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Veröffentlicht am 19.12.2019

Schlag auf Schlag auf Schlag

Blauschmuck
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„Ich bin in meinem Zuhause, das kein Zuhause mehr ist, das immer meine Rettung in letzter Not war und mich in letzter Not nun nicht rettet.“

Inhalt

Filiz, aufgewachsen in einem kurdischen Dorf verliebt ...

„Ich bin in meinem Zuhause, das kein Zuhause mehr ist, das immer meine Rettung in letzter Not war und mich in letzter Not nun nicht rettet.“

Inhalt

Filiz, aufgewachsen in einem kurdischen Dorf verliebt sich mit 12 Jahren in einen nur wenig älteren Jungen aus der Nachbarschaft. Die Eltern wollen der Verbindung nicht zustimmen, da brennt das junge Mädchen mit dem Geliebten einfach durch und bricht mit ihrem Elternhaus. Ihre Schwiegermutter kommt für die Vermählung der beiden auf und lässt sie bei sich wohnen. Doch schnell muss Filiz erkennen, dass ihr Mann ganz unter der Schirmherrschaft seiner Mutter steht und für die ist Filiz nur eine Dienstbotin, die sie nach Lust und Laune herumschubsen kann. Daran ändert auch die erste Schwangerschaft nichts – sie ist nichts wert, ihr Leben abhängig von der Gunst der anderen. Yunus ihr Geliebter bringt ihr längst kein Gefühl mehr entgegen, maximal beim erzwungenen Geschlechtsverkehr, oder wenn er sie mal wieder grün und blau schlägt. Als es ihm gelingt in Österreich eine Wohnung zu bekommen holt er Filiz nach und diese hofft immer noch auf ein anderes, selbstbestimmteres Leben. Doch Yunus ändert sich nicht, seine Gewalteskapaden werden immer schlimmer und die junge Frau fürchtet um ihr Leben und wenig später auch um das ihrer mittlerweile 3 Kinder. Auch in der Fremde wird sie nie Zuhause sein, solange Yunus an ihrer Seite ist – doch ihre Kraft, sich den Misshandlungen des Mannes zu widersetzen schwindet immer mehr …

Meinung

Die österreichische Autorin Katharina Winkler widmet sich in ihrem Debütroman der Thematik Misshandlung und Gewalt innerhalb der Ehe. Dabei nimmt sie eine wahre Begebenheit als Ausgangssituation, um zu zeigen wie bitter und nachhaltig die Spirale aus Machtmissbrauch, Abhängigkeit und Ausweglosigkeit sein kann, wenn man als Frau nicht nur in eine von Männern dominierte Welt hineingeboren wurde, sondern von klein auf daran gewöhnt ist, dass Frauen von Männern geschlagen werden und dies als normalen Zustand empfindet.

Der sogenannte „Blauschmuck“ bezeichnet die Färbung der Haut an den verschiedensten Körperstellen der Frau in allen nur erdenklichen Nuancen, wenn sie wieder einmal Opfer häuslicher Gewalt geworden ist. Und fast jede Frau in dem kurdischen Heimatdorf der Protagonistin trägt mehr oder weniger „Blauschmuck“ und spricht doch nicht darüber, denn was allen passiert wird zwar geduldet, bleibt aber dennoch Privatsache.

Der Handlungsverlauf dieser Geschichte ist äußerst deprimierend, weil sich die Spirale aus Missachtung und Gewalt immer mehr steigert und nicht nur die Illusionen einer jungen Braut zerstört, sondern letztlich die ganze Familie im Griff hat: Kinder die sich fürchten, weil sie geprügelt werden, eine Mutter die weder Schutzschild sein kann noch die Kraft aufbringt, der Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Besonders eindringlich wird die Abstumpfung der Betroffenen geschildert, die einst voller Überzeugung genau diesen Mann geheiratet hat, um mit ihm ihr Glück zu finden und dann feststellen muss, dass Selbstschutz das einzige ist, was ihr geblieben ist. Und obwohl mir persönlich das Gedankengut der Frau, gewachsen auf ihren Erfahrungen sehr fremd ist, schafft es die Autorin den fremden nationalen Hintergrund so zu integrieren, dass ich glaube, Filiz zu verstehen, ohne es tatsächlich nachempfinden zu können.

Ein weiterer Pluspunkt ist die Art von generalistischer Erzählung, die nicht nur den Einzelfall dramatisch wirken lässt, sondern gezielt eine Vielzahl ähnlicher Fälle im Hinterkopf entstehen lässt, von denen man weiß, dass sie fast genauso ablaufen und nur die Namen und die Beteiligten andere sind.

Fazit

Ganz klar ein Roman, der 5 Sterne verdient, weil er in ansprechender literarischer Umsetzung eine bittere, grenzwertige Erzählung schildert, die stellvertretend für viele Familien steht und die trotz ihrer Unglaublichkeit immer noch auf der Tagesordnung steht, sofern ein gewisser kultureller Rahmen gegeben ist.

Im besten Sinne ist dieses Buch emotional, obwohl es niemals so tief geht, dass man es nicht ertragen kann es ist brisant und zeitlos, abstoßend und fordernd zugleich und es bleibt lange in Erinnerung, weil man als Leser sehr viele Aspekte aufgreifen kann, über die es sich nachzudenken lohnt.

Auch die Definition von Liebe muss überdacht werden, nicht nur die zwischen Mann und Frau, sondern auch die zwischen Eltern und Kindern. Und nicht zu verachten der Aspekt der Abhängigkeit, die manchmal unumstößlich, aber nur dann gefährlich ist, wenn der vermeintlich „Stärkere“ seine Position ausnutzt, um sein Gegenüber zu unterdrücken. Ein absolut lesenswerter, zeitloser Roman über wahrgewordene Albträume, ständige Ängste und den Verlust eines sicheren Zuhauses.

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Veröffentlicht am 06.12.2019

So endet eine große Liebe

Das Versprechen
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„Mein Großvater war der Mann, der sich an sein Wort hielt. Weil er glaubte, dass ein Mann sich an das halten muss, was er sagt. Weil es sich so gehörte. Nur einmal hat er es nicht getan. Ein einziges Mal ...

„Mein Großvater war der Mann, der sich an sein Wort hielt. Weil er glaubte, dass ein Mann sich an das halten muss, was er sagt. Weil es sich so gehörte. Nur einmal hat er es nicht getan. Ein einziges Mal nur hat er sein Wort gebrochen. Verziehen hat er sich das nie.“

Inhalt

Edwin und Ria haben ein bewegtes Leben hinter sich, denn obwohl sie sich schon als Jugendliche liebten, haben sie jeweils aus ihren Verpflichtungen heraus andere Partner geheiratet. Erst im Alter von 50 Jahren sind sie wirklich frei füreinander und beschließen fortan immer zusammenzubleiben. Edwin verspricht seiner Ria, sie nun nicht mehr gehen zu lassen und hält sich 39 weitere Lebensjahre daran. Doch hochbetagt, wie die beiden sind, müssen sie sich neuen Herausforderungen stellen. Denn während Rias Welt auf Grund ihrer zunehmenden Demenz immer unbeständiger wird, muss sich Edwin eingestehen, dass er ein enges Zusammenleben mit Ria nicht mehr erträgt, dass er nicht mehr Teil ihrer Erinnerungen ist, sondern ein Fremder, mit dem sie nichts mehr verbindet. Und so sieht er sich gezwungen, sein Versprechen zu brechen, um zu bewahren was einmal war …

Meinung

Erzählt wird dieser biografische Roman von der Enkeltochter des Paares, die beide Großeltern sehr mochte und gerade mit ihrem Opa, der nicht einmal ihr leiblicher war, engen Kontakt pflegte. Die Lebens- und Liebesgeschichte des Paares beeindruckt die junge Autorin und sie beschließt ihren Großeltern ein Denkmal zu setzen, indem sie deren Weg beschreibt, durch Höhen und Tiefen, ein gemeinsames Leben in Ruhe und Einverständnis aber auch die Last, die ihnen am Ende abverlangt wird, als einer der beiden einsehen muss, dass er den anderen verloren hat, an eine Krankheit, aus der es kein Entrinnen gibt und an eine Gegenwart, in der es keine Vergangenheit mehr gibt.

Der Untertitel „Eine Geschichte von Liebe und Vergessen“ trifft es ziemlich gut, denn es gelingt Nadine Ahr aus einer persönlichen Sicht und dennoch mit dem entsprechenden Abstand das Leben von Edwin und Ria lebendig werden zu lassen. Dazu schreibt sie einmal in Rückblenden, die das vergangene Glück beschreiben, gefolgt von Gegenwartssituationen, die alle Kräfte einfordern bis hin zu zukünftigen Überlegungen, die sie selbst aus ihren Erfahrungen zieht. Geprägt ist die Erzählung vor allem durch Warmherzigkeit und ein tiefes Verständnis. Immer wieder entsteht der Eindruck, wie besonders die Menschen, über die sie schreibt, waren und was ihren Charakter ausgemacht hat. Und gleichzeitig zieht sich der Aspekt der Trauer wie ein rotes Band durch die 192 Seiten des Buches. Der Respekt vor dem Leben, der Glaube an die Verantwortlichkeit für Mitmenschen und die eigenen Schuldgefühle kommen immer wieder zur Sprache und obwohl es in keiner Weise eine Entschuldigung für Unterlassungen oder kleine Notlügen ist, zeigt sich dennoch die Fehlbarkeit der Menschen, selbst wenn sie lieben und leiden bis zu ihrem Tod.

Fazit

Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen tieftraurigen und doch hoffnungsschenkenden Roman, der mich betroffen macht und ähnlich wie die Autorin selbst zum Nachdenken anregt über die Frage, wann es an der Zeit ist, die große Liebe ziehen zu lassen, ob die Zeit überhaupt kommen wird und wie elementar die Konsequenzen aus den entsprechenden Handlungen auch für die nächste und übernächste Generation sein können. Und obwohl Nadine Ahr selbst zu dem Schluss kommt, dass die Erinnerungen längst nicht das einzige Paradies sind, aus dem man verdrängt werden kann, so ist es ihr doch gelungen eine wunderbare Geschichte über die Liebe zu schreiben und ihren verstorbenen Großeltern auf sehr schöne Art und Weise nahezubleiben, in dem sie erzählt, wie es sein kann, wenn Liebe nicht vergeht sondern vergessen wird.

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Veröffentlicht am 14.10.2019

Diktaturen, die von innen bröckeln

Die Zeuginnen
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„Ist unsere Mutter die Frau, die uns zur Welt bringt, oder ist es die, die uns am meisten von allen liebt?“

Inhalt

Tante Lydia schreibt als Hologramm vom Hause Ardua an den geneigten Leser und lässt ...

„Ist unsere Mutter die Frau, die uns zur Welt bringt, oder ist es die, die uns am meisten von allen liebt?“

Inhalt

Tante Lydia schreibt als Hologramm vom Hause Ardua an den geneigten Leser und lässt ihn teilhaben an den inneren Verstrickungen des Staates Gilead, den sie selbst als eine der Gründerinnen mit aufgebaut hat. Doch die Gegenwart macht deutlich, dass es in Gilead mächtig brodelt, dass immer mehr Menschen, diesen totalitären Staat boykottieren oder daraus flüchten, kaum jemand glaubt wirklich noch an das was gepredigt wird. Und Tante Lydia ist sich dessen bewusst, das sie nicht nur als eine mächtige Frau in die Geschichte Gileads eingehen möchte, sondern auch in dessen Untergang – das soll ihre ganz persönliche Rache werden und die muss gut geplant werden. Mittel zum Zweck sind dabei die beiden jungen Frauen Nicole und Agnes. Erstere ist als Baby aus Gilead entführt worden und lebte seitdem in Kanada unter dem Schutz einer Geheimorganisation, zweitere ist in Gilead aufgewachsen und möchte sich nun als eine Anwärterin auf die Rolle einer Tante profilieren. Doch Tante Lydia kennt das Geheimnis dieser beiden Frauen und nutzt ihr Wissen und alle Verbindungen, um zum entscheidenden Dolchstoß gegen das Terrorregime auszuholen …

Meinung

Über 30 Jahren nach dem Erscheinen des Klassikers „Der Report der Magd“ möchte die kanadische Autorin Margaret Atwood die Geschichte des Staates Gilead weitererzählen, doch diesmal wählt sie nicht die enge Perspektive einer direkt Betroffenen, die hilflos dem Terrorregime ausgesetzt ist, sondern sie etabliert mehrere Erzählstimmen, die umso besser das System und seine Funktionsweise beleuchten. Während mir „Der Report der Magd“ sehr düster und beklemmend erschien, dominiert in ihrem neuen Buch eine gewisse Aufbruchstimmung, die sprachlich zwar nicht ganz so literarisch umgesetzt wird, dafür aber viel moderner und spannender geschrieben wurde.

Ein besonderes Augenmerk wird auf die Gestaltung der Erzählung gelegt, so richtet sich die einzige Mitverantwortliche Lydia als eine starke aber ambivalente Protagonistin direkt an den Leser, indem sie bis ins kleinste Detail ausführt, wer welche Machtposition erfüllt und wie sie geschützt wird. Ganz deutlich wird außerdem, welche inneren Gefahren dem Reich drohen und das Gilead ein Pulverfass ist, welches eines Tages mit einem großen Knall zerfallen wird. Und ihre Intrigen, Geheimnisse und Ränkespiele werden diesen Ort mit all seinen Fesseln sprengen. Die beiden jungen Frauen Nicole und Agnes die wechselseitig in Zeugenaussagen ihre persönlichen Erlebnisse schildern, runden das Gesamtbild ab und führen den Leser durch den Verlauf der Geschichte.

Besonders imponiert hat mir dieser etwas andere Blick auf Gilead, weil sich vieles aus einer anderen Sicht darstellt als bisher gekannt. Gerade die Geschichte des Staates, ihre Machenschaften, ihr verkorkstes Weltbild und die nicht vorhandene Rechtsstaatlichkeit kommen in diesem Buch voll zur Geltung. Was aber noch viel unterhaltsamer war, sind die Ränkespiele, die Lügengeschichten, die Bosheit verborgen hinter einem gut gemeinten Ratschlag und nicht zu vergessen das hohe Erzähltempo, dem man nur allzu gerne folgt.

Ganz sicher ist es von Vorteil, wenn man die Leidensgeschichte der Magd Desfred aus dem vorherigen Band „Der Report der Magd“ bereits kennt und sich dann an die wirklich zahlreichen Verstrickungen zwischen damals und heute erinnern kann. Erst dadurch bekommt die Geschichte die entsprechende Tiefe und man fühlt sich schneller als ein Teil jenes Systems, ohne es tatsächlich zu kennen. Auch die Rolle der Frauen wird differenziert betrachtet, je nachdem welche Position sie in ihrem Gesellschaftssystem einnehmen, können sie ganz unterschiedlich wirken. Doch eins ist klar erkennbar: Egal wer man ist, egal was man tut, Gilead wird dich bestrafen, zermürben oder töten!

Fazit

Das war ein absoluter Lesegenuss, der von mir glatte 5 Sterne bekommt und sich als ein weiteres Jahreshighlight mit den entsprechenden Lorbeeren schmücken darf. Ein Spannungsroman, wirklich gute Unterhaltungsliteratur mit sehr vielen Punkten zum Nachdenken und vielen Einblicken in ein mysteriöses System der Willkürherrschaft. Darüber hinaus gelingt es den Protagonistinnen nicht nur menschlich zu wirken, sondern auch eine gewisse Entwicklung innerhalb dieser Buchdeckel zu durchlaufen. Nicht jeder, der willkürlich herrscht ist von Grund auf Böse und verblendet, nicht jeder der freiwillig dient, erkennt nicht die Schwächen des Systems und nicht jeder, der seine Vergangenheit nicht kennt, ist nicht in der Lage die Zukunft positiv zu verändern. Vieles ist eine Frage der richtigen Zeit und des gemeinsamen Zusammenspiels verschiedener Kräfte. Bleibt nur noch zu sagen: „Lest dieses Buch!“

Veröffentlicht am 17.09.2019

Sehnsucht und Sühne im Schatten des Krieges

Der Wintersoldat
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„Wenn der Tod so nah war, wurde er möglicherweise ja zu etwas, das willkommen war, nicht etwas, vor dem man Angst hatte. Vielleicht wäre es leichter, wenn seine Reise hier endete. Und irgendwie würde es ...

„Wenn der Tod so nah war, wurde er möglicherweise ja zu etwas, das willkommen war, nicht etwas, vor dem man Angst hatte. Vielleicht wäre es leichter, wenn seine Reise hier endete. Und irgendwie würde es auch passen, wieder zurück bei der Kirche zu sein, wo sein neues Leben begonnen hatte. War es das, wohin es ihn gezogen hatte, eine Art von Ende, eine Befreiung?“


Inhalt

Lucius Krzelewski steckt mitten im Studium der Medizin, als der 1. Weltkrieg das Land überrollt und die bisherigen Verpflichtungen aus allen Angeln hebt. Jeder Arzt wird nun gebraucht, selbst wenn er keinerlei praktische Erfahrung besitzt und noch viel lernen müsste. Den 22-Jährigen verschlägt es nach Lemnowice, einer kleinen Ortschaft in den Karpaten, die im Hinterfeld des Kriegsgetümmels liegt. Dort wird er in einem provisorischen Lazarett empfangen, welches sich in der ortsansässigen Kirche befindet.

Allerdings gibt es keinen zweiten Arzt, sondern nur noch die beherzte Krankenschwester Margarete, die sich das Operieren abgeschaut hat und sich derzeit allein durchschlägt. Gemeinsam nehmen sie die Herausforderung an und etablieren eine Art Krankenhausalltag, in dem sogar Genesungen gefeiert werden können. Doch die Soldaten an der Front werden rar, so dass hin und wieder ein Regiment ins entfernte Lemnowice kommt, um die nächsten Männer abzuholen. Lucius wagt es, sich gegen den Abtransport eines Mannes zu stellen, der zwar keine äußerlichen Verletzungen hat, jedoch ein schweres Nervenleiden und Depressionen. Und dafür muss er büßen, wenn auch nicht selbst, denn Ärzte sind rar und unantastbar.

Als wenig später die Kampfhandlungen immer näher kommen, verschwindet Margarete in der Dunkelheit der Nacht und Lucius macht sich auf die Suche nach ihr, nach der starken, unerschrockenen Frau, in die er sich verliebt hat, doch am nächsten Morgen ist er selbst der Front zu nahe gekommen und das Schicksal trennt die beiden …


Meinung

Auf diesen Roman bin ich nicht nur wegen seiner verheißungsvollen Geschichte aufmerksam geworden, sondern auch wegen der begeisterten Pressestimmen und einiger hochlobender Rezensionen. Versprochen wird eine Geschichte vom Krieg und von der Liebe, von verhängnisvollen Irrtümern und immerwährenden Sehnsüchten, von der Zerbrechlichkeit des Glücks und der Widerstandsfähigkeit der Menschen im Angesicht der totalen Zerstörung. Und all das vermag dieses Buch in vollem Umfang zu geben. Es ist eine Geschichte zum Eintauchen in eine andere Zeit, zum Versinken in ein anderes Leben und nah dran an den Protagonisten und ihren Gedankengängen.

Im positivsten Sinne handelt es sich hier um gute, erzählenswerte Unterhaltungsliteratur, die ähnlich wie im Spielfilm viele Eindrücke vermittelt und ständig Bilder vor dem geistigen Auge heraufbeschwört. Dem Autor gelingt es, seinen Leser mitten hinein zu ziehen, in diese Zeit mit ihren entfernten Schrecken, ihren glücklichen und dramatischen Begegnungen, ihren Chancen und Unmöglichkeiten.

Besonders authentisch empfinde ich den Blickwinkel, aus dem erzählt wird. Denn Lucius hat natürlich, wie jeder andere auch ein Leben vor dem Krieg gehabt, er wird gezwungen recht bald ein Höchstmaß an Verantwortung zu übernehmen und er muss mit den Konsequenzen seiner Entscheidungen leben. Dieses schnelle Erwachsenwerden des Mannes, seine Selbstzweifel aber auch die kleinen Freuden des Alltags werden liebevoll und umfassend beschrieben. Darüber hinaus wird der Text niemals rührselig, auch nicht sonderlich emotional, bei so viel Traurigkeit ist es eine Kunst die Objektivität zu wahren, ein gelungener Schachzug, wie ich finde.


Fazit

Für diesen wunderbaren Roman vergebe ich begeisterte 5 Lesesterne und eine Leseempfehlung, für alle, die gerne in Geschichten versinken, die man einfach miterleben muss, an der Seite eines jungen Arztes, der selbst noch auf der Suche nach dem Sinn des Lebens ist. Natürlich ist das Buch irgendwann zu Ende, man kann auch keine weiterreichenden Gedanken dazu entwickeln, denn die Erzählung ist in sich geschlossen, sehr rund und lässt wenig Raum für Spekulationen. Literarisch betrachtet, hätte ich mir etwas mehr Anspruch gewünscht, inhaltlich jedoch belohnt dieser Roman mit einer realistischen, aussagekräftigen, aufwühlenden Geschichte über Menschen jenseits der Front, die in ihrer Zeit Großes geleistet haben und Vieles entbehren mussten.

Veröffentlicht am 11.09.2019

Und willst du das ändern?

Der Sprung
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„Leben heißt zurückbleiben hinter den Dingen, den Erwartungen, den Menschen. Besser du fängst früh genug damit an, gut darin zu werden. Wenn du gut leben willst, musst du ein verdammt guter Verlierer ...

„Leben heißt zurückbleiben hinter den Dingen, den Erwartungen, den Menschen. Besser du fängst früh genug damit an, gut darin zu werden. Wenn du gut leben willst, musst du ein verdammt guter Verlierer sein.“


Inhalt

Manuela Kühne geht eines Tages aufs Dach und alle Umstehenden vermuten einen geplanten Suizidversuch. Plötzlich tauchen Einsatzwagen der Polizei auf, ein Sprungtuch wird positioniert und der Einsatzleiter versucht, die junge Frau dazu zu bewegen, auf normalen Weg das Dach zu verlassen. Aber Manuela bleibt standhaft und deckt in der Zwischenzeit die Dachziegel ab und wirft sie in unregelmäßigen Abständen auf die Gaffer vor dem Haus. Denn auf der Straße ist die Hölle los, so viele Schaulustige versammeln sich, einige motzen, andere schütteln den Kopf und der Laden an der Ecke, der eigentlich kurz vorm Bankrott steht, erblüht zu neuem Leben. Einen Tag und eine Nacht hält die junge Frau die Menschen in Atem, gibt ihnen Zeit darüber nachzudenken, warum man sich vom Dach stürzen möchte oder wieso gerade nicht. Und im gleichen Maße, wie Manuela provoziert, berührt sie die Alltäglichkeit und die eingefahrenen Wege der Nachbarschaft. Denn ein Sprung vom Dach will gut überlegt sein, vielleicht kann man auch im Leben etwas ändern, bevor es sich so dermaßen zuspitzt …


Meinung

Simone Lappert wählt für ihre Geschichte eine Ausnahmesituation, indem sie eine junge Frau auf das Dach eines Hauses steigen lässt, von dem sie nur durch aufgeben oder springen wieder herunterkommt. Dabei weiß man gar nicht so genau, warum sie sich das Leben nehmen möchte, oder ob es ein unglücklicher Umstand ist, der sie in diese Lage gebracht hat. Aber ihre geplante Aktion setzt diverse Denkprozesse in den Menschen ihrer Umgebung frei, die selbst ein Päckchen zu tragen haben und deren Leben längst nicht so glücklich ist, wie sie es sich eigentlich vorstellen. Nur wo ist die Grenze zwischen einer Tat, die dem Leben unwiederbringlich ein Ende setzt und der Möglichkeit, genau diesen Umstand abzuwenden?


Das grandiose an diesem Buch ist die tiefgreifende psychologische Frage nach den Möglichkeiten der Veränderung jenseits der eingefahrenen Wege. Dabei wählt die Autorin eine ungewöhnliche Erzählperspektive, denn sie gliedert das Buch in viele kleine Kapitel, die jeweils von einem anderen Protagonisten gefüllt werden. Auf diese Art und Weise wird ein ganzes Potpourri an Geschichten offenbart, angefangen vom Leben des Bettlers auf der Straße, weiter zur langjährigen Kneipenbesitzerin, deren Lokal für alle offensteht, bis hin zum jungen Polizisten, der sich der momentanen Situation nicht gewachsen fühlt, weil sie ihn zu sehr an seine eigene traumatische Vergangenheit erinnert. All jene und noch viele Menschen mehr, machen sich plötzlich Gedanken und treffen Entscheidungen, die sie andernfalls nicht in Betracht gezogen hätten.


Diese verbundenen Schicksale sind es, die den Großteil des Romans ausmachen, so dass Manuela auf dem Dach eher wie der Tropfen auf dem heißen Stein wirkt, nicht sie ist es, die bedauert werden muss, sondern all jene, denen es nicht gelingt aus eigener Kraft einen Richtungswechsel voranzutreiben. Ein weiteres Plus dieser kurzweiligen, doch intensiven Geschichte ist der unvergängliche Optimismus, der letztlich den ganzen Text durchdringt. In Anbetracht der dramatischen Ausgangslage empfand ich dieses Urvertrauen, die Kraft der positiven Gedanken regelrecht erquickend, denn es hätte sich auch ganz anders anfühlen können, wenn ein Mensch sich ernsthaft damit beschäftigt, einen so öffentlichen Selbstmord zu begehen.


Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne und freue mich über ein weiteres Jahreshighlight 2019. Ein intensiver, dramatischer Roman mit einer aufrüttelnden Geschichte und einer klaren Botschaft. Dieses Buch lädt dazu ein, es auch ein zweites oder drittes Mal zu lesen und immer wieder neue Entdeckungen zu machen. Bestens geeignet für alle Leser, die Unterhaltungsliteratur mit Anspruch mögen und sich gerne in Texte hineinversetzen, die andere Schicksale kennenlernen möchten und einen differenzierten Einblick in das Leben bekommen wollen. Für diese Vielschichtigkeit und hohe Präsenz des Textes kann man nur applaudieren und die Lektüre wärmstens weiterempfehlen.