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Veröffentlicht am 17.05.2020

Mythos Timbuktu und der Kampf um altes Wissen

Die Bücherschmuggler von Timbuktu
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Bei Charlie Englishs Buch "Die Bücherschmuggler von Timbuktu" kommen gleich mehrere Arten von Lesern auf ihre Kosten - die historisch oder geografisch Interessierten, die Anhänger einer gut erzählten "David ...

Bei Charlie Englishs Buch "Die Bücherschmuggler von Timbuktu" kommen gleich mehrere Arten von Lesern auf ihre Kosten - die historisch oder geografisch Interessierten, die Anhänger einer gut erzählten "David gegen Goliath"-Geschichte und natürlich all jene, in deren Ohren schon der Klang des Ortsnamens Timbuktu magisch-verheißungsvoll klingt, ähnlich wie Sansibar, Samarkand oder Buchara. Um die Geschichte der sagenumwobenen Oasenstadt geht es auch, um Mythos und Realität, aber auch um den - lange Zeit ignoranten und selbstherrlichen - europäischen Blick auf Afrika, um die Macht von Worten und Wissen und um die Konflikte, die den Wüstenstaat Mali in der Gegenwart prägen.

Charlie English, lange Leiter des Auslandsressort des "Guardian", Mitglied der Royal Geographic Society und seit seinem 19. Lebensjahr immer wieder unterwegs in Afrika, verwebt Geschichte und Geschichten, journalistisches Handwerk und Storytelling. Sein Buch über die Bücherschmuggler, jene Bibliothekare und Gelehrten aus Timbuktu, die während der Besetzung der Stadt durch Islamisten und Milizen das Kulturgut ihrer Stadt und ihres Landes schützten, die Bibliotheken und Schriften, die den eigentlichen geistigen Reichtum der Stadt ausmachten.

Entdecker und Eroberer hatten in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder vergeblich und oft mit tödlichem Ausgang den Weg nach Timbuktu gesucht. Die Handelsstadt zwischen Niger und Sahara sollte sagenhaften Reichtum enthalten. Dächer aus Gold, ein El Dorado in Afrika, so die Hoffnung derjenigen, die als erste ihren Fuß in die Stadt setzen wollen. Ein Teil des Buches behandelt die Geschichte dieses Mythos, der Expeditionen und auch des Blickes auf Afrika, das die europäischen Mächte als Spielball ihrer eigenen Interessen sahen.

Der deutsche Afrikaforscher Heinrich Barth, der als einer der ersten Europäer tatsächlich Timbuktu erreichte, fand dort eine ganz andere Art von Reichtum: Schriften und Chroniken, die von afrikanischen Königreichen berichteten, die Chronik einer afrikanischen Geschichte, Rechtssprechung, Diplomatie - Dokumentation all dessen, was den Afrikanern von den Europäern damals abgesprochen wurde. Afrika hatte sozusagen tabula rasa zu sein - ein geschichtsloser Kontinent, dem erst die Weißen ihren Stempel aufdrückten. Die Manuskripte von Timbuktu waren der Gegenbeweis.

Vielleicht ist gerade dieser Exkurs in die Vergangenheit wichtig, um zu erklären, warum die Bibliotheken von Timbuktu, die auch in den alteingesessenen Familien von Generation zu Generation weitergegebenen Schriftrollen, den Bibliothekaren der Gegenwart so viel bedeuteten, dass sie den Islamisten trotzten und große Risiken auf sich nahmen. Denn so spannend es ist, über die Forschungsreisen und ihre teils exzentrischen, meist aber wagemutigen Persönlichkeiten zu lesen, ist es doch der stille Widerstand der Gelehrten, der hier fasziniert.

So wie einst die "Entdecker" afrikanische Reiche auslöschten, ihre Kultur und Tradition negierten und die Menschen, die sie vorfanden, als Rohstoff ansahen, versuchten auch die Kämpfer von AQUIM die Geschichte Timbuktus und des Nordens von Mali zu überschreiben - mit der Einführung der Scharia, mit der Zerstörung der Mausoleen, mit der brutalen Unterdrückung all dessen, was sie als haram, als unrein und unislamisch ansahen. Dass die alten Manuskripte als nächstes auf der Liste stehen könnten, ließ die Bibliothekare zu Bücherschmugglern werden: Die Manuskripte wurden zunächst in Privathäusern versteckt, schließlich durch die Wüste oder über den Fluss in die Hauptstadt Bamako geschmuggelt.

Eine solche Widerstandsorganisation erinnert ein bißchen an "Oneg Szabat" um Emanuel Ringelblum, den Archivar des Warschauer Ghettos: Völlig unmartialische Menschen, die nicht mit dem Gewehr kämpfen, sondern um den Erhalt von Wissen, die inmitten der Zerstörung und Gewalt noch dokumentieren.

Die Geschichte des Schmuggels, der zeitweise als Wettlauf gegen die Zeit erscheint, liest sich spannend wie ein Krimi - auch wenn am Ende Fragen aufkommen über die tatsächliche Zahl der Dokumente, über mögliche Übertreibungen oder wie groß die Gefahr für die Dokumente überhaupt je war. "Jeder hat seine eigene Version", sagt einer der Protagonisten, als er mit diesen Fragen konfrontiert wird. Gab es persönliche Bereicherungen, wurden Zahlen übertrieben, um ausländische Spendengelder locker zu machen? Manche Fragen bleiben unbeantwortet. Aber den Spirit, Bücher vor der Vernichtung zu bewahren, wird jeder Bücherfreund zu schätzen wissen. Klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 12.09.2019

Poesie des Marschlands und ein starkes Mädchen

Der Gesang der Flusskrebse
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Delia Owens hat einen großen Wurf gestartet mit ihrem Buch "der Gesang der Flusskrebse". Ihr Buch ist sowohl eine Coming of Age-Story, Außenseiterstudie, Justizdrama und poetische Landschafts- und Naturbeschreibungen. ...

Delia Owens hat einen großen Wurf gestartet mit ihrem Buch "der Gesang der Flusskrebse". Ihr Buch ist sowohl eine Coming of Age-Story, Außenseiterstudie, Justizdrama und poetische Landschafts- und Naturbeschreibungen. Das ist viel. Das könnte ziemlich leicht ziemlich daneben gehen oder sentimental-kitschig geraten. Zum ausgesprochenen Gewinn für die Leser tut es das aber nicht. Statt dessen lässt das Buch nicht nur am Lebensweg einer faszinierenden Frauenfigur teilhaben, die sich in widrigsten Verhältnissen behauptet, bietet spannende Unterhaltung und zugleich faszinierende Einblicke in die Natur des Marschlandes von North Carolina.

Möglicherweise gibt es davon noch mehr, als ich mitbekommen hatte denn ich habe den "Gesang der Flusskrebse" in der Hörbuch-Version kennengelernt, wobei die Sprecherin Luise Helm mit ihrer Interpretation des Textes es eindrucksvoll geschafft hat, ein Kopfkino loszutreten und dem Buch buchstäblich eine faszinierende Stimme zu geben.

Sechs Jahre alt ist Kya Clark, als der Leser/Hörer sie kennenlernt - und die Umstände ihres Lebens könnten kaum schwieriger sein. Sie ist das jüngste Kinde einer Familie in einer Hütte im Marschland von Norrth-Carolina, die marginalisiert als "Leute aus dem Sumpf" gelten, gesellschaftliche Außenseiter des nahegelegenen Städtchens. Die Mutter, eine künstlerisch begabte Südstaatenschönheit, stammt wohl aus einer "guten" Familie. Doch sie endete in einer Hütte in der Wildnis, an der Seite eines prügelnden Säufers, flieht schließlich vor der häuslichen Gewalt. Die älteren Geschwister Kyas suchen ebenfalls so schnell wie möglich ihr Heil weit weg von dem prügelnden Vater. Kya bleibt alleine mit dem Mann zurück, der sie meist ihrem Schicksal überlässt.

Ein wenig erinnert das barfüßige Mädchen in der Latzhose an Scout aus Harper Lees "Wer die Nachtigall stört" - aufgeweckt, mit einem offenen Blick, voller Fragn. Doch wo Scout den Rückhalt ihres Vaters und ihres Bruders weiß, ist Kya buchstäblich verlassen und allein. Die Schule besucht sie nur einen Tag lang - verlacht und verhöhnt will sie mit den Menschen der Stadt möglichst wenig zu tun haben. Als irgendwann auch der Vater verschwunden ist, erweist sich Kya als wahre Überlebenskünstlerin. Mit de Verkauf von Muscheln und geräucherten Fischen finanziert sie das wenige, was sie zum Leben braucht, führt erfolgreich ein Leben unter den Radar der Behörden, die sich für das verwildernde, vernachlässigte Kind interessieren könnten.

Doch der Preis ist Einsamkeit, Kyas Freunde sind Möwen und Reiher, fasziniert von der Natur um sie herum wird sie zu einer exzellenten Beobachterin. Ihre einzigen Freunde sind das schwarze Ehepaar Jumpin und Mabel, am ehesten Elternersatz, aber in der Südstaatengesellschaft der 50-er Jahre angesichts der Rassentrennung nicht in der Lage, sich so um das Mädchen zu kümmern, wie sie es gerne würden. Und dann ist da noch Tate, der Sohn eines Krabbenfischers, der mit Kya die Liebe zur Natur teilt und die erste Liebe des menschenscheuen Mädchens wird.

Während Kya aufwächst, erinnert sie mich an die von Jodie Foster dargestellte Filmfigur "Nell" - ein Mädchen in völliger Isolation. Doch Kya ist sich ihrer Einsamkeit bewusst, leidet darunter., ebenso wie unter ihrer Ablehnung als "Marschmädchen" Als Tate zum Studium die Stadt verlässt und sich nicht wieder bei ihr meldet, muss die junge Frau die nächste Enttäuschung verkraften. Kurz glaubt sie an eine Zukunft mit Chase, dem örtlichen Footballstar. Doch der sieht das "Marschmädchen" als sein exotisches Vergrnügen - geheiratet wird standesgemäß. Als Chase Leiche gefunden wird, haben die Ermittler Kya im Blick. Im Fall einer Verurteilung droht ihr die Todesstrafe. Ist das "Marschmädchen" eine Killerin?

Delia Owens schafft es, den Spannungsbogen immer wieder neu anzulegen, den Leser/Hörer zu Mutmaßungen zu bewegen. Doch so unterhaltsam- spannend das auch ist - die wahre Stärke dieses Romans sind die Beschreibungen der Landschaft, die Stimmung zwischen Morgendämmerung und Nacht, das Leben und der Überlebenskampf der Natur, die zur wahren Lehrerin der jugen Kya wird, ihr Auge schärft und sie zu einer "natürlichen" Naturforscherin macht. Stellenweise wird Kya dabei zur Superfrau stilisiert, was dann doch ein bißchen zu viel des Guten ist. Doch das ändert nichts an dem positiven Gesamtweindruck dieses Buchs, dem man viele Leser (oder eben Hörer in der wirklich hörenswerten Audioversion mit einer perfekt zu dem Text passenden Stimme der Sprecherin) wünscht. Eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis die Verfilmung dieses ausgesprochen leinwandtauglichen Romans anstehen dürfte.

Veröffentlicht am 16.04.2024

Die Rächerin aus dem Stetl

Fannys Rache
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Emanzipationsgeschichte, Roadtrip, spannende historische Geschichte - "Fannys Rache" von Yaniv Iczkovits ist vieles und wirkt mitunter wie eine Fusion gewaltgeladener Tarrantino-Filme mit den Geschichten ...

Emanzipationsgeschichte, Roadtrip, spannende historische Geschichte - "Fannys Rache" von Yaniv Iczkovits ist vieles und wirkt mitunter wie eine Fusion gewaltgeladener Tarrantino-Filme mit den Geschichten von Isaak Bashevi Singer. Der israelische Schriftsteller, von Haus aus eigentlich Philiosoph, schickt seine Leser*innen zusammen mit Protagonistin Fanny auf einen Parforceritt durch das zaristische Russland - etwa zur gleichen Zeit, in der "Anatevka" spielt, aber mit weniger Gesang und mehr Blut.

Ein solcher Roman von einem israelischen Autor ist um so erstaunlicher, als die Stetl-Kultur und selbst das Jiddische lange bei vielen Israelis geradezu verpönt waren: Zu sehr wurde beides mit Ghetto-Dasein, Opferrollen und Hinnehmen von Gewalt und Leid in Verbindung gebracht, zu wenig passten die Bilder frommer Juden mit Schläfenlocken, Torahstudium und Schicksalsergebenheit in eine Gesellschaft, die auf Selbstbehauptung setzt und Parallelwelten der Ultraorthodoxen wie etwa in Vierteln wie Mea Shearim ablehnt.

Aber dann: schicksalsergeben ist Fanny Kajsman nun wirklich nicht, auch wenn sie in mancherlei Hinsicht dem Bild einer frommen jüdischen Frau aus einem osteuropäischen Stetl zu entsprechen scheint: Sie befolgt die religiösen Gebote, ist mit 25 Jahren bereits fünffache Mutter und widmet sich ganz Haushalt und Familie. Allerdings lebt sie mit ihrer Familie nicht im Stetl, sondern auf einem Dorf polnischer Gojim, hat sogar deren Sprache gelernt - das kommt vielen der alten Nachbarn nicht richtig vor. Und als sie noch Fanny Schechter hieß und zusammen mit ihrer Schwester Mende vom früh verwitweten Vater aufgezogen wurde, galt sie als "a wilde chaje", ein Mädchen, das sich nicht in die vorgeschriebene Rolle fügen wollte, sondern den Vater überreden konnte, sie das Schächten, also das koschere Schlachten, zu lehren.

Auch wenn Fanny und ihre Familie schon seit Jahren kein Fleisch mehr essen - das Messer trägt sie weiterhin bei sich. Erst recht, als sie einen Plan ersinnt, um ihrer Schwester Mende zu helfen. Deren Mann hat sich nämlich abgesetzt aus dem Stetl und ist wohl nach Minsk gegangen. Dass der Taugenichts weg ist, macht aus Fanny Sicht gar nichts, doch er hat keinen Get, einen Scheidebrief, hinterlassen, damit Mende ihr Leben wieder in geordnete Bahnen lenken kann.

Angesichts des Unglücks der Schwester entschließt sich Fanny zu einem folgenreichen Schritt: Sie wird ihren Schwager aufspüren und zwingen, Mende frei zu geben. Sie kann den stummen Fährmann Cicek Berschow überreden, sie zu begleiten, als sie bei Nacht und Nebel ihre Familie verlässt. Die Suche nach dem Schwager wird buchstäblich zu einer Räuberpistole. Fanny muss sich mit Straßenräubern und Spitzeln der Geheimpolizei, mit zaristischen Soldaten und einer antisemitischen Gesellschaft auseinandersetzen. Und schon bald wird sie von einem gefährlichen und intelligentem Gegenspieler gejagt, dem Offizier Novak von der Ochrana, der Geheimpolizei des Zaren.

Novak selbst ist, ebenso wie Cicek eine tragische Figur und in mancher Hinsicht ein gebrochener Charakter. Der Roman ist von atemlosen Tempo, bildhaft und wortgewaltig, lässt wirklich eintauchen in die gar nicht so gute alte Zeit und erzählt nicht nur die Geschichte von Fanny und ihrer Rache, sondern über die verschiedenen Lebenswelten im Russland des 19. Jahrhunderts, in Adelspalästen und Armeelagern, Kaschemmen und Stetln.

Von Fannys Reise und ihrer Rache will ich hier gar nicht viel schreiben, weil ich nicht spoilern will. Aber Iczkovits hat ein sprachlich großartiges, thematisch faszinierendes und dabei sowohl unterhaltsam wie spannendes Buch geschrieben, dessen Figuren nachhallen.

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Veröffentlicht am 06.04.2024

Tel Aviv Noir

Lockvogel
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Ein bißchen wirkt Masi Morris, die Protagonistin in Daria Shualys Israel-Krimi "Lockvogel", wie eine israelische Cousine von Lis Salander: Sie pfeift auf die Regeln, die ihr andere aufstellen wollen, ...

Ein bißchen wirkt Masi Morris, die Protagonistin in Daria Shualys Israel-Krimi "Lockvogel", wie eine israelische Cousine von Lis Salander: Sie pfeift auf die Regeln, die ihr andere aufstellen wollen, zieht ihr eigenes Ding mit eher unorthodoxen Methoden durch, hatte eine traumatische Kindheit mit reichlich Gewalterfahrung und pflegt ein sehr aktives, entschieden nichtmonogames Sexleben, wobei sie sich im Gegensatz zu Salander auf den männlichen Teil der Bevölkerung beschränkt.

Andererseits, das Hacken überlässt sie lieber ihrem kleinen Cousin/Adoptivbruder. Und zu ihrem Vater, einem Polizisten, hatte sie ein sehr enges Verhältnis, nur verschwand er spurlos, als sie 14 war. Kurz darauf starben ihre Großeltern bei einem Autounfall - die Mutter wurde erschossen, als Masi zwei Jahre alt war. Dass Masi trotzdem nicht kitschig-larmoyant als Tochter aller Leiden daherkommt, liegt an Shualy, die ihre Ermittlerin so unpathetisch, cool und ähnlich einem Detektiv der schwarzen Serie daherkommen lässt, dass all das persönliche Drama zwar zu Masi gehört, sie aber trotzdem ihren Weg geht.

Bei der Polizei ist Masi rausgeflogen. Eigentlich wollte sie ja in die Fußstapfen des geliebten Vaters treten, der ihr schon im Alter von sechs Jahren das Schießen beibrachte. Ein Video, in dem sie - durchaus zutreffend - als Nymphomanin dargestellt wird, beendet die Karriere jedoch. Das war ihren Vorgesetzten dann doch zu viel, selbst im liberalen und durchaus hedonistischen Tel Aviv.

Jetzt ist Masi Privatdetektivin, eher die Frau fürs Grobe und die Action, während die kleinen Geschwister (Masi wurde von ihrem Onkel adoptiert) eher schüchtern und ob ihrer Jugend noch ein bißchen weltfremd sind, ihr aber tapfer als Assistenten zur Hand gehen.

Ein Jugendfreund, dessen Frau verschwunden ist, bittet Masi, den Vermisstenfall zu übernehmen. Jasmin Schechter, die Vermisste, entstammt einer der reichsten und einflussreichsten Familien Israels - und die will nicht kooperieren.

Nur mühsam und von mancherlei Rückschlägen begleitet wird Masi klar: In der Familie Schechter herrscht keine heile Welt und allerlei üble Geheimnisse werden unter der glatten Luxus-Oberfläche verborgen. Sex, Korruption, Familiengeheimnisse - dieser Krimi ist entschieden Tel Aviv noir. Zugleich aber gibt es viel Lokalkolorit zwischen Neve Tsedek und Strandpromenade, Bürotürmen und den Schutzkellern, die man beim Raketenalarm lästigerweise mal wieder aufsuchen muss.

"Lockvogel" überrascht mit allerlei unerwarteten Wendungen, wenn man - ähnlich wie Masi - glaubt, jetzt endlich verstanden zu haben, worum es bei dem Fall geht. Dieser Israelkrimi ist einerseits so tough und hardcore, gleichzeitig ironisch und nicht gänzlich unsensibel, macht trotz aller Schattenseiten Lust auf Tel Aviv und zeigt ein Stück Israel mit dem Hickhack zwischen Aschkenasim und Mizrahis, der vielfältigen Kultur und der Liebe zu gutem Essen.

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Veröffentlicht am 12.03.2024

Das laute Schweigen der Mehrheit

Judenhass
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Der 7. Oktober 2023 hat mit dem Massaker der Hamas-Terroristen etwas verändert - nicht nur in Israel. In seinem Buch "Judenhass" beschreibt Michel Friedman eindrücklich, wie der Terror auch auf das Leben ...

Der 7. Oktober 2023 hat mit dem Massaker der Hamas-Terroristen etwas verändert - nicht nur in Israel. In seinem Buch "Judenhass" beschreibt Michel Friedman eindrücklich, wie der Terror auch auf das Leben deutscher Juden auswirkte - nicht allein für diejenigen, die Freunde oder Verwandte in Israel haben, sondern für das Sicherheitsgefühl und Gefühl von Zugehörigkeit in Deutschland. Er schildert Erfahrungen mit Antisemitismus - sei es rechtsextremistischem, islamistischen oder linkem - aber vor allem die Bestürzung über die Reaktionen in Deutschland. Oder, zutreffender, über den Mangel an Reaktionen.

Beim Lesen des Buchs standen mir sofort wieder viele eigene Erinnerungen und Eindrücke vor Augen - etwa am Abend des 7. Oktobers selbst, auf dem Frankfurter Römerberg. Das politische Hessen hatte mitten im Landtagswahlkampf die Wählerkamapgnen ausgesetzt, Politiker verschiedener Parteien verurteilten geschlossen den Terror. Zur spontanen Solidaritätskundgebung waren vielleicht 300 Menschen gekommen, davon mindestens die Hälfte aus der jüdischen Gemeinde. Und selbst da gab es Zwischenrufe, Angriffe auf Teilnehmer der Demo. Ein paar Wochen später erinnerte ein gedeckter Schabbat-Tisch am gleichen Ort an die nach Gaza verschleppten Israelischen Geiseln. Das Polizeiaufgebot war fast größer als die Zahl der Menschen, die ihre Anteilnahme zeigen wollten. Dafür gab es auf propalästinensischen Demos immer wieder hasserfüllte, nicht nur anti-israelische, sondern auch antisemitische Parolen.

Ich konnte nachfühlen, dass sich jüdische Menschen in Deutschland - und auch in anderen europäischen Ländern - in diesen vergangenen sechs Monaten sehr einsam gefühlt haben. Friedman zeigt sich in seinem Buch ratlos über die Gleichgültigkeit und Passivität. Wo blieb der breite öffentliche Aufschrei angesichts der grausamen Details, die in den Tagen und Wochen seit dem 7. Oktober bekannt wurden? Wo die Empörung über Vergewaltigungen, Verstümmelungen, Folter - und die ekligen Jubelszenen? Wieso sind tausende bereit, gegen Abholzung und Klimawandel auf die Straße zu gehen, reagieren aber nicht auf grausamsten Terror?

Friedman schreibt hier weniger als Publizist oder Rechtsanwalt, sondern als Vater, der dachte, seine Söhne könnten die erste Generation seit langem sein, die halbwegs unbefangen in Deutschland aufwächst, trotz der täglichen Schutzmaßnahmen vor jüdischen Schulen, Kindergärten und anderen Einrichtungen im großen und ganzen ohne Angst. Den Rat, Juden sollten an bestimmten Orten keine Kippa und keinen Magen David tragen, sieht er als Kapitulation vor Hass und Antisemitismus an, als Versagen des Staates und der Politik, ein unbehelligtes Leben der eigenen jüdischen Mitbürger zu garantieren. Und er sucht die Ansprache - in "Briefen", in denen er sich an Gleichgültige, an Christen, an Jüdinnen und Juden wendet, Fragen stellt, Befindlichkeiten erklärt.

Wer die Sendungen von Michel Friedman kennt, weiß, wie pointiert und durchaus scharf er sein kann. In diesem Buch ist er nachdenklich, reflektiert, ja traurig. Das laute Schweigen der Mehrheit, die seit mehr als sechs Monaten sicherlich nicht nur den Autor verstört, hält an. Aber vielleicht trägt dieses Buch dazu bei, das Schweigen aufzubrechen. Wünschenswert wäre es.