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Veröffentlicht am 17.10.2019

Mir geht das Herz auf

Das Stundenbuch des Jacominus Gainsborough
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Jacominus Gainsborough, unser Protagonist, dessen Lebensgeschichte hier erzählt wird, ist ein Träumer. Er redet nicht viel, hängt eher seinen Gedanken nach. So werden beginnend mit Jacominus‘ Geburt einzelne ...

Jacominus Gainsborough, unser Protagonist, dessen Lebensgeschichte hier erzählt wird, ist ein Träumer. Er redet nicht viel, hängt eher seinen Gedanken nach. So werden beginnend mit Jacominus‘ Geburt einzelne Stationen seines Lebens thematisiert. Dabei wird über besonders herausfordernde Situationen, beispielsweise als er ein großes Schiff besteigt, und über Alltägliches wie das Herumtollen mit seinen Kindern berichtet. Bis auf eine Besonderheit, die Jacominus Gainsborough seit einem Unfall in seiner Kindheit prägt, führt er ein ganz normales, erfülltes Leben.

Dieses wunderschöne Buch ist aus meiner Sicht sowohl für Kinder als auch für Erwachsene gemacht. Textpassagen wechseln sich mit doppelseitigen Bildgeschichten ab. Während Kinder innerhalb der wunderschönen, großformatigen Illustrationen auf Entdeckungsreise gehen können, lesen Erwachsene vielleicht intensiver diesen berührenden, philosophischen Text. Die Gesamtstimmung des Buches habe ich, als Erwachsene, ganz schön traurig und etwas trüb empfunden. Erst die „Lebensabrechnung“ hat mir die Augen für die positive Gesamtbilanz in Jacominus‘ Leben geöffnet. Diese Erkenntnis lässt mich nachdenklich auf mein eigenes Leben und meine Zufriedenheit damit blicken.

Sprachlich ist die Lektüre ein Hochgenuss. Neben dem hohen Niveau in Rébecca Dautremer’s Ausdrucksweise, hat mir auch der Wechsel ins Englische sehr gut gefallen. Das ganze Buch erhält dadurch einen noch edleren, fast schon königlichen Touch. Ich freue mich schon darauf, diese Stellen gemeinsam mit meinem 10 Jährigen Kind zu lesen.

Schön dürfte es auch sein mit kleineren Kindern, die im Text genannten Figuren auf den Bildern ausfindig zu machen. Dafür lassen sich die Zeichnungen auf den Vorsatzblättern prima nutzen, vorn für die jungen Charaktere, hinten für die Charaktere im Alter. Herausragend aus der Masse der bebilderten (Kinder-) Bücher ist die vielleicht etwas altmodisch erscheinende, weniger übertrieben bunte Art der Zeichnungen. Sie wirken dadurch natürlicher, ruhiger und sind damit auch thematisch optimal. Sie gehen mir so richtig ans Herz.

Insgesamt brillant, ein Kunstwerk sozusagen, ich kann es nur empfehlen.

Veröffentlicht am 17.10.2019

Zeitgenössische Utopie

Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin
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Für mich war die Rückkehr von Motti Wolkenbruch das erste Buch von Thomas Meyer. Das Ergebnis vorwegnehmend wird es nicht mein letztes Buch von ihm sein. Thomas Meyer schreibt gesellschaftskritisch, ist ...

Für mich war die Rückkehr von Motti Wolkenbruch das erste Buch von Thomas Meyer. Das Ergebnis vorwegnehmend wird es nicht mein letztes Buch von ihm sein. Thomas Meyer schreibt gesellschaftskritisch, ist dabei satirisch und bissig. Obwohl ich als Leser ständig amüsiert war, behandelt "Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin" ernste Themen wie die Meinungsmache und die Verrohung der Gesellschaft durch soziale Medien. Seine eigentlich utopische Geschichte über Motti Wolkenbruch ist dabei so eng mit dem aktuellen Tagesgeschehen verknüpft, dass manche Katastrophe, die Thomas Meyer zeichnet, durchaus möglich, ja sogar realistisch erscheint.

Zunächst erschien mir Motti als Mitglied der einen von zwei rivalisierenden Gruppen ziemlich antriebs- und hilflos und auch recht naiv. Er war von seiner Familie verstoßen worden, weil er im ersten Band „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ ein Verhältnis mit einer Nicht-Jüdin hatte. Doch als man aufhört, ihn zu gängeln und zu kontrollieren, ist Motti scheinbar ohne große Anstrengung sehr wohl in der Lage wichtige und auch richtige Entscheidungen für seine Gruppe zu treffen und umzusetzen. Die so entstandene Mischung in seiner Persönlichkeit aus Muttersöhnchen und Anführer war mir wegen des extremen Widerspruchs, sowie der darin liegenden Komik sehr sympathisch.

So erreichen die zwei Gruppen, namentlich Motti‘s „Verlorene Söhne Israels“ und die Bewohner der Alpenfestung, mal geplant wirkend, mal per zufälliger, spontaner Eingebung eines Einzelnen stetig höhere Entwicklungsstufen. Zwischenzeitliche Rückschläge hatten für mich den belustigenden Charme von Ausrutschen oder Stolpern. In zwei Handlungssträngen bewegen sich nun die beiden Gruppen mit ihren konträren Zielen aufeinander zu. Eine apokalyptische Konfrontation ist vorprogrammiert und deren Ausgang ganz schön bedenklich. Trotzdem ist die gesamte Story urkomisch und witzig, hat mir ganz viel Spaß gebracht, aber auch ein schlechtes Gewissen, weil teilweise ich über böse Dinge so ausgiebig lachen musste.

In seiner Sprache bedient sich Thomas Meyer so manchem Klischee, ohne dass man es ihm übel nehmen kann, weil er sie so wunderbar einsetzt. Seine Wortwahl und der Habitus seiner Protagonisten ist typisch für den reellen Menschenschlag, den sie repräsentieren. Das war einfach nur köstlich. Als I-Tüpfelchen zu seinem ansteckenden Humor liefert uns Thomas Meyer neben kreativen Namens- und Wortschöpfungen eine Reihe an ernst zu nehmenden Zitaten, wie dieses hier (S. 161): „Wer braucht schon Panzer und Flugzeuge, wenn es Angst und Wut gibt? Sie kosten nichts, sind jederzeit verfügbar und bringen das Übelste in den Menschen hervor.“

Seine Satire auf das aktuelle Zeitgeschehen war für mich sensationell. Es gab nicht eine Sekunde Pause in dieser High-Level-Unterhaltung. Für den empfänglichen Leser folgt eine Pointe auf die Nächste. Thomas Meyer widmet sogar den großen merkwürdig kauzigen Charakteren unserer Zeit, die mit ihrem befremdlichen Gehabe für Unruhe sorgen, eigene Kapitel. So mutig und spitz muss Satire sein. Besser kann man es nicht machen.

Veröffentlicht am 16.10.2019

Mein erster Poetry Slam

Poet X
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Xiomara lebt mit ihrem Zwillingsbruder und ihren Eltern in New York unter schwierigen Bedingungen. Die aus der Dominikanischen Republik stammende Mutter ist dem katholischen Glauben verfallen, erwartet ...

Xiomara lebt mit ihrem Zwillingsbruder und ihren Eltern in New York unter schwierigen Bedingungen. Die aus der Dominikanischen Republik stammende Mutter ist dem katholischen Glauben verfallen, erwartet auch von Xiomara strenge Gläubigkeit. Gleichzeitig muss sich Xiomara mit ihrer Wertigkeit als Frau auseinander setzen. Nur ihr Bruder darf eine „gute“ Schule besuchen. Zudem muss Xiomara ständig sexistische Anmachen über sich ergehen lassen. Als sie sich dann in ihren Klassenkameraden Aman verliebt, nimmt ihr problembehaftetes Leben schwer zu ordnende Züge an.

Elizabeth Acevedo schreibt so eindringlich, dass ich blitzschnell und intensiv in die Geschichte hineingezogen wurde. Es fühlte sich an, als würde mir das alles gerade passieren. Trotzdem hatte ich stets eine jüngere Version der Autorin vor Augen. Vermutlich hat das Cover mit der kraushaarigen Schönheit dieses Bild in mir erzeugt. Ich mochte die gedichtartige Aufteilung, auch die manchmal überraschende Anordnung des Textes sehr. Es entstand ein für mich ganz neues Lese-Feeling. Es war ein bisschen wie ein Wettrennen, aber ich konnte nicht anders, als immer nur weiter zu lesen.

Xiomara, später Poet X, ist mir sehr ans Herz gewachsen. Sie geht den unbequemen Weg, bleibt sich selbst dabei immer treu, auch wenn sie dafür ihre Mutter zutiefst verletzen muss. Ihre Entwicklung von der schweigsamen, sich ihrer Fäuste bedienenden Xiomara, hin zu Poet X, die ihre Gefühle zunächst in einer Art Tagebuch niederschreibt, dann der Einladung ihrer überaus engagierten Lehrerin in den Slam-Poetry-Club folgt und letztlich öffentlich mit ihren Gedichten auftritt, fand ich wunderbar.

Fazit: „Poet X“ ist ein Buch über das Erwachsenwerden, über das Zu-sich-selbst-Finden, über eine Glaubenskrise und über die erste Liebe. Obwohl durchaus ernste Themen wie Gewalt und Sexismus behandelt werden, kommt dieser slammende Poetry-Roman mit einer mitreißenden Leichtigkeit daher. Das hat mir mehr als nur gefallen. Ich empfehle Elizabeth Acevedo‘s Debüt gern weiter. Versucht einzelne Abschnitte (oder auch Alles) laut, also mit Stimme. Das kommt dann richtig cool.

Veröffentlicht am 18.09.2019

Mein Thriller-Favorit 2019

Zimmer 19
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Meine Freude war riesig als ich „Zimmer 19“, den neuen Fall von Tom Babylon und Sita Johanns entdeckte. War doch „Schlüssel 17“ letztes Jahr einer meiner liebsten Thriller. Wunderbar getimt, erscheint ...

Meine Freude war riesig als ich „Zimmer 19“, den neuen Fall von Tom Babylon und Sita Johanns entdeckte. War doch „Schlüssel 17“ letztes Jahr einer meiner liebsten Thriller. Wunderbar getimt, erscheint der neue Thriller anderthalb Jahre später, wie auch der neue Fall auf der Berlinale anderthalb Jahre nach der Dom-Sache stattfindet, Echtzeit quasi.

Dieses Mal ist ein Video, das eine Vergewaltigungsszenerie mit anschließender Ermordung des Opfers zeigt, der Ausgangspunkt für Toms Ermittlungen. Statt des ersten Berlinale-Films wurde das Gewaltvideo auf der Eröffnungsveranstaltung tausendachthundert mehr oder weniger prominenten Gästen vorgeführt. Besonders schockierend ist die Art der Ermordung, brisant die Herkunft/der Name des Opfers.
In einem zweiten Handlungsstrang durften wir die jugendliche Sita näher kennen lernen, was mir durchaus zu pass kam, da mir Sita im ersten Band schon sehr speziell erschien, nicht negativ, sondern eher in Richtung außergewöhnlich, also ziemlich kaltschnäuzig, abgebrüht, überdurchschnittlich mutig. Wie sie zu dieser Persönlichkeit geworden ist, blieb in „Schlüssel 17“ weitgehend verborgen. Es ist schön, sie jetzt besser verstehen zu können.
Zwei weitere Bekannte aus „Schlüssel 17“ treten gleich am Anfang wieder mit in die Handlung ein, Viola und Toms Freund Bene. Ich war ja so gespannt beim Lesen, ob von der Ungewissheit, die Tom umgibt, etwas mehr ans Licht kommt.

Sita rückt nun mehr in den Vordergrund. Ihr Schicksal, insbesondere die Ereignisse aus ihrer Teenagerzeit, sind nichts für schwache Nerven. Was sie alles ertragen musste, ist schon beim Lesen fast nicht auszuhalten. Für mich ist gut nachvollziehbar, dass sie auch heute noch daran zu knabbern hat, beispielsweise mit ihrer Angst vor dunklen, abgegrenzten Räumen. Ich bewundere Sitas Art dem Leben und seinen Unwegbarkeiten zu trotzen.

Tom mag ich weiterhin sehr gern, weil er weit ab von perfekt ist. Zudem ist er ein Macher, kein Rückversicherer. Mit seiner Intuition agiert er spontan, überdreht manches Mal, kommt aber letztlich, wenn auch auf Umwegen zum Ziel. Dabei hasst Tom sinnlose oder übertriebene Spielregeln genau wie ich, nur das er es schafft, sie ganz einfach zu brechen. Er ist in diesem Sinne so, wie ich gern wäre, aber nicht bin, weil ich mir das nicht traue.

Marc Raabe konstruiert mit „Zimmer 19“ ein geniales Wechselspiel zwischen dem Berlinale-Fall und der Vergangenheit, sowie tolle Szenenwechsel bei den Ermittlungen. Die Szenenwechsel mochte ich besonders gern im Rahmen von Befragungen. Immer gerade dann, wenn es spannend war, wurde umgeschaltet. Diese Cliffhanger lassen ein gefährliches Suchtpotential beim Leser entstehen. Sehr gelungen waren auch die Verbindungen zum 1. Fall, wie auch zu Toms Vergangenheit, von der wir in „Schlüssel 17“ lesen durften.

Fazit: Aus meiner Sicht konnte Marc Raabe sich mit „Zimmer 19“ nochmal steigern. Auch wenn es sich in der Bewertungsskala nicht niederschlagen kann, hat mir „Zimmer 19“ noch ein Tucken besser gefallen. Ich denke: Wer „Schlüssel 17“ mochte, wird „Zimmer 19“ lieben.

Veröffentlicht am 07.09.2019

Mutig wie die Musketiere

Über die Grenze
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Die Geschichte beginnt im Nazi-besetzten Norwegen 1942 im Haus der Wilhelmsens. Neben den Eltern, die eine Arztpraxis betreiben, gehören Otto, zwölf, Gerda, zehn, und die Haushälterin Klara zur Familie. ...

Die Geschichte beginnt im Nazi-besetzten Norwegen 1942 im Haus der Wilhelmsens. Neben den Eltern, die eine Arztpraxis betreiben, gehören Otto, zwölf, Gerda, zehn, und die Haushälterin Klara zur Familie. Seit einigen Tagen schon gehen merkwürdige Dinge im Hause Wilhelmsen vor sich und plötzlich steht der Polizeiapparat der Besatzer vor der Tür. Viel zu spät erkennt Gerda, dass ihre Eltern zwei jüdische Kinder, Daniel und Sarah, im Haus versteckt hatten. Auf sich allein gestellt, flüchten die Kinder nach Schweden, wo der jüdische Vater wartet.

Wie bei den Abenteuern der drei Musketiere, dem Buch, das die Kinder gern und oft lesen, wird die Reise nach Schweden zwischenzeitlich extrem gefährlich. Überall lauern Kontrollen und Verräter. Wem soll man noch vertrauen? Doch die Kinder, die sich vielleicht anfänglich uneins waren über die richtige Vorgehensweise, halten zusammen, finden Verbündete und wachsen insgesamt über sich hinaus.

Ich mag Maja Lunde, weil sie es schafft, ernste Themen literarisch zu bearbeiten, ohne damit den Leser zu verschrecken. Wie schon bei der Geschichte der Bienen / des Wassers, berichtet sie auch hier von Fakten ohne einen zu arg anklagenden oder verurteilenden Ton anzuschlagen. Zudem lässt sie die Kinder trotz Krieg und Flucht weiterhin Kinder sein. Sie streiten sich, toben, sind leichtsinnig, manchmal frech. Sie macht es immer wieder spannend und führt die Geschichte haarscharf am Scheitern vorbei. Das Ende ist für den Erwachsenen etwas unglaubwürdig, aber für Kinder der empfohlenen Altersgruppe optimal, genau so wie es ist.

Fazit: An diesem historischen Kinderbuch „Über die Grenze“ gibt es überhaupt nichts zu meckern. Schon 9-Jährige können in ein bitteres Kapitel der europäischen Geschichte eintauchen, ohne in ihrem Gemütszustand zu stark erschüttert zu werden. Trotzdem ist nichts beschönigt oder verniedlicht, die Fakten sind sachgerecht, aber eben gleichzeitig kindgerecht aufbereitet. Ich kann die Lektüre nur empfehlen.