Profilbild von herrfabel

herrfabel

Lesejury Star
offline

herrfabel ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit herrfabel über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.03.2020

Eine lebendige, einschüchternde Geschichte von einer doch so fremden Welt

Palast der Miserablen
0

Abbas Khider führt uns mit seinem Roman "Palast der Miserablen" in ein vom Krieg und seinem diktatorischen Staatsoberhaupt gebeuteltes Land. Um genau zu sein, geht es in den Irak. Shams Hussein lebt gemeinsam ...

Abbas Khider führt uns mit seinem Roman "Palast der Miserablen" in ein vom Krieg und seinem diktatorischen Staatsoberhaupt gebeuteltes Land. Um genau zu sein, geht es in den Irak. Shams Hussein lebt gemeinsam mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester Qamer in der Nähe der südlichen Grenze. Obwohl bereits seit Jahren Krieg zwischen dem Irak und dem Iran herrscht, bekommen sie hier nur wenig davon mit. Shams Vater ist Soldat und wurde ganz in der Nähe stationiert, seine Mutter putzt in der örtlichen Moschee. Sie haben eigentlich einen recht guten Stand und doch drängt es die Familie irgendwann weiter. Als sich der Konflikt der benachbarten Länder und die Auseinandersetzungen zwischen den Sunniten und Schiiten weiter zuspitzt, beschließen sie nach Saddam City (ein Stadtteil von Bagdad) zu ziehen, um hier ein friedlicheres Leben führen zu können. Zunächst kommen sie noch bei Verwandten unter, aber die Situation scheint ausweglos. Sie brauchen etwas eigenes und ziehen in das an die Stadt angrenzende Blechviertel, einem Ort, an dem sich der ärmere Teil der Bevölkerung aus dem Müll der aufstrebenden Stadt Häuser baut. Shams geht wieder zur Schule und alle anderen Familienmitglieder versuchen Geld aufzutreiben. Sie probieren sich mit Weissagungen, Gepäckträgerdiensten und anderen dubiosen Geschäften über Wasser zu halten. Und auch Shams bietet sich als Tütenverkäufer auf dem Basar, als Busfahrergehilfe, Fotograf oder als Buchverkäufer an. Durch ein eher zufälliges Treffen auf dem Basar öffnen sich für ihn dann ungeahnte Türen. Sein Cousin nimmt ihn mit in einen Literaturclub und bringt ihn damit zurück in die Gefahrenzone, denn was Sham zu dem Zeitpunkt vielleicht noch nicht ahnt, einfach jedes falsche Wort oder unglückliche Treffen kann bereits den Tod bedeuten…



“Es war ein buntes Chaos. Alles, was ich von Bagdad sah, wirkte auf mich wie ein unendlich großer Basar. Es war eine laute und lebendige Welt, wie ich sie noch nie zuvor kennengelernt hatte. […] Und wenn das hier nur ein winziger Teil der Hauptstadt war, wie sah dann bloß der Rest aus? Ich konnte es nicht erwarten, mehr zu sehen, auch wenn mich das alles zugleich einschüchterte.”



Dieser Roman ist toll. Dieser Roman reißt einen mit. Dieser Roman ist langweilig. Ich glaube, ich war bei einem Buch schon lange nicht mehr so hin und her gerissen. Die Geschichte bietet so ein großartiges und mitreißendes Abbild über das Leben zwischen Hoffnung nach Frieden, Unterdrückung, Zusammenhalt, Angst. Khider lässt den Leser durch seine sehr nahbaren Figuren zu einer Art Augenzeugen der Kriminalität, des Widerstands, des versuchten Lebens zwischen Wirtschaftsembargo und erhoffter Freiheit werden. Die Geschichte der Familie visualisiert den wirtschaftlichen Abstieg durch den Krieg und die ständigen Unruhen im Land, aber eben auch die Tatkraft und den Willen der Menschen sich unter den gegebenen Umständen eine bessere Zukunft aufzubauen. Khider porträtiert die einzelnen Familienmitglieder teilweise sehr intensiv, arbeitet beinahe für jeden einzelne Charakterzüge aus und lässt ihre Geschichte gerade dadurch so wahnsinnig lebendig werden. Zumindest diesen Teil der Geschichte. Der Roman beginnt nämlich an einem ganz anderen Ort. Ein Häftling erzählt von seinen Fluchtgedanken, vom Leben in seiner Gefängniszelle. Immer wieder durchbricht eben jener die doch recht spannende Geschichte über Shams Familie mit einzelnen Details zu seiner Gefangenschaft, seinen Schmerzen oder gar Beulen am Gesäß. Man weiß, dass irgendetwas geschehen sein muss, das den Protagonisten der Geschichte in die Zelle gebracht hat und so wartet man dann tatsächlich recht lange auf die Erklärung. Beinahe wirkte es dann für mich so, als wenn Khider gegen Ende des Romans noch schnell etwas Spannung aufbauen und die Verknüpfung mit den Gefangenschaftsabschnitten herstellen will. Ich persönlich hätte diese kurzen Kapitel auch nicht wirklich gebraucht, da sie in dieser Form (wenn überhaupt) nur einen kleinen Mehrwert bieten. Ähnlich erging es mir dann auch, als Khider den Fokus auf Shams Pubertät lenkt, sich auf ihn fokussiert und die ganze Familiensituation, die ich gerade in der ersten Hälfte so faszinierend und toll fand, beinahe vernachlässigt. Shams wird älter, ‘entdeckt’ das weibliche Geschlecht, geht in der Literatur förmlich auf, schreibt eigene Texte, trifft sich mit anderen und unterhält sich mit ihnen über einzelne literarische Texte und die Welt. An diesen Stellen habe ich mich dann oft gefragt, was denn nun mit seiner Schwester ist oder der Mutter und was der Vater gerade anstellen mag. Einige Seiten später weitet Khider seinen Blick wieder, aber vorher habe ich’s gänzlich vermisst und wurde mit anderen Informationen, der Literatur und anderen Charakteren ‘versorgt’. Und ja, diese zweite Hälfte war einfach nicht meins, ich mag keine Bücher in denen davon erzählt wird, wie Menschen Literatur vortragen oder wenn zahlreiche Charakter ausführlich vorgestellt werden, die bereits nach kurzer Zeit nicht mehr auftauchen. Khider hat für mich den Fokus verloren und wollte unbedingt noch von anderen Sachen erzählen und das fand ich in dieser Form irgendwie fehl am Platz. Ehrlich gesagt habe ich auch nicht erwartet, dass der “Palast der Miserablen” ein Name für einen Literaturclub darstellt und unter der Betrachtung, dass dieser Roman von dem ‘Palast’ handelt, ist gerade dieser Abschnitt dann doch recht kurz.

.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.10.2019

Hoffnung oder Gerechtigkeit? - ein neuer Fall für Jenny Aaron

Geblendet
0

Mit "Geblendet" geht Andreas Pflügers Trilogie mit und um seine blinde Elitepolizistin Jenny Aaron endlich weiter und bringt dieses Mal allerhand Blicke in die Vergangenheit, Herausforderungen und persönliche ...

Mit "Geblendet" geht Andreas Pflügers Trilogie mit und um seine blinde Elitepolizistin Jenny Aaron endlich weiter und bringt dieses Mal allerhand Blicke in die Vergangenheit, Herausforderungen und persönliche Gedankenspiele der Ermittlerin mit sich.

"Oft denkt sie darüber nach, wie es wohl ist, die Seele eines Menschen in den Händen zu halten. Immer wieder war sie versucht ihren Vater zu fragen.
Tat es nicht.
Sie will es wissen und will es nicht wissen."

Fünf Jahre ist es nun her, als Jenny Aaron ihr Augenlicht verlor. Fünf Jahre, in denen einiges passiert ist, sie sich damit arrangiert hat und doch träumt sie nach wie vor davon endlich wieder sehen zu können. Eine medizinische Behandlung auf Rügen könnte genau dies nun möglich machen, doch die Therapie stellt sie vor eine große Zerreißprobe. Ruhe und Geduld wären für ihre Heilung von Nöten, doch ihr Kollege hat gerade jetzt eine neue Spur gefunden, die auf eine große Tragödie zusteuert. Weitere Gefahren bahnen sich ihren Weg und ihre Abteilung, die durch einen Bombenanschlag im letzten Winter großteils ausgelöscht wurde, bedarf ihre Hilfe. Doch auch Jenny ist ins Visier einer mysteriösen Killerin geraten und muss um sich und die Möglichkeit wieder-sehen zu können, bangen. Und so gibt es dann auch nur noch die Fragen: Therapie oder Gerechtigkeit? Für was wird sich Jenny entscheiden? Wer ist der Verräter? Und vor allem kann sie ihre Gegenspielerin noch rechtzeitig stoppen?

Zahlreiche Rückblenden erinnern an die ersten beiden Teile, beantworten Fragen, rufen Altes in Erinnerung und doch wird vieles erst mit diesem Band so wirklich klar. Pflüger erschuf einen Thriller auf hohem, literarischen Niveau und doch konnte er mich nicht so wirklich begeistern. Der Autor versteht es großartige, spannungsvolle, gewaltige Bilder/Szenen zu erschaffen, die zum einen den Atem stocken lassen, aber manchmal auch das genaue Gegenteil bewegen. "Geblendet" gleicht einer Achterbahnfahrt, die den Leser immer mal wieder packt und in Aufruhr bringt und dann durch einen Szenenwechsel oder neues Kapitel aufatmen, zur Ruhe kommen und lange warten lässt. Und genau diese etwas ruhigeren Abschnitte, haben mir dann in diesem Teil auch die Freude genommen und sich stark in die Länge gezogen.
Die Geschichte um Jenny Aaron ist insgesamt recht vielschichtig und mitreißend. Wer die ersten Teile gelesen hat, wird auch diesen Teil lieben - Dennoch funktioniert dieses Buch auch als losgelöster Teil. Aufgrund eines misslungenen Einsatzes hat sie ihre Sehkraft verloren, ist durch ihre Blindheit enorm eingeschränkt, hat sich dennoch ihren Weg gesucht und lässt sich nicht entmutigen. Sie bleibt ihrer Laufbahn treu und ist nach einer Auszeit in ihre "Abteilung" zurückgekehrt. Sie wirkt teilweise sehr menschlich und verletzlich und doch scheint gerade ihre Beeinträchtigung ihre Stärke zu sein. Teilweise könnte man meinen sie hätte Superkräfte entwickelt und das macht sie dann als Protagonistin auch so faszinierend.
Und doch ist die ganze Geschichte, neben diesem ganzen Gemetzel, manchmal recht unreal. Man fragt sich häufig, ob Erzähltes überhaupt plausibel wäre. Und auch sonst wird der Leser bei diesem Thriller gedanklich sehr gefordert, teilweise kommen recht philosophische Fragen auf, zahlreiche Rückblenden sollen beim Verständnis helfen und lassen am Ende kaum Fragen übrig. "Geblendet" ist damit ein gelungener Abschluss einer eher anspruchsvollen Thriller-Trilogie, der jegliche Fragen beantwortet und doch gibt es hier und da so einzelne Abstriche, mit denen ich mich mit etwas Abstand vielleicht doch noch anfreunden kann.

Veröffentlicht am 13.10.2019

Beklemmend, düster, überrumpelnd - von der Geschichte in der Geschichte

Melmoth
0

Das neuste Werk "Melmoth" von Sarah Perry ist ein sehr aufwühlender Roman. Dies hat allerdings weniger mit der Geschichte der Protagonistin selbst zutun, denn obwohl Helen Franklin in Prag auf ein seltsames ...

Das neuste Werk "Melmoth" von Sarah Perry ist ein sehr aufwühlender Roman. Dies hat allerdings weniger mit der Geschichte der Protagonistin selbst zutun, denn obwohl Helen Franklin in Prag auf ein seltsames Dokument stößt, in dem von einer mysteriösen, angsteinflößenden Frau die Rede ist, und sie sich seitdem verfolgt fühlt, sind es eher die eingeschobenen Manuskriptfragmente, Briefe und Erinnerungen, die hier mit einer großen Intensivität hervortreten. Aber eins nach dem anderen...

"Während der vergangenen zehn Tage konnte ich an nichts anderes denken als an meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld! Ich kann nicht mehr schlafen. Ich spüre ihren Blick und drehe mich um, erfüllt von Hoffnung und Furcht und bin doch immer allein."

Und gerade diese Angst bringt J.A. Hoffmann um den Verstand. Auch er fühlt sich von ihr verfolgt. Melmoth, die Frau die dazu verdammt ist, auf ewig über die Erde zu streifen und nach Bösem und Niederträchtigem Ausschau zu halten. "Sie erscheint den Menschen am Tiefpunkt ihres Lebens, und nur die Erwählten spüren ihren Blick. Sie heben den Kopf, und plötzlich steht die Zeugin vor ihnen. Angeblich streckt sie dann die Arme aus und sagt: Nimm meine Hand! Ich war so einsam!" Natürlich ist dies nur eine Legende, doch Hoffmann ist sich sicher, Melmoth schon einmal begegnet zu sein. Damals zur Zeit des zweiten Weltkrieges in einem tschechoslowakischen Dorf, am östlichen Ufer der Eger. Heute lebt er in Prag und hat seine Schuld, seine Geschichte und Begegnung mit der düsteren Frau als Manuskript verfasst und bereits mehrfach überarbeitet. Nach dem plötzlichen Tod Hoffmanns gelangt Helen Franklin über Umwege an eben dieses Dokument. Sie ist zweiundvierzig Jahre alt und lebt hier seit einigen Jahren im selbst auferlegten Exil, denn auch sie hat ihre eigene, dunkle Vergangenheit. Mit Hoffmanns Manuskript über seine Kindheit, geprägt von Neid, Missgunst und den auflehnenden Wirrungen des Krieges, öffnen sich zahlreiche, weitere Abgründe. Berichte, Briefe, Tagebucheinträge, die von Melmoths Existenz berichten und ihre eigenen Erlebnisse greifen um sich. Sie fühlt sich verfolgt und ist sich sicher, Melmoth wird auch sie holen, aber dann...

"Wer außer mir wird von deiner Bosheit erfahren? Wer außer mir hat gesehen, was in deinem Herzen ist? Was soll aus dir werden, [...] wenn dei anderen davon erfahren? Wenn sie es sehen?" "Dann bin ich also verdammt", sagte ich. "Verdammt? Oh ja, du bist verdammt! [...] Erkennst du denn nicht, welche Strafe dich erwartet?"

Sarah Perry nimmt uns dieses Mal also mit nach Prag, einem sehr geschichtsträchtigem Ort. Ihre Hauptprotagonistin kommt ursprünglich aus Essex und hat sich über einige Umwege hier eingefunden. Und da ist sie wieder: die Verbindung zu ihrem Buch "Die Schlange von Essex", einer Geschichte in der die Wissenschaft und die Kirche aufeinandertreffen und dem Unheil in Form einer Schlange, die im Moor ihr Unwesen treibt, auf Spurensuche geht. In ihrem neuen Werk ist es nun die Legende einer schwarz gekleideten Frau, die Verdammte, die Zeugin des Unheils. Und gerade nach den ersten Zeilen befindet man sich als Leser erneut in dieser sehr mystischen, poetischen Welt, mit der Perry bereits in ihrem vorherigen Roman begeistern konnte. Doch dann wird es nach und nach tatsächlich etwas viel. "Melmoth" ist eher geprägt von unterschiedlichen Geschichten und Erinnerungen und weniger durch die im Klappentext versprochene Handlung und Hinweissuche. Und dabei meine ich nicht nur 'Geschichten' sondern gefühlt sind es beinahe schon eigenständige Buchanfänge oder Kurzfassungen, die in dieser Kombination einfach zu viel abverlangen. Mir z.B. hätte bereits die Geschichte von Hoffmann, die etwa ein Drittel des Buchs ausmacht voll und ganz gereicht, aber es gibt eben auch noch Briefe und weitere Fragmente, die von der Existenz Melmoths zollen und dann ist da auch noch Helens Vergangenheit, die ein weiteres Feld in diesem eher bunten Sammelsurium öffnet. Insgesamt ist es daher ein eher wuchtig daherkommendes Werk, das auch den Leser sehr in Beschlag nimmt und fordert, ihm teilweise sogar zu viel abverlangt. Und auch wenn im Nachhinein gerade dies so faszinierend ist, so enttäuscht ist man dann von der eigentlichen, mangelnden gegenwärtigen Handlung. Für mich ist es eine Mischung aus einer Legende, einer Juden- und Kriegsgeschichte, leicht poetisch, leicht verwirrend. Teilweise hat es mich an zahlreiche andere Bücher erinnert, die Perry vielleicht als Inspiration genutzt hat und dann musste ich tatsächlich sehr häufig an "Der Vogelgott" von Susanne Röckel denken, in dem es auch um eine ominös, angsteinflößende Gestalt in Form eines Vogels ging - mehr verwirrend, beklemmend, aufwühlend, als verständlich und nachvollziehbar. Dohlen kündigen in Perrys Roman das Unheil an, es könnte genauso gut eine Anlehnung an Hitchcocks "Die Vögel" sein und doch ist es in dieser Form sehr speziell und eigenartig.
Direkt nach der Lektüre war ich ausgelaugt und konnte dem Roman gar nicht so viel abgewinnen, doch mit der Zeit finde ich ihn mehr und mehr faszinierend. Es ist die Geschichte in der Geschichte, neben der Geschichte und doch ist alles eben jene Geschichte, die den Leser in Beschlag nimmt, stellenweise vielleicht enttäuscht, fraglich zurücklässt und dennoch sehr fordert. An einigen Stellen wendet sich das Buch direkt an den Leser und an anderen ist es einfach nur eine weitere Erzählung, die eben mehr überfordert, als tatsächlich nützlich ist. Von daher ist es von mir eine vorsichtige Empfehlung und doch hätte ich hier deutlich mehr erwartet.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Geschichte
  • Figuren
Veröffentlicht am 26.09.2019

Wir müssen reden!

Haymatland
0

Heimat ist ein großer Begriff, der gerade auch in den letzten Jahren vermehrt politisch inszeniert wird, sofern inszeniert hier das richtige Wort ist. Es gibt das 'neue' Heimatministerium, dessen Aufgabe ...

Heimat ist ein großer Begriff, der gerade auch in den letzten Jahren vermehrt politisch inszeniert wird, sofern inszeniert hier das richtige Wort ist. Es gibt das 'neue' Heimatministerium, dessen Aufgabe mir bislang eigentlich noch gar nicht so klar ist. Eher negativ fielen mir hier einige Äußerungen auf, die eher Abgrenzung statt Offenheit darstellten. Genauso wäre es dann mit dem rechten Flügel, der gerne 'seine' Heimat verteidigen möchte und vor Überfremdung schützen will. Doch bedarf Heimat überhaupt diese Gedanken? Und was ist Heimat eigentlich?

Für mich ist es die Kultur, die Lieblingsspeisen, Familie, Zusammenhalt, Freunde, die Landschaft, das Angekommenfühlen. Und dann bin ich auch genau da: Heimat ist eher meine Art Gefühl, meine Erinnerung, mein Ursprung. Alles andere ist beinahe unwichtig. Es ist egal wie viele Menschen hier und dort leben, ob man sich mit allen versteht, alle die gleichen Ansichten teilen und doch... an irgendeiner Stelle hakt es. Warum sonst sollen sich viele so bedroht fühlen, obwohl sie hier gar nichts zu befürchten haben? Wieso gönnt man es anderen Menschen nicht, die aufgrund von Notständen, Kriegen und Angst ihr Land und ihre Heimat und ihren Ursprung zurücklassen und sich nun hier eine neue Heimat aufbauen wollen? Wieso grenzen wir Menschen aus, die doch genau das gleiche Recht bekommen sollten wie jeder andere auch? Wieso... Wieso... Wieso. Viele Fragen und so wenige wirkliche Antworten. Die von mir sehr geschätzte Moderatorin und Journalistin Dunja Hayali hat sich mit ihrem Buch "Haymatland - Wie wollen wir zusammenleben?" an dieses Thema gewagt.

Und genau das tut sie dann auch. In diesem eigentlich recht dünnen Büchlein, beschreibt sie ihre Situation, ihre Gedanken und Wünsche/Hoffnungen/Ängste. Sie beschreibt ihre Bedeutung von Heimat und die Wichtigkeit des Ankommens und Aufgenommenwerdens. Was damals noch möglich war, scheint heute zahlreichen Menschen fremd, die Geste der Freundschaft, der Hilfe, der Offenheit. Heutzutage erwartet man von Flüchtlingen und Co häufig, dass sie sich integrieren, anpassen, in das starre System der Erwartungen einfädeln, doch ohne Unterstützung mangelt es auch an der Umsetzung. Vielen ist es nicht klar und großteils schlägt dieses Unverständnis und die Ablehnung in Frust, Hass und Gewalt um. Dunja Hayali, aber auch andere bekanntere und unbekannte Menschen, die sich hier eine Existenz aufgebaut haben oder gar hier aufgewachsen sind, sind aktuell gezwungen Position zu beziehen und sich vor Angriffen anderer Menschen zu verteidigen. So schildert sie auch hierzu ihre Position und geht (was ich sehr bewundernswert finde) recht offen damit um. Trotz Angst, Furcht, Einschüchterung, geht sie einen Schritt auf die Angreifer zu und versucht den Dialog zu nutzen, während andere hier bereits komplett dicht machen würden. Einzig die Kommunikation untereinander und das Verstehen des anderen kann sehr viel Schadensbegrenzung betreiben und ich finde gerade dies und noch so viel mehr wird in diesem recht schmalen Buch sehr deutlich. Hayali erörtert so z.B. auch das Sündenbockphänomen, geht auf den starken raueren Ton dank Internet und Anonymität ein, den generellen Rechtsdruck, der dann teilweise sogar die Abschaffung der eigenen Rechte nach sich zieht (siehe Türkei, Polen...).

Es gibt so viele Problemstellen, das kann man sich als weltoffener Mensch manchmal gar nicht vorstellen. Und doch, sind wir teilweise auch selbst schuld, denn wir wollen uns gefühlt über vieles aufregen. Wir hacken selbst auf unserer eigenen Sprache rum, sprechen gerne Englisch mit Urlaubern oder einfach weil es internationaler wäre. Eigentlich sind wir gar nicht so stolz auf unsere Sprache und doch regen wir uns über so kleine Worte wie Mohrenkopf, Neger, Schwarzer, Zigeuner... auf und doch bezweckt nicht jeder durch die Nutzung dieser Worte eine Diffamierung einzelner. Generell müsste man viel mehr im Zusammenhang betrachten, die Bedeutung ist entscheidend und gerade daran hapert es oftmals. Wir regen uns über kleine Sachen in einem großen komplexen System auf und erkennen das Wesentliche kaum... Wir erwarten von der Politik, dem Staat eine eindeutige Regelung und sind selbst überfordert anderen die Möglichkeit zu geben, genau das gleiche erreichen zu können, wie wir selbst. Wir hatten das Glück in einem privilegierten Land geboren zu sein, also sollten wir auch anderen keine Chance verwehren.

Im Großen und Ganzen kann ich nur sagen, dass dieses Buch sehr viele Gedanken, Denkanstöße und Möglichkeiten offenbart und mich doch am Ende etwas enttäuscht hat. Es stellt eine großartige journalistische Arbeit mit sehr viel persönlichem Einfluss dar. Hayali greift die großen 'Elemente' Heimat, Hass, Tatsachen, Hoffnung auf, doch es ist irgendwie nicht so rund wie ich gehofft hatte. Vielleicht war der Druck des Wollens etwas zu hoch oder die Zeit zu knapp, wer weiß? Gerade der Hoffnungs-Teil verliert bei mir beinahe komplett. Die Zurückweisung, dass Medien durch ihre Berichterstattung Menschen beeinflussen, gibt sie zwar zu, aber gerade die gängigen Medien tragen auch zur großen, negativen Meinungsbildung bei. Wieso wird z.B. ständig erwähnt, dass es ein syrischer Flüchtling war oder ein Mann irakischer Herkunft und nie, ein Deutscher? Wieso teilen Medien gerade Menschen, die ja eigentlich alle gleich behandelt werden sollten, in Gruppen auf und berichten dann doch am Ende oftmals sehr einseitig und aufmerksamkeitsstark. Wir machen selbst viele Fehler, das ganze System muss sich beinahe ständig neuen Herausforderungen stellen und sich hinterherhumpelnd anpassen. Vielleicht sollten die Medien gerade in dem Punkt anfangen und statt Sensationsgeilheit den Drang einer besseren Welt als Ziel nehmen. Natürlich braucht Deutschland dank demografischen Wandel auch Zuwanderer, die das ganze System stabilisieren, aber das dann u.a. wieder auf Pflegeberufe und Co zu reduzieren? Selbst da gibt es in Deutschland gewaltige Fehler, die einzig weiter ausgebaut werden und statt damals den Familienzusammenhalt zu stärken und möglich zu machen, eher Familien zu trennen und auseinanderzureißen. Es gibt so viele Schwachstellen, die hier Erwähnung finden sollten und die irgendwie am Ende aufgedröselt eine Chance ergeben könnten. Genauso wie hier hätte ich gerne mehr über die Frage "Wie wollen wir leben?" gewünscht, vielleicht verschiedene Stimmen, Ansichten, Gegenüberstellungen, persönliche Gedanken... Also für mich ist es so einfach nicht vollständig, es fehlt was, mehr Haymat und das ist wirklich schade.

Eigentlich sollte man dieses Buch jedem nahelegen, der etwas gegen den Staat, Andersgläubige oder allgemein Menschen hat, allerdings werden diese wahrscheinlich diese Art von Büchern eher sehr selten bis gar nicht lesen. Daher kann ich es nur als Anreiz zur offenen Diskussion empfehlen, denn gerade den Dialog braucht das Land, die Welt, die Menschheit. Und obwohl alles offener, vernetzter und verbundener ist, so fehlt es doch am Wesentlichen - der Kommunikation, dem Verständnis und der Akzeptanz. Es wäre also Zeit, dass wir gerade in den schwierigen Zeiten vermehrt daran arbeiten um wieder eine große Gemeinschaft bilden zu können, denn nur gemeinsam können wir die wirklich wichtigen Dinge und Probleme der Welt angehen und meistern.

Veröffentlicht am 23.07.2019

"Die Nickel Boys" von Colson Whitehead - Ein erschütterndes Zeugnis der Rassendiskriminierung in den 60er Jahren

Die Nickel Boys
0

Manchmal muss man nur zur falschen Zeit am falschen Ort sein und plötzlich wird das ganze Leben aus der Bahn geworfen. So ähnlich ergeht es zumindest dem Protagonisten in "Die Nickel Boys" von Colson Whitehead. ...

Manchmal muss man nur zur falschen Zeit am falschen Ort sein und plötzlich wird das ganze Leben aus der Bahn geworfen. So ähnlich ergeht es zumindest dem Protagonisten in "Die Nickel Boys" von Colson Whitehead.

Elwood ist ein recht fleißiger und intelligenter Junge, doch seine Hautfarbe legt ihm stets Steine in den Weg. Er lebt gemeinsam mit seiner Großmutter in Tallahassee. Im Ghetto der Schwarzen. Und von einem einfachen Leben kann man zu dieser Zeit einfach noch lange nicht sprechen. Schwarze wurden schikaniert, unterdrückt, nur als Hilfskräfte für das privilegierte, weiße Volk betrachtet. Schon seine Schulzeit war nicht unbedingt unproblematisch, gemischte Klassen gab es bis dato einfach nicht und niemand wollte die schwarzen Kinder an den Schulen haben. Und wenn, dann bekamen sie die alten, abgewetzten Bücher der Weißen, die sie voller rassistischer Botschaften für sie hinterließen. Doch Elwoods Lehrer glaubt an ihn und so soll es dann Anfang der 60er Jahre auch für ihn in eine Möglichkeit geben aufs College zu gehen. Elwoods Vorbild ist Dr. Martin Luther King und so träumt auch er von einem gerechten Leben. Und gerade das scheint mit Bildung nun für ihn möglich. Doch alles kommt anders als erwartet. Elwood gerät auf dem Weg zum College in ein gestohlenes Auto und so wird der sechzehnjährige Junge dann ohne ein gerechtes Verfahren in eine Besserungsanstalt, die Nickel Academy, gesperrt. Hier herrscht nicht nur strikte Rassentrennung und Selektion, sondern auch gewaltsame Unterwerfung. Ab und zu verschwinden spurlos Mitinsassen, teilweise begleitet von mysteriösem nächtlichen Dröhnen und Schreien. Und manchmal kommt es auch einfach so zu willkürlichen Bestrafungen durch die weißen Aufseher. Die Besserungsanstalt ist vergleichbar mit einer Vorstufe eines Arbeitslagers und nur wer nicht negativ auffällt, darf das Nickel nach seiner verhängten 'Haftstrafe' wieder verlassen, aber selbst das ist leichter gesagt als getan...


"Das ergab keinen Sinn. [...] Vielleicht hatte die Gewalt kein System, und niemand, weder Wächter noch Bewachte, wusste, aus welchem Grund sie etwas taten oder nicht. Dann war Elwood an der Reihe."


Whitehead hat sich mit diesem fiktionalen und doch auf Fakten basierenden Roman einem sehr ernsten und wichtigen Thema gewidmet. Rassismus, Unterdrückung, willkürliche Gewalt. Die 60er Jahre waren nach wie vor für die dunkelhäutige Bevölkerung eine sehr schwere Zeit und gerade diese Schwere, aber auch Willkür der Weißpriviligierten schwingt in nahezu jeder Zeile mit. Es ist kein einfaches Buch, dass man zur allgemeinen Nebenbeiunterhaltung nutzen kann, denn dafür ist das Geschehen einfach zu brutal und legt Zeugnis ab, von Dingen, die man in der heutigen Zeit nahezu ungeschehen machen möchte. Diskriminierung und Unterdrückung findet viele Wege und gerade Besserungsanstalten hatten in den USA einen großen 'Einfluss'. Und so öffnet Whitehead dem Leser auf diesem Weg noch einmal die Augen, was für ein Klima damals herrschte und wie schwer das speziell für die Nichtweißen war. Gerade deshalb ist das Buch für mich dann auch so etwas wie Pflichtlektüre - zum Verständnis, aber auch um sich in der heutigen Zeit der Ungerechtigkeit bewusst zu werden und die Vergangenheit nicht einfach unter den Tisch zu kehren.
Aber dieses Buch hat, wie ich finde, auch so einige Schwachstellen. Whitehead beschreibt vielfach die ausgeübte Gewalt, doch die meisten Erzählungen enden abrupt und ein neues Kapitel beginnt. Auch die Spannung kann er so nicht ununterbrochen aufrecht erhalten. Ähnlich verhält es sich dann auch mit den einzelnen Teilen selbst. Sobald man in das Geschehen hineingefunden hat, mitgerissen wurde, wird man auch wieder rausgeschmissen. Daher ist dieser Roman im Großen und Ganzen auch eher als eine Art Gedankenanstoß zu sehen, der den 'normal aufgeklärten' Leser, mehr mitnimmt und schockiert, aber eben auch mit seinen Gedanken alleine lässt. Und das empfinde ich gerade bei so ernsten Themenkomplexen etwas schwierig und schade.