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Veröffentlicht am 10.06.2019

Ein poetischer Roman über die Suche nach Wahrheit – wunderschön erzählt und ein absolutes Highlight!

Rainbirds
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Zugegeben, als ich den Klappentext von Clarissa Goenawans “Rainbirds”, das als Liebesgeschichte promoted wird, das erste Mal gelesen habe, dachte ich mir “Klingt ja ganz nett”. Ich bin kein Fan von Liebesgeschichten ...

Zugegeben, als ich den Klappentext von Clarissa Goenawans “Rainbirds”, das als Liebesgeschichte promoted wird, das erste Mal gelesen habe, dachte ich mir “Klingt ja ganz nett”. Ich bin kein Fan von Liebesgeschichten und dementsprechend groß war die Angst vor einer Enttäuschung, doch als ich neulich dann endlich zu diesem Buch gegriffen habe, konnte ich es kaum aus der Hand legen, so hat es mich berührt und begeistert! Was für ein Volltreffer! Doch nun ein paar Worte zum Inhalt: Es geht um den jungen Ren, der nach Akakawa reist – die Stadt, in der seine Schwester Keiko bis zuletzt gelebt hat. Bis sie ermordet wurde. Für ihn bricht eine Welt zusammen, denn seine gutmütige Schwester könnte sich doch niemandem zum Feind machen. Also bemüht er sich, herauszufinden, was genau passiert ist, und lernt dabei Seiten von Keiko kennen, die er so nicht erwartet hätte und die nicht ins Bild von der ehrgeizigen, introvertierten und fürsorglichen Schwester passen…

"Zuerst war noch alles wie gewohnt. Ich telefonierte mit meiner Schwester. […] Sie stellte Frage um Frage, doch in meiner Ungeduld, das Gespräch hinter mich zu bringen, gab ich nur einsilbige Antworten. Aber dann zerfiel sie vor meinen Augen und wurde zu Asche."

Clarissa Goenawans “Rainbirds” konnte mich direkt mit den ersten Zeilen abholen, sodass ich bis zur letzten Seite an ihren Lippen (bzw. Buchstaben) hing. Ren, der eigentlich nur Keikos Angelegenheiten regeln wollte, verirrt sich immer tiefer in einem Wald aus Geschichten über seine Schwester, die er anscheinend nie wirklich gekannt hat – zumindest nicht mehr, seit sie überstürzt aus dem Elternhaus ausgezogen ist. Während Rens Mutter dies mit einem kalten “Du bist mein einziges Kind” abtut, hält er selbst einen zumindest mehr oder weniger regelmäßigen Telefonkontakt mit Keiko aufrecht. Dass sie nun so plötzlich aus seinem Leben verschwand, kann er nicht verkraften. Angekommen in Akakawa scheinen sich die Zufälle um Ren auch zu häufen und bringen ihn mit einigen Personen zusammen, die seine Schwester kannten. Die Autorin spinnt durch die knapp 370 Seiten einen Faden, der sich immer weiter zuzieht, bis wir uns ein Bild von den tatsächlichen Ereignissen machen können. Der Weg dahin ist glücklicherweise kein klassisches Whodunit (wir befinden uns ja immer noch in einem Roman), aber einige Krimi-Elemente blitzen hier und dort hervor, was “Rainbirds” zu einer kuriosen Genre-Mischung macht. Teils Liebesgeschichte, teils Krimi und teils Thriller, treiben wir als Leser durch den Roman und staunen beim Anblick dieser poetischen Sprache und der kulturellen Elemente, die uns Japan näher bringen, und Grübeln über diese ausgearbeiteten, sehr realistischen Charaktere – wer hätte Keiko Schlechtes wünschen können, wer vermag es, einer so jungen Frau gewaltsam das Leben zu nehmen? Es bleibt bis zum Ende spannend – nicht im konventionellen Sinn, denn Clarissa Goenawan zeichnet eine sehr ruhige, leise Erzählsprache aus, die einen verzaubert und die Seiten sich wie von selbst umblättern.

Fazit: Wie ihr vielleicht herauslesen konntet, bin ich schwer angetan von diesem Buch und hoffe darauf, sehr bald wieder etwas von ihr lesen zu dürfen. Den Thiele Verlag kannte ich bis zu diesem Roman tatsächlich noch nicht, werde aber nun mit Argusaugen das Herbstprogramm anschauen und bin gespannt, ob ich noch so eine Perle von Literatur entdecken kann. Für jeden, der asiatische Literatur an sich mag, ist “Rainbirds” von Clarissa Goenawan auf jeden Fall zu empfehlen, aber auch Bücherwürmern, die noch keine größeren Berührungspunkte mit Literatur aus Fernost haben, kann ich diesen Roman ans Herz legen.

Mehr unter: https://killmonotony.de/buecher/rezension/eine-perle-rainbirds-von-clarissa-goenawan

Veröffentlicht am 10.06.2019

Ein bezauberndes Kinderbuchdebüt aus der Feder vom wohl vielseitigsten Mann Hollywoods – toll erzählt und klasse aufgemacht!

Die Magischen Sechs - Mr Vernons Zauberladen
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Bereits im Februar bei der Pressemesse in Frankfurt ist mir dieses hübsch gestaltete Buch von Neil Patrick Harris aufgefallen und konnte mich mit einem sehr sympathischen Klappentext und der Aussicht auf ...

Bereits im Februar bei der Pressemesse in Frankfurt ist mir dieses hübsch gestaltete Buch von Neil Patrick Harris aufgefallen und konnte mich mit einem sehr sympathischen Klappentext und der Aussicht auf echte Zaubertricks überzeugen, sodass es kurze Zeit später bei mir einziehen durfte. Direkt nach seiner Ankunft habe ich es in einem Rutsch verschlungen, sodass es mir schon ein wenig peinlich ist, dass ich erst jetzt dazu komme, es zu besprechen. Aber wie sagt man so schön? Gut Ding will Weile haben! ? Im ersten Band der neuen Kinderbuchreihe “Die Magischen 6” geht es geht also um den jungen Carter, der Reißaus nimmt von seinem betrügerischen Onkel und in die nächstgelegene Stadt, Mineral Wells, flüchtet. Dort trifft er auf einem Jahrmarkt auf sehr dubiose Gestalten, aber auch auf Mr. Vernon – der ein noch größerer Zauberer zu sein scheint als er selbst. Und so lernt er dessen Tochter, Leila, und ihre Freunde kennen. Misstrauisch, wie Carter nun mal leider ist – das Leben bei seinem Onkel hat ihm nicht gut getan – tut er sich zunächst schwer, Vertrauen zu seinen neuen Freunden zu fassen. Doch als er von dem fiesesten Coup der Jahrmarkt-Betrüger erfährt, schmieden er, Leila, Theo, Ridley, Olly und Izzy einen Plan, um den Bösewichten das Handwerk zu legen und ihre gemeinen Machenschaften ans Tageslicht zu bringen.

"Glaubst du an Magie? Hallo, du da! Ja, ich rede mit dir. Und? Glaubst du an Magie? Wenn du dem Jungen aus diesem Buch auch nur ein kleines bisschen ähnelst, ist die Antwort wahrscheinlich Nein. Aber ich versichere dir, es gibt sie. Wirklich. Sie ist überall um uns herum."

Klingt gut? Liest sich auch gut! Ich bin ja ein riesiger Fan der Bücher von Pseudonymous Bosch (“Der Name dieses Buches ist ein Geheimnis” usw.) und liebe es, wenn Erzähler in Büchern die vierte Wand brechen und sich direkt an den Leser wenden. Gleiches macht auch Neil Patrick Harris. Den Erzähler seiner Geschichte mit seiner besonderen Art zu erzählen und der großen Prise Humor hatte ich die ganze Zeit über als Count Olaf von Lemony Snicket im Kopf. ? Harris schafft es nicht nur, auf eine wahnsinnig kurzweilige Art und Weise zu erzählen (was kann dieser Mann eigentlich nicht?), sondern schafft es auch, die ohnehin schon wunderbare Geschichte durch einige Einschübe aufzupeppen, in denen der Leser Zaubertricks lernen kann! Zu allem Überfluss lernen wir auch nicht nur etwas über Zauberei und Illusionen, sondern auch über Chiffren und Codes. Und ja, der Autor bricht mit seinem Erzähler nicht nur die vierte Wand – er packt auch einige Rätsel in sein Buch. So war ich nach der Lektüre noch einige Zeit später noch mit dem Knobeln beschäftigt und “Mr. Vernons Zauberladen” hat mich nicht nur emotional mitgerissen, sondern auch noch meine grauen Zellen in Anspruch genommen.

Weiterlesen: https://killmonotony.de/buecher/rezension/neil-patrick-harris-die-magischen-6-mr-vernons-zauberladen

Veröffentlicht am 10.06.2019

Genial, sprachgewaltig und ein echtes Must-Read – der zweite Streich des Wortmagiers ist da!

Lanny
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2018 machte Max Porter mit seinem Debütroman “Trauer ist das Ding mit Federn” ganz schön Furore in meiner Bubble – einigen war der Stil jedoch zu derb, zu zerhackstückelt, für wieder andere (mich eingeschlossen) ...

2018 machte Max Porter mit seinem Debütroman “Trauer ist das Ding mit Federn” ganz schön Furore in meiner Bubble – einigen war der Stil jedoch zu derb, zu zerhackstückelt, für wieder andere (mich eingeschlossen) war Porters dünner Roman ein Feuerwerk, ein frischer Wind in der festgefahrenen Belletristik, die ich um diese Zeit herum gelesen habe. Porters Debüt handelte von den ältesten Themen der Zeit: Liebe und Tod. Nun ist letzten Monat Max Porters neuer Roman “Lanny” erschienen, der erneut ein fulminantes Erzähltempo vorlegt und als wahres Fest zwischen den ganzen Neuerscheinungen heraussticht. Und ebenso wie sein Vorgänger die grundlegenden Themen der Menschheit anspricht. Doch von vorne: Es geht um den titelgebenden Lanny, ein schrulliger, sprachbegabter Junge, der sich ständig im Singsang mit sich selbst und der Natur befindet und furchtlos die höchsten Bäume erklimmt. Lannys Mum, die Krimiautorin ist, kommt die wunderbare Idee, dass Lanny doch bei dem 80-jährigen Pete, dem eigenbrötlerischen Künstler des Dorfs, doch ein paar Stunden Kunstunterricht nehmen könnte. Aus dieser zunächst merkwürdig anmutenden Idee – kam Pete doch in das Dorf, um sich zurückzuziehen – entsteht eine unerwartete Freundschaft zwischen ihm und Lanny. Die beiden sind gut füreinander und Lanny lernt nicht nur das grundlegende Kunsthandwerk, sondern auch einiges über das Leben – Pete hat schließlich bereits einige Jährchen hinter sich. Doch spätestens, als Lanny plötzlich verschwindet, wird gemunkelt, diese Freundschaft wäre unnatürlich; ein vermeintlich Schuldiger ist schnell gefunden.

"Ich denke an mein schlafendes Baby nebenan. Oder vielleicht schläft Lanny gar nicht. Vielleicht tanzt er im Garten mit Elben oder Kobolden. Wir nehmen an, dass er wie jedes normale Kind schläft, aber er ist kein normales Kind, er ist Lanny Greentree, unser kleines Enigma."

Obwohl “Lanny” sich von Max Porters erstem Roman von der Geschichte her unterscheidet, greift der Autor hier wieder zu bereits bekannten Themen und setzt sie mit seiner bewährten, wunderbaren Schreibtechnik um. Leser werden sich an die Trennung der verschiedenen Perspektiven bzw. Bewusstseinsströme von “Trauer ist das Ding mit Federn” erinnern, an die Erzählstimme eines Kindes und die oftmals explizite Sprache, die abstoßende Dinge beschreibt (»[…] dann schrumpft er, schlitzt sich mit einer rostigen Dosenlasche einen Mund, saugt eine nasse Haut aus saurem Mulch und saftigen Würmern an«). Die elterliche Liebe, der Wunsch, zu beschützen, all das findet sich in “Lanny” wieder. Sogar die Rolle der Krähe, die in Porters Debüt über die Familie wacht, bekommt ihren Auftritt in “Lanny”: als Altvater Schuppenwurz, dem nicht so freundlichen Wald- und Dorfgeist, der unter/über/in “seinem” Dorf alles hört, sieht und schmeckt, was sich dort so abspielt. Altvater Schuppenwurz lässt den Leser all die Gesprächsfetzen des Dorfes hören, das nach außen ganz friedlich wirkt, im Inneren jedoch den üblichen Tratsch und die Hetzereien liefert. Der Bewusstseinsstrom von Schuppenwurz wird im Buch auf eine besondere Art und Weise dargestellt, die beim Durchblättern sofort ins Auge fällt: Die Gedanken- und Sprachfetzen ordnen sich keinem geradlinigen Satz- und Layoutzwang unter, sondern wabern durch den Raum. Im weiteren Verlauf der Geschichte erfahren wir außerdem, dass Altvater Schuppenwurz, der auch als Totpapa Schuppenwurz bezeichnet wird, überall ist und dass es grausige Geschichten gibt von Leuten, die ihn gesehen haben wollen.

"Folge nur brav und bete recht fromm, dass dich Totpapa Schuppenwurz nicht holen kommt."

Weiterlesen: https://killmonotony.de/buecher/rezension/max-porter-lanny

Veröffentlicht am 10.06.2019

Ein absoluter Klassiker, der aktueller ist denn je, im neuen Gewand.

Die Menschenfabrik
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Bereits 2016 erschien bei Hoffmann & Campe eine äußerst schicke Neuauflage eines echten dystopischen Klassikers: “Die Maschine steht still” von E. M. Forster. Jetzt ist eine weitere Noelle in dieser schicken ...

Bereits 2016 erschien bei Hoffmann & Campe eine äußerst schicke Neuauflage eines echten dystopischen Klassikers: “Die Maschine steht still” von E. M. Forster. Jetzt ist eine weitere Noelle in dieser schicken Aufmachung erschienen und da wurde ich doch direkt neugierig: Oskar Panizzas “Die Menschenfabrik” ist bereits vor knapp 130 Jahren erschienen und widmet sich Künstlicher Intelligenz, der (titelgebenden) Herstellung und Zucht von Menschen und den Schrecken der Technisierung, eingebettet in eine leicht gruselige Geschichte: Unser namenloser Protagonist verläuft sich bei einer Wanderung und sucht Unterschlupf für die Nacht, da es unmerklich doch ein wenig spät geworden ist. Glücklicherweise ist da ein großes Fabrikgebäude, er klingelt und wird prompt von einem “kleinen schwarzen Männchen” in Empfang genommen, das ihm nicht nur Unterschlupf gewährt, sondern ihn auch willig durch die Fabrik führt – bei der es sich seiner Aussage zufolge um eine Menschenfabrik handelt. Unser Protagonist glaubt, er habe sich verhört und überlegt im Geiste, wie das Gesagte verstanden werden könnte. Doch ehe er zu einem Schluss kommt, beginnt die Führung und er kommt aus dem Staunen und Erschrecken gar nicht mehr heraus.

"Da ich nun keinen Grund hatte, anzunehmen, daß in diesem merkwürdigen Haus andere grammatikalische Regeln herrschen als in den übrigen deutschen Landen, so verstand ich unter »Menschenfabrik« eine Fabrik, in der Menschen fabriziert werden."

Der namenlose Protagonist versteht nicht, wozu in dieser Fabrik Menschen hergestellt werden sollen, werden diese doch täglich “zu Hunderten” kostenlos geboren. Dass es dabei tatsächlich einen logischen, wirtschaftlichen Hintergrund geben könnte, widerstrebt ihm sehr. Und dass gar Menschen verschiedener Hautfarben in der Fabrik hergestellt werden, da diese “jetzt sehr beliebt” sind, empört ihn noch mehr. Unser Protagonist wendet sich in seiner Wut und seinem Zorn dabei oft an den Leser selbst, was ich stilistisch sehr gelungen finde. Auch lässt er sich bei der Führung nicht nur berieseln in Gedanken an einen warmen Platz zum Schlafen, sondern empört sich lautstark über die “Machenschaften”, die in der Fabrik ihren Lauf nehmen.

Panizzas “Menschenfabrik” wirft dabei verschiedenste Thematiken auf, von Religion über Kapitalismus bis hin zu Kritik am Zeitgeschehen. Besonders die Religion spielt in der Novelle eine wichtige Rolle, denn das “kleine schwarze Männchen”, das zugleich der Direktor der Fabrik ist, backt die Menschen aus Lehm – da ist der Vergleich zur Bibel nicht weit hergeholt. Den so entstandenen Lehmgolems fehlt es an Intelligenz und ihre Daseinsberechtigung liegt nur in der Bespaßung der Menschen, die sie kaufen.

»Tun Ihre Menschen denken?« — »Nein!«

Fazit: Diese Novelle ist aktueller denn je, denn Begriffe wie Gewinnmaximierung sind uns natürlich nicht fremd. Auch künstlich erschaffene Lebewesen, wenn auch nicht unbedingt Menschen, sind heutzutage längst möglich – zumindest in der Theorie! Oskar Panizza hat also bereits 1890 ersonnen, wie es einmal sein könnte, in dieser dunklen Zukunft, und dabei unerwartet ins Ziel getroffen. Ein wunderbar zu lesender Klassiker, der toll gealtert ist und in seiner neuen Aufmachung mächtig was hermacht im Regal.

Mehr unter: https://killmonotony.de/buecher/rezension/oskar-panizza-die-menschenfabrik

Veröffentlicht am 15.02.2019

Thomas Pierce übertrifft mit seinem Roman alle Erwartungen: Dieses Buch ist wunderbar philosophisch, nachdenklich und voller Rätsel.

Die Leben danach
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Worum geht’s überhaupt?
Anhand der kurzen Leseprobe von Thomas Pierce‘ Romandebüt „Die Leben danach“ konnte ich mir nur schwer ausmalen, wie sich dieses Buch entwickeln würde – ist es ein Roman über einen ...

Worum geht’s überhaupt?
Anhand der kurzen Leseprobe von Thomas Pierce‘ Romandebüt „Die Leben danach“ konnte ich mir nur schwer ausmalen, wie sich dieses Buch entwickeln würde – ist es ein Roman über einen Mann, der sein Leben völlig umkrempelt, eine Liebesgeschichte oder etwas völlig anderes? Wie sich herausgestellt hat, trifft der letzte Punkt den Nagel auf den Kopf. Es beginnt damit, dass unser Protagonist Jim, ein ziemlich durchschnittlicher Typ, einen Herzstillstand hat und für eine Minute oder zwei tot ist. Dadurch, dass er in diesen wenigen Momenten keinerlei Nahtoderfahrung, gleißendes Licht oder ähnliches gesehen hat, ist er nachhaltig verstört. Zum Schutz vor weiteren Herzproblemen wird ihm ein technologisch sehr fortgeschrittenes „Sicherheitsnetz“ um sein Herz herum implantiert, das sein Herz auch dann weiterschlagen lassen würde, wenn er bereits tot ist. Dass er das Gerät und seinen eigenen Herzschlag über sein Handy in Echtzeit verfolgen kann, macht die Möglichkeit des Todes zu seinem ständigen Begleiter. Fortan sieht er das Leben mit neuen Augen und ist sich permanent seiner eigenen Sterblichkeit bewusst. Jim beschäftigt sich obsessiv mit den Nahtoderfahrungen anderer Menschen, er liest alles, was er zum Thema findet; er grübelt sehr viel über den Tod, besonders über das, was danach kommt, und kämpft mit Panikattacken, da er Angst vor dem großen schwarzen Nichts hat.

Ich würde sterben. Jeden Moment würde ich sterben. […] Ich würde weg sein. Wie mein Vater, wie alle anderen. Was auch immer es war, ich würde nicht einmal wissen, dass es passiert war. Ich würde mein Leben nicht vermissen. Alles, was ich je gewesen war, würde einfach verschwinden. […] Denn es gab keine andere Seite, oder? Das hier war die einzige Seite, nicht wahr?

Dann kommt er zufällig mit einem kuriosen Fall von Spuk in Berührung: In einem Restaurant wurde auf einer Wendeltreppe eine Stimme aufgezeichnet, die eindeutig nicht von dieser (lebendigen) Welt stammt. Sie ruft: „Der Hund brennt!“ Auf dieser Wendeltreppe soll allerdings nicht nur diese Stimme zu hören sein, die Restaurantbesitzerin berichtet auch von geisterhaften Erscheinungen und dem Gefühl von dem Druck von Händen, die Menschen von der Treppe zu stoßen scheinen. Jim ist zugleich fasziniert wie verstört. Noch während er darüber brütet, welche logische Erklärung es für diesen vermeintlichen Spuk geben kann, trifft er seine Ex-Freundin aus Schulzeiten wieder und verliebt sich glatt erneut. Nun jongliert Jim zwischen seiner Angst vor dem Tod, einer frisch entflammten Liebe und dem Rätsel der Wendeltreppe. Sein Leben beginnt, sich drastisch zu verändern. Der Spuk sowie die vorherigen Bewohner des Restaurants, die vermutlich Ursprung dieser Geistererscheinungen sind, beschäftigen Jim viele Jahre lang. Er erforscht die Familiengeschichte, beschäftigt sich mit paranormalen Forschungen und esoterischen Riten, mit denen man mit den Toten kommunizieren können soll. Dabei stößt er auf die Physikerin Sally Zinker, deren Forschung sein Leben komplett auf den Kopf stellen wird. Was Jim eigentlich nur als übersinnlichen, mystischen Mumpitz abtut, nimmt reale Formen an und gewinnt durch die Forschung der Physikerin enorm an Glaubwürdigkeit.

Sally Zinkers Forschung beschäftigt sich mit Geistererscheinungen und den sogenannten Daisy-Teilchen, die die „andere Seite“, die Totenwelt in einer bestimmten Situation durchlässig erscheinen lassen. Auf diese Weise kann innerhalb eines kurzen Zeitraums sozusagen Kontakt mit den Verstorbenen aufgenommen werden. Damit man diesen Kontakt allerdings steuern kann, um gezielt mit geliebten Menschen zu kommunizieren, muss man für den Bruchteil einer Sekunde aufhören zu existieren. Das klingt verrückt? Ja, etwas, aber Thomas Pierce schafft es, Gedankengänge, die wir alle wohl an dem einen oder anderen Punkt unseres Lebens einmal tätigen, mit physikalischen Prinzipien und Forschungen zu verknüpfen und sogar noch eine Liebesgeschichte, die nicht kitschig ist (juhu!) einzubauen. Ein echtes Allround-Paket also, das nicht nur die Grenzen des Klappentextes sprengt, sondern auch alle Erwartungen. Lange habe ich keinen so guten Roman mehr verschlungen. „Die Leben danach“ erinnert mit seiner zugleich wissenschaftlichen als auch philosophischen Note stark an die Werke von Scarlett Thomas, die in ihren Roman verschiedenste Themengebiete spannend verwebt.

Sie suchte nicht unbedingt nach Gott. Sie suchte nach einem Anzeichen dafür, dass das Leben über den physischen Körper hinausging, dass das Bewusstsein auf irgendeine Art den Tod des Körpers überleben konnte.


Wie hat es mir gefallen?
Thomas Pierce hat mit „Die Leben danach“ ein Meisterwerk geschaffen, das auf so vielen Ebenen einfach nur genial ist. Selbst die Zinkers Forschung ist wahnsinnig gut beschrieben, man wird nicht mit harten physikalischen Fakten bombardiert, sondern erfährt alles über die Daisy-Teilchen wohldosiert und niemals trocken. Sehr gut gefallen hat mir zudem auch die Zukunft, die der Autor uns schildert: Jim lebt nicht weit, jedoch einige Jahre in unserer Zukunft. Hologramme werden immer alltäglicher und bilden einen netten roten Faden, der die Frage „Was ist real?“ immer wieder aufnimmt und alles Fleischliche, die Hologramme sowie die Erscheinungen aus der Welt der Toten verknüpft. Weiterhin finden sich am Ende jedes Kapitels Szenen der früheren Bewohner des „spukenden“ Hauses, und nach und nach kommt man dem Geheimnis auf die Spur und beginnt, zu begreifen. Wenn die Puzzleteile ineinandergreifen und alles plötzlich Sinn ergibt, bildet Pierce‘ Roman ein großartiges Gesamtbild. Denn der Autor schafft es zum Ende hin tatsächlich, alle losen Fäden, die er im Laufe seines Romans aufgreift, zu verknüpfen. Auch wenn der Kopf nach der Lektüre vor lauter Fragen zum Thema „Leben“ nach dem Tod zu platzen droht, verbleibt das Gefühl der Begeisterung: für die Story, die Idee – und das Talent des Autors, der mit seinem ersten Roman direkt einen Volltreffer landet. Bitte mehr davon!



Mehr Rezensionen findet ihr auf meinem Blog: https://killmonotony.de