu sehr an der Wahrheit interessiert ist. Man macht ihm von höchster Stelle deutlich, dass seine Ermittlungsergebnisse dem norwegischen Volk nicht schaden dürfen.
Die Geschichte ist nicht nur wegen des ständigen Wechsels der Zeitebene einigermaßen schwierig zu lesen, sondern auch deshalb, weil die Identität der Personen teilweise nicht klar ist genauso wenig, auf wessen Seite sie stehen. Es gibt Verrat und Intrigen auf allen Seiten. Wer in die Fänge der Geheimdienste gerät, lebt gefährlich.
Ein skandinavischer Spionagekrimi ist ein ungewöhnliches Genre, ein Ermittler mit beschädigter Persönlichkeit ist es weniger. Die Charakterisierung der Figuren, vor allem von Tommy Bergmann, ist gut gelungen. Der Roman ist spannend und liest sich gut, vor allem, weil der Autor auf die Darstellung von exzessiver Gewalt verzichtet. Ein empfehlenswerter Roman.

Veröffentlicht am 19.05.2019

Leander Lost ermittelt in Fuseta

Weiße Fracht
0

“Weiße Fracht“ von Gil Ribeiro ist der dritte Teil einer Serie um den deutschen Polizisten Leander Lost und seine portugiesischen Kollegen von der Polícia Judicária. Lost ist im Rahmen eines ...

“Weiße Fracht“ von Gil Ribeiro ist der dritte Teil einer Serie um den deutschen Polizisten Leander Lost und seine portugiesischen Kollegen von der Polícia Judicária. Lost ist im Rahmen eines Austauschprogramms für ein Jahr an die portugiesische Polizei ausgeliehen worden. Er ist ein Asperger-Autist, was ein Leben lang zu Ausgrenzung und Verachtung durch seine Mitmenschen geführt hat. Anders als die deutschen Kollegen wissen aber Sub-Inspektorin Graciana Rosado, ihr Kollege Carlos Esteves und ihre Chefin sein enormes Wissen, seine analytischen Fähigkeiten und sein eidetisches Gedächtnis zu schätzen und sind seine Freunde geworden.
Im kleinen Ort Fuseta an der Algarve ist der deutsche Aussteiger Uwe Ronneberg ermordet worden. Indizien am Tatort verknüpfen diesen Fall mit zwei Morden vor vier und acht Jahren in Spanien, die als Ritualmorde behandelt werden. Dann geschieht ein weiterer Mord auf portugiesischer Seite. Was Zeugen gesehen haben, weist in eine ganz andere Richtung, denn es gibt Gerüchte über eine bevorstehende große Drogenlieferung aus Kolumbien. Die Polizei verfolgt alle Hinweise, unterstützt von den Hamburger Kollegen Manz und Muhrmann, die der Polizeipräsident an die Algarve entsandt hat, da der ermordete Deutsche sein Bruder war.
Der Roman liest sich auch ohne reißerische, oberflächliche Spannung sehr gut, denn er liefert ein liebevolles Porträt einer offensichtlich wunderschönen Region inklusive Lebensart und Sprache. Der Autor fügt immer wieder portugiesische Wörter ein, was die Authentizität noch verstärkt. Der Roman besticht durch eine sorgfältige Charakterisierung der Figuren, nicht durch des sympathischen Asperger-Polizisten, der für viel Komik im Roman sorgt. Er kann nicht lügen und versteht keine Ironie, auch keine Metaphern, wenn sie nicht in seinen Handbüchern erklärt sind. Er erfasst die wenigen Millisekunden Mikroexpression in der Miene seines Gegenübers, die die wahren Emotionen zeigen und speichert sie. So kann genauer als ein Lügendetektor sagen, ob der andere lügt Und dann verliebt er sich auch noch in Gracianas Schwester Soraia, ein unbekanntes Gefühl, mit dem er nicht umzugehen weiß. Dafür braucht er dringend Hilfe und Ermutigung von seinen Freunden.
“Weiße Fracht“ hat mir sehr gut gefallen, und ich werde mit Sicherheit auch die beiden ersten Bände der Reihe lesen.