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Veröffentlicht am 08.11.2019

Ein besonderes Leseerlebnis

Nichts weniger als ein Wunder
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Es ist sicher keine leichte Kost, die uns Markus Zusak hier in mehr als sechshundert Seiten vorsetzt. Eine Geschichte, die sich sprunghaft - mal rückblickend, mal gegenwartsbezogen - auf ihr Ziel zubewegt: ...

Es ist sicher keine leichte Kost, die uns Markus Zusak hier in mehr als sechshundert Seiten vorsetzt. Eine Geschichte, die sich sprunghaft - mal rückblickend, mal gegenwartsbezogen - auf ihr Ziel zubewegt: die Erklärung dessen, was der Autor als „Nichts weniger als ein Wunder“ betitelt.
Matthew, der älteste der fünf Dunbar-Brüder, rollt die komplette Geschichte der „Bruchbude von einer Familie“ auf und lässt dabei dem stillen Clay, dem Zweitjüngsten, eine Hauptrolle zukommen. Geprägt vom frühen Tod ihrer Mutter und dem Verschwinden des Vaters bemühen sich die Brüder, allein zurechtzukommen. Ganz authentisch und nachvollziehbar beschreibt Zusak, wie die Jungen ihre Trauer mit einem rauhen Umgangston überspielen und ihre Gefühle in Wettkämpfen und Prügeleien ausdrücken. Die griechischen Klassiker, die sie schon als Kinder geliebt haben, halten die Brüder zusammen, Ilias und Odyssee sind auch passende Namengeber für die Haustiere der fünf. Den wichtigsten Platz nimmt hier Achilles, das Maultier, ein. Als eines Tages der Vater der Söhne, stets als „der Mörder“ bezeichnet, wieder auftaucht, beschließt Clay, ihm zu folgen und mit ihm gemeinsam ein Projekt durchzuführen: eine Brücke.
Empathisch, aber keineswegs sentimental lässt Zusak wechselweise Ereignisse der Vergangenheit und die Situationen der Gegenwart lebendig werden, so dass nach und nach deutlich wird, wie untrennbar beide miteinander verflochten sind. Er bedient sich einer nüchternen, klaren Sprache, jongliert mit den Worten, setzt sie neu zusammen. Diese ungewöhnlichen Wortkombinationen lassen im Kopf des Lesers fantasievolle Bilder entstehen. Ein Leseerlebnis der besonderen Sorte.

Veröffentlicht am 08.10.2019

Historische Gerechtigkeit?

Wallace
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Ruhm heimst jeweils nur derjenige ein, der als erster etwas Neues entdeckt - und publik macht. So wird Charles Darwin der Verdienst für die Entwicklung der Evolutionstheorie zuerkannt. Gleichzeitig mit ...

Ruhm heimst jeweils nur derjenige ein, der als erster etwas Neues entdeckt - und publik macht. So wird Charles Darwin der Verdienst für die Entwicklung der Evolutionstheorie zuerkannt. Gleichzeitig mit ihm kam Alfred Russel Wallace zu derselben Erkenntnis und teilte sie seinem großen Vorbild Darwin mit; doch dieser kam ihm mit einer Veröffentlichung zuvor. Einhundertfünfzig Jahre später stellt sich ein Museumswächter die Frage, ob es rechtens ist, dass Wallace in Darwins Schatten steht.
Viel Recherchearbeit hat Anselm Oelze für seinen Debütroman aufgewandt. Sehr bildhaft schildert er das Leben des Autodidakten Wallace und seine abenteuerlichen Forschungsreisen in den tropischen Regenwald. Dabei ist Wallace kein Held, sondern ein eher schüchterner Mensch, der mit etlichen Misserfolgen zu kämpfen hat. Im schönen Wechsel mit Wallaces abwechslungsreichen Erlebnissen in der Mitte des 19. Jahrhunderts beschreibt der Autor mit leiser Ironie den gleichförmigen Alltag des Museumsnachtwächters Bromberg im 21. Jahrhundert. Bromberg, der sich für Wallaces Werk interessiert und sich genauer informiert, fragt sich, ob an dem Satz „Geschichte ist nun einmal die Gesamtheit dessen, was geschehen ist. Und was geschehen ist, lässt sich nicht mehr rückgängig machen“ nicht zu rütteln ist. Und so entwickelt er eine Idee…

Veröffentlicht am 04.09.2019

Jeder kann seine Fesseln lösen...

Ein anderer Takt
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"Warum zerstört Tucker sein Eigentum?" fragen sich die Einwohner von Sutton, einem fiktiven Ort in einem fiktiven Südstaatenland der USA, entgeistert. Der afroamerikanische Farmer Tucker Caliban, Abkömmling ...

"Warum zerstört Tucker sein Eigentum?" fragen sich die Einwohner von Sutton, einem fiktiven Ort in einem fiktiven Südstaatenland der USA, entgeistert. Der afroamerikanische Farmer Tucker Caliban, Abkömmling ehemaliger Sklaven, ruiniert eines Tages sein Ackerland, indem er eine Fuhre Salz „sät“, er erschießt sein Vieh, brennt sein Haus nieder und zieht mit seiner Familie und nur wenig Gepäck auf und davon. Der schwarze Teil der Bevölkerung Suttons scheint - nach dem ersten Erstaunen - Tuckers Beweggründe begriffen zu haben und folgt seinem Beispiel, so dass nach und nach zunächst die Stadt und dann der Bundesstaat seine farbigen Arbeitskräfte verliert.
Eine direkte Antwort auf das "Warum" gibt der Autor in seinem Roman nicht. Er nähert sich der Rassenproblematik schrittweise, indem er sie aus den Perspektiven unterschiedlicher (allerdings nur weißer) Personen aus Tuckers Umgebung beleuchtet. Durch die differenzierten Gedanken und Erinnerungen der einzelnen erzählenden Charaktere erstellt Kelley nicht nur ein Porträt Tuckers, sondern setzt ihn und sein folgenreiches Handeln zugleich in den großen Kontext von Rassentrennung und Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Sein schlicht gehaltener Schreibstil - verständlich für alle Leserschichten - passt sich dabei dem Ton der Bevölkerung an und lässt die Figuren authentisch erscheinen.
Obwohl Tucker selbst gar nicht zu Wort kommt, ist er es, der den Rhythmus des Romans bestimmt; mit seinem für die Weißen unbegreiflichen Akt, der Vernichtung seiner bisherigen Lebensgrundlage, ändert er den Takt, nach dem das Leben in Sutton jahrzehntelang ablief, in einer Art gewaltlosem Widerstand.
Kelleys Roman, bereits 1962 in New York erschienen, aber jetzt zum erstenmal ins Deutsche übersetzt, hat nicht an Aktualität eingebüßt - rassistisches Gedankengut wird wohl immer einen Nährboden haben. Umso wichtiger ist es, dass Autoren wie William Melvin Kelley Gehör verschafft wird!

Veröffentlicht am 11.08.2019

Lachen und weinen zugleich

Der Doktor braucht ein Heim
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„Endlich, endlich kehre ich heim“, so der Stoßseufzer des Doktors. Er hat als Chemiker einmal hohe Auszeichnungen erhalten, doch nun ist er alt, allein in seinem Haus und lebt mit seinen Erinnerungen. ...

„Endlich, endlich kehre ich heim“, so der Stoßseufzer des Doktors. Er hat als Chemiker einmal hohe Auszeichnungen erhalten, doch nun ist er alt, allein in seinem Haus und lebt mit seinen Erinnerungen.
Zeitlich ungeordnet, leicht chaotisch, reihen sich die erinnerten Erzählungen des Doktors aneinander, passend zu seiner mentalen Befindlichkeit. Erst nach und nach merkt der Leser, was es mit dem Doktor und seiner vergötterten Schwester Zescha auf sich hat.
Ohne Rührseligkeit, aber mit trockenem Humor und viel Ironie versteht es die Autorin, den Leser zu fesseln. Sie lässt den Doktor seine Lebensgeschichte selbst erzählen - Vergangenheit und Gegenwart, größere und kleinere Ereignisse, wie sie sich aus seiner Perspektive darstellen und ihm gerade in den Kopf kommen. Seine Gedanken und Einsichten mögen zunächst verwirren, dazu kommt das Wortspiel um „heim“ und „Heim“. Ob sich sein Wunsch nach Heimkehr erfüllt?
Lachen und Weinen liegen hier nahe bei einander. „Der Doktor braucht ein Heim“ ist eine Erzählung, in der sich Traurigkeit und Humor vermischen.

Veröffentlicht am 11.08.2019

Anregendes Sachbuch

Tierische Jobs
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Jeder weiß, wie unersetzlich Hunde als Helfer des Menschen sind; ihre vielfältigen Aufgaben als Jagd-, Wach-, Such- oder Rettungshunde sind hoch geschätzt; ebenso wichtig ist ihr Einsatz als Blindenführer. ...

Jeder weiß, wie unersetzlich Hunde als Helfer des Menschen sind; ihre vielfältigen Aufgaben als Jagd-, Wach-, Such- oder Rettungshunde sind hoch geschätzt; ebenso wichtig ist ihr Einsatz als Blindenführer. In Mario Ludwigs neuem Buch erfahren wir, dass sie auch als Diabetikerwarnhunde tätig sein können, die in der Lage sind, „ihrem“ Menschen im Ernstfall das Leben zu retten.
Sehr unterhaltsam und unkompliziert schildert der Biologe interessante und erstaunliche Fakten aus dem Einsatz von Tieren für menschliche Belange. Dabei erwähnt er nicht nur Säugetiere. Seine (gut gelungene) Auswahl erstreckt sich weiter über Amphibien, Fische und Vögel bis hin zu Insekten. So erfahren wir etwa, dass Bienen am Hamburger Flughafen zur Aufdeckung von Luftverschmutzung durch den Flugverkehr beitragen, Adler als Drohnenabwehrjäger eingesetzt werden, Kangalfische als „Fußpfleger“ tätig sind oder eine Milbe namens Tyroglyphus casei an der Herstellung einer speziellen Käsesorte beteiligt ist. Doch bei allen kuriosen Details lässt Ludwig auch die negativen Seiten einzelner „Jobs“ nicht unerwähnt: die Ausbeutung und Gefährdung von Tierbeständen. Abgerundet wird das handliche Buch von einem umfangreichen Literaturverzeichnis, das den Leser zu weiteren Recherche-Streifzügen ermutigt.
Mein Fazit: Ein rundum gelungenes Sachbuch, anregend und informativ, aber nicht mit Fachwissen überfrachtet.