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Veröffentlicht am 10.12.2019

Ausgestorbene Literatiere

Das große Bestiarium der modernen Literatur
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Franz Blei war ein österreichischer Literaturkritiker, der auch für einige exzentrische Herausgeberschaften und eigne Texte bekannt war und ein Leben geführt hat, das außer seiner Herkunft, seiner Gattin ...

Franz Blei war ein österreichischer Literaturkritiker, der auch für einige exzentrische Herausgeberschaften und eigne Texte bekannt war und ein Leben geführt hat, das außer seiner Herkunft, seiner Gattin und der Literatur keinen Mittelpunkt besaß. Vagabundierend lebte er von 1871 bis 1942 und ist heutzutage vor allem noch für as vorliegende Buch bekannt: „Das große Bestiarium“. 1920 bis 1924 erschienen acht Auflagen, stets vermehrt um neue Eintäge sowie weitere texte.

Die Idee ist großartig: Blei stellt ein Lexikon zusammen, in dem die Literaten seiner Zeit als „Literatiere“ versammelt werden. Jeder Eintragt widmet sich einem anderen, in ein fabelhaftes Fabelwesen Autoren, wobei die Feder Bleis so spitz ist, dass sogar die Lektüre schmerzt - über Gottfried Benn: „Der BENN ist ein giftiger Lanzettfisch, den man zumeist in den Leichenteilen Ertrunkener festgestellt hat. Fischt man solche Leichen an den Tag, so kriecht gern der Benn aus After oder Scham oder in diese hinein.“ (S. 24) Wohlwollender über Egon Friedell: „DAS FRIEDELL. Nicht zu verwechseln mit dem Frettchen, da eher verwandt mit dem archaischen Neu, einem Megatherium aus der Vielsaufgruppe. Nährt sich vornehmlich von Chesterton, Kierkegaard, Shaw, Hegel, Nietzsche und anderm Kraut. Verdaut mit dem großen Kopfe; die dabei ausgestoßenen Geräusche sind weithin gefürchtet als Humor.“ (S. 36)

Hier wird schon deutlich, dass Bleis Stil manieriert, altertümlich, gestelzt und gelehrt ist. Den Neu kenne ich nicht, das Megatherion ist das „große Tier“, und man kann sich das zusammenreimen oder fix nachschlagen. Beim FACKELKRAUS (S. 33 f.) hingegen braucht es schon den ganzen Kontext, dass nämlich Karl Kraus die nämliche Zeitschrift „Die Fackel“ 1899 bis 1936 unter dem Motte „Was wir umbringen“ herausgegeben und damit großen Einfluss auf die Kulturszene gehabt hat. Vollends versagt das normalbürgerliche Hintergrundwissen bei etwa 50 % der vorgestellten Literatiere, die mir vollkommen unbekannt ist, deren Umdeutung zum Tier folglich witzlos auf mich kommt. Mithin stelle ich fest, dass sich Bleis großes Bestiarium vor allem als fossile Schau der ausgestorbenen Literaturfauna eignet. Mit deutlich größerem Genuss, weil es mir Heutigem näher ist, habe ich das „Bestiarium der deutschen Literatur“ gelesen, das Fritz J. Raddatz 2012 herausgegeben hat; ebenfalls mit gnadenloser Feder.

Die dem lexikalischen Teil beigegebenen Texte sind zum Teil ebenfalls satirischer Prägung, zum Teil „notwendige Exkurse“ in die Kultur- und Kunstgeschichte, deren Notwendigkeit sich vor allem aus dem ihnen gegebenen Obertitel ableitet („notwendig“). Mir ließen sie versunkene Semester Literaturstudium auferstehen. Auch die neu erfundenen Gespräche zwischen Goethe und Eckermann sowie die Texte über zeitgenössisches „Theater und Schauspielkunst“ erweckten mehr als archäologisches Interesse in mir. Die abschließend hinzugesiebten „biographischen Belustigungen“ hingegen streuten noch einmal 50% Vergnügen hinzu. Über die andere Hälfte nichts als Schweigen.

Kurzum: Lesen Sie Raddatz.

Veröffentlicht am 02.06.2019

Alles hat ein Ende ...

Aller Tage Abend
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Viermal fragt Jenny Erpenbeck in diesem Roman: Was wäre wenn? Wenn die Protagonistin nicht gestorben wäre, sondern eines der vielen möglichen Leben gelebt hätte. In Intermezzi lässt Erpenbeck die Handlung ...

Viermal fragt Jenny Erpenbeck in diesem Roman: Was wäre wenn? Wenn die Protagonistin nicht gestorben wäre, sondern eines der vielen möglichen Leben gelebt hätte. In Intermezzi lässt Erpenbeck die Handlung sich einen anderen Abzweig wählen, auf dem es weitergeht durch die Jahre, durch die Generationen, durch das Schicksal. Dabei lesen wir kluge Gedanken, erleben starke Frauen in wechselvollen Zeiten – von der K.u.K.-Monarchie über das Dritte Reich, das Moskauer Exil bis in die Tage der realexistierenden DDR und die Nachwendezeit. Das Schicksal der Familie ist auch ein ostjüdisches, vor allem aber ein menschliches.

Die Sprache des Roman ist bisweilen frisch und leicht, bisweilen phantasievoll und überraschend, leider häufig redundant und meistens zu nüchtern.

Je länger der Text währt, desto öfter fragt man sich unwillkürlich, ob das Was-wäre-wenn nicht eigentlich banal ist. Ob nicht der gewählte Abzweig ein beliebiger wäre – oder eben just der, den die Autorin brauchte und deshalb erfand, manchmal arg gekünstelt. Und schließlich scheint der Roman in seinen Titel zu münden: Irgendwann ist schließlich immer „Aller Tage Abend“, egal welchen Abzweig das Leben genommen hat. Welche Bedeutung hat es dann?

Wenn das Unausweichliche unausweichlich ist, was teilen die vielen Möglichkeiten, die unzähligen Potenzial denkbaren parallelen Leben dann mit?

Der Roman scheint auf vier nicht gerade erbaulichen Umwegen diese Frage zu stellen, ohne eine Antwort anzudeuten.

Veröffentlicht am 17.05.2019

Ein konservativer Spiegel mit verschleißendem Witz

Briefe in die chinesische Vergangenheit
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Rosendorfers "Briefe in die chinesische Vergangenheit" sind natürlich Rosendorfers Briefe an die (bayerische) Gegenwart. Indem er den tausend Jahre zuvor aufgebrochenen Kao-tai bemüht, einen Blick auf ...

Rosendorfers "Briefe in die chinesische Vergangenheit" sind natürlich Rosendorfers Briefe an die (bayerische) Gegenwart. Indem er den tausend Jahre zuvor aufgebrochenen Kao-tai bemüht, einen Blick auf unser Deutschland zu werfen, hält er ihm einen skurrilen Spiegel vor. Das ist oft sehr witzig, weil Rosendorfer Kao-tai genau beobachten lässt. Allerdings beschlägt der Spiegel rasch, wird zur Masche und verliert den ironischen Witz.

Das liegt auch und vor allem an dem, was Kao-tai kritisieren soll. Rosendorfer hat sich ja genau überlegt, was Kao-tai kritikabel finden soll, weil es "früher besser" war. Deshalb ist sein Text absolut gesellschaftskritisch zu lesen - und seine Haltung oft sehr konservativ, bisweilen sogar "tümelnd". Da spricht dann kein tausend Jahre alter Chinese, sondern ein 50 Jahre alter, wertekonservativer Bayer, gebürtig aus Bozen. Allein die Klassifizierung der Musik spricht da Bände.

Damir die Dosis des Lobs der vergangenen Zeit nicht zu groß wird, besser nicht am Stück lsen, sondern den oberflächlichen Witz in kleinen Portionen genießen.

Und dann den "Papalagi" lesen.

Veröffentlicht am 13.02.2019

Kein Knaller, nur ein Böllerchen

Wallace
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Am Anfang dieses Roman stand vermutlich eine Idee: Wie ungerecht es nämlich ist, dass Darwin und Wallace zwar gleichzeitig auf die Evolutionstheorie kamen, aber nur der eine sich als Ikone der Wissenschaft ...

Am Anfang dieses Roman stand vermutlich eine Idee: Wie ungerecht es nämlich ist, dass Darwin und Wallace zwar gleichzeitig auf die Evolutionstheorie kamen, aber nur der eine sich als Ikone der Wissenschaft in das Gedächtnis der Menschheit brannte, obwohl der andere die Idee sogar als Erster aufs Papiergebracht hat: in einem Brief von Wallace an Darwin. Aus dieser Idee entwickelt Oelze zwei Erzählstränge: Zum einen folgen wir dem Leben Wallaces in ausgewählten Streiflichtern, zum anderen dem Museumsnachtwächter Albrecht Bromberg in einem Wendepunkt seines eingefahrenen Lebens.
Es ist alles da für einen runden Roman: eine erstklassige Ausstattung durch den Verlag Schöffling & Co., ein faszinierendes Gelehrtenleben, exotische Schauplätze, ein epochaler Konflikt und ein stimmiger Antiheld mit extravaganter Entourage (ein Stammtisch namens „Elias-Birnstiel-Gesellschaft“).
Und dennoch halte ich den Roman für misslungen. Warum?
Das liegt am Stil und dem schlecht angefassten Personal sowie einer hanebüchenen Wendung.
Zunächst ist es die Sprache, die ungemein störend ist. Oelze befleißigt sich eines eigenartigen, umständlichen Stils, bei dem die Zeilen mit Adjektiven geflutet werden, dass jeder Stilkunde die Blätter aus der Bindung rutschen. „Gelbschnabelige Tukane“ (S. 56) bevölkern statt Gelbschnabeltukanen den Urwald, von denen manche auch noch „breitschnabelig“ (S. 57) sind, der „malaiische Maat in seinen ockergeben Puffhosen schlug so laut und energisch mit dem messingenen Klöppel gegen das glänzende Gehäuse der Glocke“ (S. 8), „sommersprossige Bananen“ (S. 225) erfinden ein neues Adjektiv und „vielförmig gemusterte Jaguare“ (S. 57) lassen den Leser sich wundern, wie wohl einförmig gemusterte Jaguare aussehen würden. Gepaart wird diese Lust am Attributieren mit einer verirrten Wortwahl, die sich offenbar aus der falschen, aber unmittelbar benachbarten Schublade bedient: „Weltgewandtheit“ statt Weiterfahrenheit (S. 59), „Auskommen“ statt Lebensgrundlage (S. 66) und dergleichen mehr.
Am unerklärlichsten bleibt die Entscheidung des Autors, seinem Titelhelden das ganze Buch über seinen Namen zu verweigern. Von den ersten Szenen bis zum Schluss wird Wallace in seinem Erzählstrang konsequent als „der junge Bärtige“ bezeichnet, der später dann zum „Bärtigen“ reift. Unerklärlich ist diese gekünstelte Distanz zur Person auch deshalb, weil sie den Schwerpunkt nicht etwa auf den Forscher, Weltreisenden, Denker oder Geographen legt, sondern auf das äußere Merkmal des Bartträgers. Hierin war Wallace seinem Evolutionszwilling immerhin voraus: Wallace hatte schon einen bemerkenswerten Bart, als Darwin noch auf den Backenbart beschränkt war (im Alter von 45 Jahren). Aber so bemerkenswert ist das dann auch wieder nicht.
Überhaupt dieser Titelheld: Alfred Russel Wallace ist gewiss keine einfach zu fassende Persönlichkeit gewesen. Sein Lebenslauf ist eher krumm - zum Naturforscher wurde er erst „auf dem zweiten Bildungsweg“, einen ersten durchschlagenden Erfolg verhinderte der schicksalhafte Verlust von fünf Jahren Forschungsleistung in Brasilien bei einem Seeunglück, und am Ende protestiert Wallace nicht einmal, als Darwin das ihm zugesendete Manuskript über die Entstehung der Arten nicht nur nicht veröffentlicht, sondern einen eigenen Aufsatz mit denselben Ideen veröffentlichte. Warum nicht? Ist es die Schüchternheit Wallaces, von der uns Oelze in seinem Roman berichtet? Ist es die Unsicherheit, ob die Theorie überhaupt ankommt und in der Öffentlichkeit bestehen kann? Oder ist es vielleicht auch die Tatsache, dass Wallace schon gewusst hat, dass Darwin mit einer solchen oder ähnlichen Idee seit Jahren schwanger ging, weshalb er sich gar nicht ausgestochen gefühlt hat? Wissen wir nicht - die Darwin- und die Wallace-Biographen wissen es auch nicht, geben aber unisono Darwin den Vorzug. Zurück zur Figur Wallaces: Ist er eigentlich ein Naturforscher? Einer, der für die Verbreiterung des menschlichen Wissens kämpft? Der für das Wissenschaftlerleben brennt? Er ist es nicht. Er ist ein Sammler, und zwar ein richtig guter, nicht nur was Käfer betrifft. Er bedient - auch aus finanziellen Gründen - das Bedürfnis von Sammlern in England und sammelt auf seinen Reisen nach Brasilien und Indonesien mit den Absichten des Verkaufs. Die so gelehrt daherredenden Herren sind seine Sache sowieso nicht (S. 87) - und als er nach dem Brasiliendesaster erneut aufbrechen möchte, lässt er sich nicht etwa von einem eigenen Erkenntnisinteresse, einer eigenen Forschungsidee leiten, sondern lässt sich Malaysia vom Präsidenten der Geographischen Gesellschaft empfehlen (S. 135). Wallace ist kein Visionär, er ist ein Sammler und Beobachter mit guten Ideen. Zum Beispiel zum Ursprung der Arten und zur Biogeographie („Wallace-Linie“), aber auch zu gesellschaftlichen Problemen und spiritistischen Modellen. So schwer das Leben des historischen, wirklichen Albert Wallace zu fassen ist, so schwer ist es auch Oelze gefallen, seinen literarischen Titelhelden zu fassen. Der „junge Bärtige“ bleibt unverständlich und funktioniert als Romanfigur nur so lala, auch weil er so, wie er angelegt ist nicht zum Helden taugt.
Was darüber hinaus unbegreiflich bleibt - weil sie das eigentlich Interessante an Wallace ist, wenn man ihn Darwin gegenüber stellt -, ist die mangelhaft ausgeführte Forscherinnensicht: Erst zum Ende hin dürfen wir Wallace einen klugen Gedanken zu Ende denken lesen. Zuvor auf S. 66 f. wird diese wichtige Szene verschenkt: Wallace fragt sich nach dem Ursprung der Vielfalt und mithin nach dem Ursprung der Arten – einem Kern von Wallaces Schaffen! Und was macht Oelze aus der Szene? Sie mündet in einem Urwaldklamauk, bei dem der "junge Bärtige" nackt den Schmetterling jagt. Dieselben Gedanken versenkt Oelze dann auf S. 86 erneut in der Nackedeigroteske. Vielleicht ist das verzögernde Absicht? Damit entscheidende Erkenntnisse erst später, im malaiischen Dschungel geliefert werden können? Selbst dann aber empfinde ich die clowneske Unterbrechung als schlechte Autorentscheidung.
Was ist mit der zweiten Hauptfigur Albrecht Bromberg? Er funktioniert ziemlich gut - ein talentierter Mensch ohne persönlichen Ehrgeiz landet er nach einigem Herumstudieren als Nachtwächter im Naturkundemuseum. Hier richtet er sich in einem Leben ein, das er dank eingetaktetem Ablauf nicht mehr hinterfragen muss. Solchen Menschen kann man immer wieder begegnen - und dass sie sich dann doch irgendwann für eine Sache begeistern, kommt immer wieder vor. Soweit, so plausibel. Wie genau Brombergs Interesse geweckt wird, finde ich diskutabel (der „Stolperer“), aber egal. Brombergs morgendlicher Stammtisch - die „Elias-Birnstiel-Gesellschaft“ - ist der Höhepunkt des Buchs. Die skurrilen Figuren hier (es hätte auch ein Frau dabei sein können …) knattern ihre intellektuellen Wortspiele nur so herunter und reißen einige großen Themen an - Geniebegriff, Theodizee, Voltaire versus Leibniz etc. -, womit auch ein paar Flanken abgedeckt sind, die man braucht, wenn man die Ungerechtigkeit von Darwin/Wallace, die ich als Ursprung des Romans bezeichne, thematisieren möchte. Das ist nicht zu tiefgeschürft und unterhaltsam. Auch der Antiquar Schulzen würzt das Personal des Romans mit seinem skurrilen Auftreten. Alles wäre nochmal gut gegangen, wenn Oelze nicht mit Rosa die Frau in Brombergs Leben hätte treten lassen, die den Charakter des Romans mit einer Schnapsidee umkehrt: Sie schlägt vor, den verschwundenen Begleitbrief Wallaces, in dem er Darwin um Veröffentlichung des zugesendeten Aufsatzes bittet, zu fälschen. Zwar wäre damit immer noch nicht Wallace der Erfinder der Evolutionstheorie - da sind in Fachkreisen sowieso Darwin und Wallace gleichberechtigt -, aber Darwin stünde als mieser Kollege da, der dem anderen den Ruhm gestohlen hätte, als erster publiziert zu haben. An dieser Stelle (S. 231) bricht die Urmotivation des Romans heraus, Wallace zu retten, hier werden Oelze und Bromberg/Rosa eins, denn Oelze lässt in einem letzten, lahmen Kapitel Wallace tatsächlich einen solchen Brief geschrieben haben.
Im Übrigen wird dieser Brief nicht zitiert, sondern nur beschrieben, dass er existiert. Wie überhaupt Oelze nicht ein Schriftstück mit eigenem Wortlaut reden lässt, Nicht einmal das kurze Telegramm des verhinderten Brautvaters, das eine so niederschmetternde, auf Seiten ausgebreitete Wirkung auf den abgewiesenen Wallace hat, wird wörtlich wiedergegeben (S. 131 f.). Fad.
Dafür spickt Oelze den Roman mit mehr oder minder passenden Exkursen - zum Überleben der Zikaden dank Primzahlenintervall (S. 116 ff.), zur Landkartenverzerrung (S. 191 ff.), zu wählerischen Bienenvölkern (S. 205 ff.), zum Wunderbaren (S. 217 ff.) u.s.w. Fast immer „nice to know“, aber fremd in der Geschichte.
Als Fazit bleibt mir nur, die Befürchtung Brombergs zu bemühen, dass manche als „Knaller“ gedachte Idee „als armselige, kleine Böllerchen“ verrecken (S. 227). Ein schöner Roman mit viel Potenzial ist hier misslungen.

Veröffentlicht am 03.04.2018

Das Zeitlose ist etwas angestaubt

Orlando
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Ich habe keine Angst vor Virginia Woolf. Aber mit ihrem Namen verbinden sich ein paar kraftvolle Assoziationen. Wahrscheinlich lag es an meinen mangelnden Vorkenntnissen, meinen seltsamen Vorurteilen, ...

Ich habe keine Angst vor Virginia Woolf. Aber mit ihrem Namen verbinden sich ein paar kraftvolle Assoziationen. Wahrscheinlich lag es an meinen mangelnden Vorkenntnissen, meinen seltsamen Vorurteilen, dass mich „Orlando“ enttäuscht hat.
Woolf erzählt die Geschichte des Landadligen Orlando im elisabethanischen England, der schwer in sich und die Natur verliebt ist, sich für die Frauen - vor allem die stürmische Sasha - interessiert und für die Literatur, ja sogar selbst poetische Ergüsse fabriziert; derer schämt er sich später, als ein bösartiger Kritiker sie zu Gesicht bekommt, weshalb Orlando alle vernichtet bis auf den ‚Eichenbaum‘. Erst von der Welt enttäuscht, dann wider ihr zugewandt sogar Gesandter am Hof in Istanbul wird. Die blutige Revolte in der Stadt verschläft Orlando in einem rätselhaften siebentägigen Schlaf, aus dem er als Frau erwacht. Orlando reist wieder heimwärts und erlebt einige Abenteuer - bei den Zigeunern und auf See -, in denen die Ambivalenz schon aufscheint, dass Orlando nun in einem Frauenkörper steckt, aber ein Vorleben als Mann besitzt. Daheim angekommen, muss sie um vor Gericht ihr Erbe kämpfen, da sie für tot erklärt war und für einen Mann gehalten worden ist, es gelingt ihr aber, den Sitz ihrer Ahnen wieder zurückzuerhalten. Orlando sucht die Nähe von Literaten ihrer Zeit, spricht viel über Literatur und was sie bedeutet. Und immer wieder erprobt sie sich als Frau in einer Männerwelt oder als Frau gegenüber Frauen. Besonders intensiv erlebt sie die Beziehung mit ihrem späteren gatten, dem Kapitän Marmaduke Bonthrop Shelmerdine, in dem sie dessen weiblichen Seiten erkennt. Am Ende des Romans ist Orlando eine weitestgehend ungebundene, selbstbewusste Frau, die sie immer gewesen ist, die mit ihrem gereiften ‚Eichenbaum‘ immerhin zu den ernsthaften Literaturschaffenden gezählt wird und die - mit der Zeit gehend - die Fahrt mit ihrem Automobil schätzt.
Und überhaupt: die Zeit. Der Roman spannt sich vom elisabethanischen England bis in das Jahr 1928, in dem „Orlando“ erschienen ist, ohne im wesentlichen das Älterwerden Orlandos zu thematisieren, Auch andere Figuren - etwa der Kritiker Greene - leben die Jahrhunderte, was weder erklärt noch hinterfragt wird. Die Jahre ist aufgehoben, es gilt nur ein Vorher und Nachher, denn Woolf benötigt die Jahrhunderte, um Orlando in ihnen die beiden großen Anliegen spiegeln zu lassen, um die es geht: um die Stellung der Frau (in der Gesellschaft und zu sich) und die Literatur.
Wie Orlando als Frau denkt, sich vom Mannsein in das Frausein bewegt (und wieder zurück, zumindest gedanklich); wie sie Unterschiede entdeckt, Grenzen berührt und überschreitet, Geschlechterspezifisches erkennt, benennt und übersteigt - das sind die starken Momente dieses ansonsten leider arg in die Jahre gekommenen Romans. Hier verbirgt sich der zeitlose Wert „Orlando“ hinter einer Sprache, die altertümlich wirkt (meine deutsche Ausgabe ist von 1964) und heutige Leser wohl nicht mehr erreicht. Die Gedanken über die Literatur hingegen haben mit ihren Namen Staub angesetzt, auch wenn bis heute gilt, was am Schreiben das Schwierigste ist: „Das Leben? Die Literatur? Eins ins andere zu verwandeln?“ (S. 253)
Auf mich wirkte „Orlando“ nicht mehr wie in Literatur verwandeltes Leben, weshalb ich, der ich mit großen Erwartungen in die Lektüre gestartet war, in folgendem Satz auf der letzten Seite die Figur Orlando selbst widererkannte: „Alles war erleuchtet, wie für die Ankunft einer toten Königin.“ (S. 292)