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Veröffentlicht am 22.10.2019

Herkunft als Abenteuer

HERKUNFT
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Der neue Roman von Saša Stanišić ist eine sympathische Collage aus Geschichten um seine Geburtsstadt Višegrad, die Flucht seiner Eltern, das Ankommen in Deutschland und Heidelberg und immer wieder die ...

Der neue Roman von Saša Stanišić ist eine sympathische Collage aus Geschichten um seine Geburtsstadt Višegrad, die Flucht seiner Eltern, das Ankommen in Deutschland und Heidelberg und immer wieder die Konfrontation mit den Fragen an seine Großmutter im Herkunftsland und den Altersgenossen im Ankunftsland.

Sein poetologisches Programm ist Erzählen, um zu erzählen: „Diese Geschichte beginnt mit dem Befeuern der Welt durch das Addieren von Geschichten.“ Das führt zu einer fast märchenhaften Fülle an Geschichten, die sich nicht nur übereinander stapeln, sondern auch verbreitern, denn „[o]hne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens.“ (S. 37) Stanišić stellt sich der Frage, was Herkunft sei, also, indem er um sie herumkreist und sich ihr mal nähert, mal von ihr entfernt. Das ist oft witzig, aber auch oft ermüdend. Die Gleichförmigkeit der aufeinandergestapelten Geschichten ermüdet, auch wenn sich der Blick durch die sich teilweise kongruent abdeckenden, teilweise überlappenden oder freilassenden „Geschichtenschichten“ lohnt, weil sich am Ende verdichtet: Herkunft ist die Summe der Geschichten, die von der eigenen Familie (und hier vor allem von den Großmüttern als Übermüttern schlechthin) weitergegeben werden - zum Teil als Sage, zum Teil als Erlebtes, zum Teil als „Abenteuer“.

Dass Herkunft und Identität auch immer Abenteuer sind, erst recht wenn man aus einem Bürgerkrieg in die Fremde gezogen ist, ist dem Autor wichtig. So wichtig, dass er das Ende seiner Geschichtensammlung als Soloabenteuer im Stile der D&D- oder DSA-Abenteuerbücher gestaltet.

Manche der Geschichten wirken, als wären sie bereits für den mündlichen Vortrag konzipiert, und für mein Empfinden werden die auf das Poetry-Slam-Format zur Pointe gebürsteten Episoden dadurch geschwächt.

Unter dem Strich lispelt mir Hape Kerkeling mit Marcel Reich-Ranickis Stimme ins Ohr: „Ist das überhaupt ein Roman?“ Ich glaube nein. Aber es ist als Näherungswerk zur Herkunft ein sympathisches und lesbares Stück Literatur.

Veröffentlicht am 24.09.2019

„Hier ist alles machismo“ (S. 114)

Der Honorarkonsul
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„Der Honorarkonsul“ von Graham Greene kann mit dem „Dritten Mann“ nicht mithalten, beweist aber, warum Greene zu den großen gesellschaftskritischen Erzählern des 20. Jahrhunderts gehörte. Er packte in ...

„Der Honorarkonsul“ von Graham Greene kann mit dem „Dritten Mann“ nicht mithalten, beweist aber, warum Greene zu den großen gesellschaftskritischen Erzählern des 20. Jahrhunderts gehörte. Er packte in seinen Romanen heiße politische Themen seiner Zeit an und verwandelte sie in – zum Teil sogar spannende – Literatur. Vielleicht ist John le Carré sein legitimer Nachfolger.

Charly Fortnum ist der englische Honorarkonsul in irgendeiner argentinischen Stadt an der Grenze zu Paraguay – ein für das Foreign Office Ihrer Majestät der Queen völlig unbedeutendes Lichtlein du überdies menschlich ein „jämmerlicher Niemand“ (S. 180). Dieser bedauernswerte Säufer wird von paraguayischen Partisanen aus Versehen statt des amerikanischen Botschafters entführt und soll nun als Geisel dennoch erpresserischen Ertrag bringen. Der Roman lässt keinen Zweifel aufkommen, wie aussichtsreich dieses Unterfangen sein würde. In der gleichen Stadt wohnt auch Dr. Eduarde Plarr, Frucht aus englisch-paraguayischer Ehe, Gelegenheits-Gigolo für die Damen der Provinz und sowohl verwandtschaftlich als auch freundschaftlich mit den Partisanen und Gegnern des paraguayischen Diktators Alfredo Stroessner verbunden.

Der Roman folgt den Handlungen dieser beiden Männer, die verbunden sind durch eine Frau, nämlich Fortnums Ehefrau Clara. Ex-Hure, Plarrs Geliebte und Zeugin des südamerikanischen „machismo“, dessen unseligen Handlungsanweisungen, Haltungen und Fehlverhalten des männlichen Teils der südamerikanischen Bevölkerung der Handlung das Dramatische geben.

Aufgaben? Erst denken, dann handeln? Ehrenvoller Rückzug? Gute Ratschläge von Alten, Schwachen oder gar Frauen? Das alles gibt es nicht mit dem Männlichkeitsideal, das auf dem gesamten Kontinent bereits mit der Muttermilch verabreicht wird. „Hier ist machismo gleichbedeutend mit Leben. (…) Ohne machismo ist ein Mann tot.“ (S. 114).

Greene entwickelt und verwickelt seinen Roman um diese Grundhaltung seines Personals sowie um die ambivalente Position Dr. Plarrs zwischen allen Fronten. Die Spannung entsteht, weil der machismo den Männern Dummheiten diktiert – erfunden wurde er wahrscheinlich von „einer Bande von Raufbolden wie Pizzaro oder Cortés“ (S. 291) – und weil Greene es versteht, Dr. Plarr und Fortnum vor widersprüchliche Handlungsoptionen zu stellen, an denen sie entweder scheitern oder wachsen können.

Das andere, den Kontinent prägende Thema ist die Glaubensfrage, also wie indigener Glaube, das barmherzige Christentum und die Amtskirche sich im Volk vereinigen lassen - oder nicht. Der gefallene Priester, der als Partisan nicht nur der Kirche,. sondern auch der Staatlichkeit abhanden gekommen ist, bringt die Problematik in den Roman, die zwar wichtig, aber auch redundant und ermüdend ist.
Mir hat gefallen, dass „Der Honorarkonsul“ mit spannender Handlung einen Winkel der der südamerikanischen Seele ausleuchtet, wenn auch Längen entstehen.

Veröffentlicht am 24.09.2019

Zwei Brüder - zwei Romane

Brüder
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Jackie Thomaes Roman „Brüder“ ist auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019, und ich frage mich warum. Die Rezension der Süddeutschen Zeitung begrüßt sowohl den „beiläufigen“ Stil als auch die ...

Jackie Thomaes Roman „Brüder“ ist auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019, und ich frage mich warum. Die Rezension der Süddeutschen Zeitung begrüßt sowohl den „beiläufigen“ Stil als auch die Tatsache, dass ‚Hautfarbe‘ im Roman zwar Hauptthema sei, aber nur indirekt angesprochen werde.

Beides sind für mich die Gründe, weshalb mir der Roman nicht preiswürdig erscheint. Thomae erzählt die Lebensgeschichten der beiden titelgebenden „Brüder“, die freilich voneinander nichts wissen. Beide 1970 vom selben Vater „beiläufig“ gezeugt, wachsen sie in der DDR auf, verfolgen unterschiedliche Lebenswege und finden zu sich – oder eben nicht. Mick und Gabriel wachsen vaterlos auf, Gabriel sogar elternlos, und kämpfen sich durch ihr Leben wie ich durch die Seiten. Mick trudelt durch die Möglichkeiten, Chancen und das Berliner Nachtleben, um nach dem persönlichen und beruflichen Scheitern um 2000 einen Neuanfang machen zu können. Gabriel hingegen steigt als Architekt linear auf, strauchelt erst spät durch einen Fehltritt und richtet einen Scherbenhaufen an, den er als sein Leben betrachten muss.

Die Lebenswege der Brüder werden völlig getrennt voneinander erzählt. Sie sind verbunden nur durch denselben Vater, formal auch im Roman, denn Idris‘ Intermezzo bildet das Scharnier beider Romanteile.

Der beiläufige Ton von Micks Geschichte hat etwas Chronikales, Unbeteiligtes, das eine enorme Distanz zu Figuren und Geschehen erzeugt. Plötzlich wechselt der auktoriale Erzähler aber die Figur und guckt einem anderen Menschen in den Kopf – ein notwendiger Perspektivwechsel in eines anderen Menschen inneren Monolog, weil die Erzählform es sonst nicht erlaubt hätte, aus Handlungen und Äußerungen Micks ausreichend Stoffliches zu ziehen – und eine verwundbare Autorinentscheidung, die es sich damit zu leicht macht.

Als ich endlich mit Mick warm geworden war – da hatten wir ihn auch schon zwanzig und mehr Jahre begleitet –, stolpern wir über Idris‘ Intermezzo in Gabriels Geschichte. Hier wechselt die Erzählposition zu zwei Ich-Erzählern, nämlich Gabriel und seine Frau Fleur. Nicht nur deshalb wirkt der zweite Teil des Romans wie eine eigenständige Geschichte. Hier werden zwar Gedanken, Handlungen und Äußerungen der Figuren besser motiviert, aber das über die Buchseiten Hinausweisende fehlt mir hier auch.

Denn die indirekte Form, in der die Hautfarbe der beiden Brüder immer mal wieder, aber nie leitend in die Geschichte Eingang findet, erschwert es sehr, das behaupteten Hauptthema auch als solches zu erkennen. Ich für meinen Teil halte beide Geschichten für genauso erzählbar, wenn die Brüder keine andersgeartete Hautschattierung aufweisen würden. Die Lebensläufe der Brüder sind zudem so verschieden, dass sie sich nicht vergleichen lassen, nicht einmal als Gegenentwürfe. Wenn das aber so auf mich wirkt, fehlt das Tertium comparationis, etwa die Hautfarbe. Dann erscheint mir erzählerisch schon eher bedeutsam, wie zwei intelligente junge Männer mit ihrer DDR-Herkunft in die Welt ziehen.

Kurzum: Mit Bedeutung schwanger erschien mir der Roman während der Lektüre nicht, wohl aber zu lang und zu „beiläufig“. Das macht ihn noch lange nicht zu einem schlechten. Aber preiswürdig?

Veröffentlicht am 13.08.2019

Bleibt leider unter den Möglichkeiten des eigenen Arrangements

Das Buch der Spiegel
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Raffiniert: E.O. Chirovici weiß genau, dass man den weißen Hai nicht in den ersten Szenen zeigen darf, sondern ihn sich für einen wohl kalkulierten späteren Zeitpunkt aufheben muss. Bis dahin sieht man ...

Raffiniert: E.O. Chirovici weiß genau, dass man den weißen Hai nicht in den ersten Szenen zeigen darf, sondern ihn sich für einen wohl kalkulierten späteren Zeitpunkt aufheben muss. Bis dahin sieht man nur die Rückenflosse und lässt sich von der Musik in immer schnellerem Tempo jagen. In „Das Buch der Spiegel“ ist der weiße Hai das Buch von Richard Flynn, in dem er mit seinen Weggefährten abrechnen will, die Flynn vor 25 Jahren umgaben, als der bekannte Psychologieprofessor Joseph Wieder ermordet wurde. Wer ihn ermordete? Wird nicht gesagt, nur versprochen. Warum? Musste selber raten! Wer noch? Da kämen so ein paar in Betracht, das Haifischgrinsen ist vielen zuzutrauen. Was Flynn selbst investiert hat? Erfährste nur, wenn das Manuskript zu Ende liest.

Eben das würde der Literaturagent Peter Katz gern, doch Teil 2 des Manuskripts fehlt, und als Katz zu Flynn fährt, ist dieser just verstorben. Jede Menge Haifischflossen … Die Zahl der Verdächtigen ist groß, sinistere Vergangenheiten lauern hinter jeder Ecke. Das Opfer Joseph Wieder ist womöglich in militärische Psycho-Experimente verwickelt, es geht um Gedächtnis und die Manipulation von Erinnerung - alles geeignet, um jede Menge doppelter Böden in die Handlung einzuziehen. Katz ist ein guter Ermittler und spürt den Fakten im Romanmanuskript nach, aber dann …

Mich hat Chirovicis kriminalistischer Roman am Ende enttäuscht, weil mir ab der Hälfte, also kurz nachdem die Faktenlage zum Flynn’schen Romanfragment zusammengetragen worden war, das ganze Konstrukt ins Konventionelle abzurutschen schien. Das ist umso bedauerlicher, weil mit Jospeh Wieder und seiner Meisterschülerin Laura Baines zwei wirklich zwielichtige Figuren eingeführt worden sind, die zu durchschauen man sich so richtig vornimmt - von wegen Erinnerung manipulieren und im Hirn herumpfuschen und ähnlichen Möglichkeiten: Dem „Spiegel“ aus dem Romantitel zu seinem Recht verhelfen, die Handlung hin- und herzuwerfen und die Sache mal richtigrum, mal spiegelverkehrt usf. darzustellen. Mir erging es mit dem Roman wie Peter Katz: Es war so lange fesselnd, wie das Ende des Manuskripts (der weiße Hai) nicht sichtbar war. Aber je konkreter alles wurde, desto mehr schrumpfte der weiße Hai zur Makrele.

Nichtdestotrotz imponiert mir der Aufbau des Romans, in dem drei Ermittler zu Wort kommen und in dem die eigentliche Geschichte sich nur in feinen Schichten entblättert. Vielleicht bin ich auch selbst schuld, dass ich mir nach dem Entrée in das Arrangement des Romans einen viel zu großen Hai mit viel zu scharfen Zähnen vorgestellt habe und deshalb enttäuscht war. Viel eher aber nehme ich an, dass ich richtig liege, wenn ich annehme, dass Chirovici deutlich hinter seinen Möglichkeiten geblieben ist. Schade.

Veröffentlicht am 13.08.2019

Hochstapler und Spion

Ein blendender Spion
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Die Geschichte des Spions Magnus Pym ist womöglich der anspruchsvollste Roman John le Carrés, den ich bisher gelesen habe. Pym ist der Sohn des Mythomanen Richard „Rick“ Pym und hat selbst ein ambivalentes ...

Die Geschichte des Spions Magnus Pym ist womöglich der anspruchsvollste Roman John le Carrés, den ich bisher gelesen habe. Pym ist der Sohn des Mythomanen Richard „Rick“ Pym und hat selbst ein ambivalentes Verhältnis zur Aufrichtigkeit und zur Lüge erworben. Dass diese Herkunft dem Beruf des Spions besonders förderlich ist, gehört zu den vielen Pointen, die dieser distanziert-ironische Text bereit hält.

Kunstvoll verschlungen mäandert die Erzählung durch die Biographien von Pym und Rick, verweilt in vielen Krümmungen bei der Betrachtung sowohl des allgemein Menschlichen wie auch der menschenfeindlichen Details des Agentenberufs. Das Autobiographische des Romans entnehme ich den Texten über den „Blendenden Spion“, es ist freilich völlig unerheblich zum Verständnis des Textes.

Einen Agententhriller hat le Carrés wieder nicht abgeliefert, sondern einen abgewogenen, leider oft weitschweifigen literarischen Roman, durch den man sich bisweilen beißen muss. Im Kern geht es la Carré um die Beziehungen zwischen Vater und Sohn, zwischen Wahrheit und Lüge, Loyalität und Verrat sowie um die Frage, wie sich Heimat definiert.

Gut, aber für meine n Geschmack zu langsam.