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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 20.10.2019

Bewegend, brutal, amüsant und zuweilen skurril

Ruth Tannenbaum
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Inhalt:

In den unruhigen Zeiten vor und während des zweiten Weltkrieges geht es im heutigen Kroatien brutal zu und her. In Zagreb nämlich, wo sich Menschen mit ganz unterschiedlichen Religionen und kulturellen ...

Inhalt:

In den unruhigen Zeiten vor und während des zweiten Weltkrieges geht es im heutigen Kroatien brutal zu und her. In Zagreb nämlich, wo sich Menschen mit ganz unterschiedlichen Religionen und kulturellen Hintergründen die Klinke in die Hand geben, ist die Stimmung angespannt, die Angst vor Hitler greift mehr und mehr um sich und wird vor allem in der jüdischen Bevölkerung immer stärker. Selbstjustiz, Bösartigkeiten, Prügeleien und andere kleine und grössere Gewaltverbrechen schüren das Misstrauen zwischen den Menschen und als die kleine Ruth Tannenbaum begleitet von ihrer Ziehmutter Amalija ein Vorsprechen für eine Rolle am Kroatischen Nationaltheater gewinnt, verändert sich das Leben der jüdischen Familie Tannenbaum von einer Sekunde auf die andere. Arrogant und ignorant machen sich die Tannenbaums immer mehr Feinde, wecken die Eifersucht in ihren Mitmenschen und verkennen die Zeichen des sich anbahnenden Völkermordes. Das geht so weit, bis die Tannenbaums beginnen, nicht nur ihre eigene Religion zu verleugnen, sondern ihren Hass auch verbal und physisch gegen ihre Religionsbrüder und -schwestern zu richten.



Meine Meinung:

Schon lange einmal wollte ich unbedingt ein Buch von Miljenko Jergović lesen und habe mit "Ruth Tannenbaum" gleich zu einem feinsinnigen, spannenden Roman mit zugleich bedrohlichen und humorvoll-bizarren Untertönen gegriffen. Es gelingt Jergović auf einzigartige Weise, die Geschichte der kleinen Ruth Tannenbaum - die übrigens vom Schicksal des Kinderstars Lea Deutsch angeregt worden ist - und ihrer Familie zugleich packend zu erzählen und ausserdem das Schicksal einer ganzen Region und deren Bewohner einfliessen zu lassen. Auch sind nur schon die Mitglieder der Familie Tannenbaum einen genaueren Blick wert. Das wären Ruths Grossvater Abraham, der den stoischen, weisen Juden gibt, ihr Vater Salomon, der unbeirrbar, ohne grosse Wellen zu schlagen und auch naiv seinen Weg geht und ihre Mutter Ivka, die mit ihrer Angst vor der leicht verrückten Nachbarin Amalija, die vor Jahren ihren Sohn verloren hat und seither eifersüchtig auf das scheinbare Familienglück der Tannenbaums schielt und trotzdem immer mehr und mehr Zeit mit Ruth verbringt, für eine humorvolle Komponente sorgt. Immer wieder aber sind es brutale Ereignisse in der kunterbunten Stadt, welche die harten Zeiten erkennen lassen und die um sich greifende Angst und das Schwinden der Menschlichkeit und Selbstkontrolle fassbar machen. Dieser Angst werden eine naive Arroganz und ein enormer, triefender Stolz gegenübergestellt, welche die Familie Tannenbaum blind machen für die Ereignisse, welche unweigerlich auf sie und alle anderen Juden Zagrebs zukommen werden.


Meine Empfehlung:

"Ruth Tannenbaum" bietet Einblicke in die damalige Theaterwelt und Vorkriegsstimmung, die Diktatur des Ante Pavelić und das Leben weiterer politisch und kulturell angesehener, geschätzter und gefürchteter Persönlichkeiten, die Jergović teilweise unter ihrem echten Namen einbindet, sowie die Foltermethoden der sich bekämpfenden Gruppierungen in Zagreb. Immer wieder besteht dieses Buch aber auch aus einem zarten Erinnern an die eigentlichen menschlichen und religiösen Werte. Brutale, fesselnde und traurige Momente, und amüsante und kritisch-poientierte Szenen und Dialoge werden zu einer vielschichtigen Chronik vereint, die definitiv nicht kalt lässt und äusserst packend geschrieben ist. Es erstaunt nicht, dass Jergović als einer der ganz grossen Erzähler unserer Zeit gilt, "Ruth Tannenbaum" ist schliesslich nur ein Zeugnis seines schriftstellerischen Geschicks und ich bin mir sicher, dass ich bald weitere seiner Werke entdecken werde und spreche für dieses Buch eine herzliche Empfehlung aus.

Veröffentlicht am 15.10.2019

Eine tiefgründige und philosophische Erzählung

Blaubart
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Inhalt:
Der Arzt Felix Schaad wird verdächtigt, seine ehemalige Frau Rosalinde Z. erdrosselt zu haben. Als Hauptbeweisstück dient eine Krawatte, welche als Tatwaffe gedient hat und zweifelsfrei Felix ...

Inhalt:
Der Arzt Felix Schaad wird verdächtigt, seine ehemalige Frau Rosalinde Z. erdrosselt zu haben. Als Hauptbeweisstück dient eine Krawatte, welche als Tatwaffe gedient hat und zweifelsfrei Felix Schaad gehört. Ausserdem hat er Rosalinde Z., mit der ihn immer noch ein freundschaftliches Verhältnis verbindet, am Tag der Tat noch besucht. Da war er allerdings nicht der Einzige, Rosalinde Z. war nämlich eine Prostituierte. Dass Felix Schaad freigesprochen wird, hat seiner Meinung nach mit dem Mangel an Beweisen zu tun, obwohl dies so nie gesagt wird. Dies lässt ihn noch einmal über den ganzen Prozess und die Verhöre mit seiner Familie, eventuellen Zeugen und seinen ehemaligen Frauen, sowie seiner momentan siebten Ehefrau nachdenken. In seinem Kopf nimmt der Prozess aber immer grössere und wichtigere Dimensionen an und das Verhör des Staatsanwaltes geht immer weiter und wird sogar so weit gesponnen, bis Felix Schaad Dinge erfährt, die er vorher noch gar nicht wusste...


Schreibstil und Handlung:
Schaads Gedanken scheinen ein Eigenleben zu entwickeln und werden so weit gesponnen, dass gedanklich sogar das Mordopfer verhört wird, was eindrücklich und auch ein wenig beängstigend wirkt. Auch wird die zunehmende Vereinsamung von Schaad und die Ächtung durch die Gesellschaft sehr eindrücklich dargestellt. Überall fühlt er sich beobachtet und seine Praxis ist fast immer leer. Neben diesen übergeordneten Erinnerungen und weiterführenden Ideen befasst sich aber Felix Schaad ganz grundsätzlich mit der Frage nach Schuld und was es eben genau heisst, nur "aus Mangel an Beweisen" frei gesprochen worden zu sein. Gibt es Menschen ohne Schuld? Und ab wann ist jemand schuldig? Und hat er doch eine gewisse Teilschuld am Tod seiner Frau, auch wenn er selber nicht der Täter war?

Meine Meinung:
Dieses Buch von Max Frisch liest sich meiner Meinung nach viel leichter als "Homo faber" oder "Montauk". Es ist zwar teilweise verwirrend, weil sich immer wieder Gedankengänge, Teile des Verhörs und Erinnerungen des Protagonisten mischen, die Geschichte kann aber auch verstanden werden, ohne dass man sehr viele Informationen über Max Frisch und sein Gesamtwerk hat. Es ist, wie der Untertitel schon sagt, eine Erzählung und diese hat einen angenehmen Sprachfluss und ist zugleich ziemlich fesselnd und teilweise sogar sehr unterhaltsam geschrieben. Aber auch in diesem Werk von Frisch ist sein unverwechselbarer Schreibstil, seine sehr objektive Erzählstimme und das Interesse an philosophischen gesellschaftlichen Fragen anzutreffen und dies auf höchstem Niveau.

Veröffentlicht am 30.08.2019

Packend und zeitlos

Der Richter
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Inhalt:
Ray und Forrest, die beiden Söhne des schwer kranken Richters Atlee, werden von ihm zu sich nach Hause eingeladen, um gemeinsam das Testament zu besprechen. Beide haben sich vor langer Zeit mit ...

Inhalt:
Ray und Forrest, die beiden Söhne des schwer kranken Richters Atlee, werden von ihm zu sich nach Hause eingeladen, um gemeinsam das Testament zu besprechen. Beide haben sich vor langer Zeit mit ihrem Vater zerstritten. Ray, weil er sich nicht an die Pläne des Richters gehalten und nicht in dessen Kanzlei zu arbeiten begonnen hat und Forrest, weil er mit seiner langjährigen Alkohol- und Drogensucht den Ruf des Richters fast zerstört und dessen ganzes Geld verbraucht hat. Beiden Söhnen hat Richter Atlee nie verziehen und weil beide wissen, dass es mit ihrem Vater wohl bald zu Ende gehen wird, machen sie sich auf den Weg zu ihm. Ray betritt das Haus zuerst und findet seinen Vater tot auf der Couch liegend. Er liest das Testament durch und schaut sich dann ein wenig im Haus um. Zu seinem Entsetzen und seiner Überraschung findet er Geld, sehr viel Geld. Nur merkt er schon bald, dass er nicht der einzige ist, der von dem Geld weiss. Jemand versucht, ins Haus einzubrechen, jemand scheint ihn zu verfolgen und Ray bekommt Drohbriefe. Und bevor er noch Zeit hat, einen Entschluss zu fassen, befindet er sich bereits auf der Flucht. Auf der Flucht vor jemandem, den er nicht kennt, der ihn aber ganz genau zu kennen scheint.

Meine Meinung:
Die Süddeutsche Zeitung sagt über John Grisham: "Warum er so viel besser ist als die Anderen, bleibt sein Geheimnis."
Ich habe eine mögliche Erklärung gefunden, warum er so viel besser ist:
John Grishams Bücher heben sich stark vom teilweise sehr blutig und brutal gehaltenen Mainstream ab. Anstelle von Brutalität treten psychologisches Geschick, genau recherchierte Hintergründe und eine präzise Sprache. Dazu gehört sicher auch, dass er aus mehr als zehnjähriger Erfahrung als Anwalt berichtet. Er beschreibt in erster Linie nicht irgendwelche Gräueltaten, sondern erstellt Psychogramme von Tätern, Opfern und vor allem von Verfolgten und dies alles in einem ausserordentlich durchdachten und sinnvollen Kontext, der sich dem Leser erst am Ende der jeweiligen Geschichte erschliesst. Dies alles macht John Grisham zu einem Autor, welcher sehr zeitnah und zugleich zeitlos schreibt und ich werde auf jeden Fall weitere Bücher von ihm kaufen und lesen.

Veröffentlicht am 17.07.2019

Märchenhaft, fesselnd und romantisch

Der Märchenerzähler
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Inhalt:
Abel ist ganz anders als alle anderen Jungs in seinem Jahrgang. Er ist still, traurig und geheimnisvoll. Und er verkauft auf dem Schulhof Drogen. Aber das ist es nicht, was Anna so fasziniert. ...

Inhalt:
Abel ist ganz anders als alle anderen Jungs in seinem Jahrgang. Er ist still, traurig und geheimnisvoll. Und er verkauft auf dem Schulhof Drogen. Aber das ist es nicht, was Anna so fasziniert. Vielmehr hat Abel eine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die so gross und mächtig ist, dass sie über Leben und Tod entscheidet. Eine Geschichte, die zugleich Gefangenschaft und Erlösung bedeutet, Liebe und Hass. Und genau dieser Geschichte will Anna auf den Grund gehen und so kommt es, dass nicht nur Abels Schwester Micha sondern auch Anna dieser Geschichte folgen und in den Bann der märchenhaften Worte geraten.

Meine Meinung:
Es dauerte nicht lange, und das Buch hatte mich gefesselt. Besonders die melancholische und manchmal sehr düstere Grundstimmung hat es mir angetan. Anna lernt Abel und dessen Schwester sowie deren gemeinsame Familiengeschichte besser kennen, was zwar manchmal ein wenig aufgesetzt wirkt, aber insgesamt doch realistisch scheint. Sie erkennt nämlich, wie es ist, wenn man wirklich ganz alleine ist und sich nur noch an einer Geschichte festklammern kann. Sie sieht, wie sehr sich gewisse Menschen ihr Leben schön reden und in ein Märchen verpacken müssen. Dieses Leben ist ihr, welche in einem finanziell starken und gut behüteten Elternhaus aufgewachsen ist, eher fremd. Dies alles ist natürlich schon ein wenig stereotyp dargestellt, weil Anna aber versucht, zu helfen und zu verstehen, verliert sie immer mehr den Bezug zu ihrer eigenen Familie und ihren Freundinnen.

Märchen oder Wirklichkeit?
Erst als Anna schon zu viel weiss, als sie schon Gefühle für Abel entwickelt und dessen Schwester ins Herz geschlossen hat, realisiert sie, dass diese Erzählung mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat, als sie alle denken. Dieser starke Sog, in den Anna gerät und die gefährlichen Situationen, in die sie sich begibt, lassen sich irgendwann auch mit Märchen nicht mehr schönreden, was meiner Meinung nach vom Schreibstil toll dargestellt wird.

Meine Empfehlung:
Am Anfang dachte ich, dass dieses Buch eine "ganz normale" und immer gleich ablaufende Geschichte über Teenager, das Erwachsenwerden und die erste grosse Liebe enthalten würde. Nach aber etwa fünfzig Seiten hatte mich die Geschichte von Anna und Abel so sehr gefesselt, dass ich das Buch in einem Zug las. Auch wenn gewisse Dialoge manchmal etwas zu gestelzt oder frühreif daher kamen, so haben mich das märchenhafte und die wunderschöne und sehr gut passende Wortwahl sowie der flüssige Schreibstil vollständig überzeugt. Ein sehr reifes und ehrliches Jugendbuch, welches verzaubert und fesselt.

Veröffentlicht am 30.06.2019

Bewegend und sprachgewaltig

Fluchtstücke
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Inhalt:
Was genau stellt dieses Buch dar? Wie es der Titel vielleicht schon zu umschreiben versucht, handelt es sich bei "Fluchtstücke" um eine Sammlung loser Enden, die zu einer ganzen Geschichte zusammengefügt ...

Inhalt:
Was genau stellt dieses Buch dar? Wie es der Titel vielleicht schon zu umschreiben versucht, handelt es sich bei "Fluchtstücke" um eine Sammlung loser Enden, die zu einer ganzen Geschichte zusammengefügt werden. Flüchtige Gedanken, einzelne Erinnerungsfetzen, Erzählungen, Zitate und Fundstücke. Ob nun Jakob in den ersten, grausam geschilderten Szenen von seinem Überleben und seiner Flucht erzählt, ob er später mit seiner zweiten Ehefrau auf der Suche nach Wurzeln, Antworten und Heimat an die Schauplätze seiner Kindheit zurückkehrt, oder ob Jakobs Freund Ben, dessen Eltern den Holocaust nicht überlebten, sich auf die Suche nach Jakobs Dichtungen macht und sich mit ergreifenden Worten an seinen Freund wendet, dieses Buch bewegt, fesselt, schockiert und umhüllt die Leserschaft mit einer zarten, poetischen, brutalen, kraftvollen Sprache.

Lesegefühl:
Zuerst fiel es mir nicht sehr leicht, die Figuren und ihre Geschichten auseinanderzuhalten, weil die einzelnen Fäden dieses Geflechts so lose zusammengefügt werden, dass immer ein Abschnitt in den anderen übergeht und die Erinnerungen sich sozusagen stetig überlappen und ergänzen. Da werden einerseits äusserst bedrückende und schockierende Szenen mit nüchternen Worten beschrieben und gleichzeitig ist der Rest der Handlung so poetisch und manchmal fast schon schwülstig aufgebaut, dass ich einerseits sehr angetan war von der Schönheit dieses Buches, andererseits aber auch immer wieder aufgerüttelt von der ganzen Brutalität.

Schreibstil und Handlung:
Es lässt sich bei fast jedem Satz (und die meisten davon könnte man sich entweder an den Kühlschrank kleben, in ein Achtsamkeitstagebuch schreiben oder an den Badezimmerspiegel hängen) erkennen, dass die Autorin vor allem Gedichte schreibt. So bildlich und reich an Metaphern und Ausschmückungen der Stil aber auch ist, er wirkt nur ganz selten überladen und meistens einfach nur wunderschön. Dies beisst sich leider ein wenig mit der wirklich tragischen Geschichte, die erzählt wird und hat in mir sehr ambivalente Gefühle für die ganze Handlung, aber auch für die grundsätzliche Notwendigkeit des Erzählens solcher Geschichten geweckt. Was hat sprachliche Schönheit in einer Geschichte über Tod, Schmerz, Verlust, Betrug und rohe Gewalt zu suchen? Und wie kann es überhaupt sein, dass man es liebt, dieses Buch zu lesen, obwohl es zuweilen so grausame Geschichten erzählt? Ich werde keine abschliessenden Antworten auf diese Fragen finden und dies ist wohl auch nicht nötig. Denn wenn das Buch doch auch schwülstig wirken kann, so hat die Schönheit der Sprache zumindest den Zweck erfüllt, dass man mittels all der erzählerischen Bilder noch genauer vor sich hat, was überhaupt beschrieben wird und dass man das Buch vor allem auch unbedingt lesen und trotz allem geniessen und nachher auch darüber sprechen will.

Meine Empfehlung:
Dieses Buch wird mich sicher noch länger beschäftigen und es ist gut, dass ich erst morgen wieder zu einem Buch greifen werde, bis dann hat sich der Sturm in mir sicher sicher ein wenig gelegt. Aber das ist eigentlich ein positiver Sturm, weil er aufwühlt, aufweckt und zum Austausch anregt, weshalb ich euch dieses manchmal zart, manchmal kraftvoll und insgesamt sehr poetisch erzählte Buch sehr gerne ans Herz legen möchte.