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Veröffentlicht am 23.11.2019

Spannender Krimi über die letzten Tage des Nazi-Regimes

Totenland
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REZENSION – Beherrschten bislang eher die Vorkriegs- und Nachkriegsjahre das Genre aktueller historischer Romane, schlägt jener norddeutsche Arzt und Buchautor, der kürzlich sein Krimi-Debüt unter dem ...

REZENSION – Beherrschten bislang eher die Vorkriegs- und Nachkriegsjahre das Genre aktueller historischer Romane, schlägt jener norddeutsche Arzt und Buchautor, der kürzlich sein Krimi-Debüt unter dem Pseudonym Michael Jensen im Aufbau-Verlag veröffentlichte, ein neues und literarisch weit schwierigeres Kapitel deutscher Zeitgeschichte auf: Sein lesenswerter Roman „Totenland“ spielt in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs – also in der Zeit des Zusammenbruchs, als das Dritte Reich eigentlich schon untergegangen war, Hitler im Führerbunker Selbstmord beging, führende Nazi-Funktionäre sich vor den alliierten Siegermächten in Sicherheit brachten, Flüchtlinge aus dem Osten in Westdeutschland Zuflucht suchten, die dort in zerbombten Städten hilflos zurückgelassene Bevölkerung notdürftig zu überleben versuchte, viele Menschen aber in ihrer Verzweiflung den Freitod wählten. In diesen wirren Tagen des Untergangs beginnt Michael Jensens Krimi „von Opfern und Tätern“ mit einem „Mord in Deutschlands Stunde Null“.
Ein hoher Parteibonze wurde nahe einem Bauernhof ermordet. Der früher in der Berliner Mordkommission unter dem legendären Kripochef Ernst Gennat (1880-1939) ausgebildete, inzwischen aber nicht nur wegen seiner beim Fronteinsatz erlittenen Handamputation als Dorfpolizist in die Provinz abgeschobene Kriminalinspektor Jens Druwe nimmt die Ermittlungen auf. Seine für den Mordfall zuständigen Kripo-Kollegen aus der Stadt stempeln einen aus dem KZ Fuhlsbüttel entkommenen Häftling und „Volksschädling“, der auf dem Bauernhof untergetaucht war, schnell als Täter ab. Doch dem trotz Kriegseinsatz sowie beruflicher und menschlicher Erniedrigungen gedemütigte Druwe geht es um Gerechtigkeit. Er ermittelt trotz mancher Drohung seiner Vorgesetzten weiter und stellt sich den Profiteuren des untergehenden Regimes allein entgegen.
So spannend die Kriminalhandlung auch ist, geht es dem Autor in seinem Buch weniger um den Mordfall und die nachfolgenden Ermittlungen. Beides dient ihm vielmehr zur Darstellung der von den Menschen unter dem Nazi-Regime und im Krieg erlittenen seelischen Folgen – nicht nur bei Opfern, sondern auch bei Tätern, wobei die Grenzen zwischen beiden oft fließend sein können, wie wir im Roman an Beispielen erfahren. Jensen entwickelt ein genaues Psychogramm seiner charakterlich so unterschiedlichen Figuren und zeigt damit die Vielschichtigkeit der Gesellschaft auch in der Nazi-Diktatur. Die Menschen lassen sich eben nicht nur in Schwarz und Weiß einteilen, sondern es gibt auch ein in vielen Schattierungen nicht immer leicht erkennbares Grau. Parallel zur spannenden Kriminalhandlung sowie zur treffenden Charakterisierung seiner Protagonisten gelingt es dem Autor hervorragend, die düstere Stimmung im Alltag des untergehenden Deutschlands zu schildern.
Der Debütroman „Totenland“ von Michael Jensen ist nicht nur Liebhabern von [historischen] Krimis zu empfehlen, sondern ist in jedem Fall lesenswert, vielleicht gerade auch für die Generationen der Nachgeborenen: Der Roman zeichnet auf beeindruckende Weise ein genaues - wenn auch zeitlich und räumlich eingeschränktes - Bild Deutschlands gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. „Totenland“ wurde vom Aufbau-Verlag als erster Band einer Jens-Druwe-Reihe angekündigt. Man darf also auf den zweiten Band „Totenwelt“ gespannt sein, dessen Veröffentlichung für Mitte Juni 2020 vorgesehen ist.

Veröffentlicht am 16.11.2019

Lacroix - ein würdiger Nachfolger von Kommissar Maigret

Lacroix und die Toten vom Pont Neuf
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REZENSION – „Maigret, Telefon für Sie.“ Gleich der erste Satz in dem kürzlich im Kampa-Verlag veröffentlichten Roman „Lacroix und die Toten vom Pont Neuf“, dem Krimidebüt eines geheimnisvollen, unter dem ...

REZENSION – „Maigret, Telefon für Sie.“ Gleich der erste Satz in dem kürzlich im Kampa-Verlag veröffentlichten Roman „Lacroix und die Toten vom Pont Neuf“, dem Krimidebüt eines geheimnisvollen, unter dem Pseudonym Alex Lépic schreibenden deutschen Schriftstellers (39), zeigt uns, womit wir es zu tun haben: Der augenzwinkernde Krimi ist eine Verbeugung vor Georges Simenon (1903-1989) und dessen Figur Kommissar Maigret. Held des aktuellen Romans ist Commissaire Lacroix, der „beste Kommissar von Paris“, doch in seinen altmodischen Marotten und seinem Äußeren dem literarischen Vorgänger zum Verwechseln ähnlich. Kein Wunder also, dass die Lehrerin einer Schulklasse vor dem ebenfalls im Kommissariat untergebrachten Polizeimuseum im fünften Arrondissement am linken Seineufer diesen Kommissar in Hut und Mantel und Pfeife im Mund anstarrt, als er mit seinem Mitarbeiter Paganelli das Gebäude verlässt. Paganelli, schlagfertig wie so oft, nutzt ihr Staunen: „Schauen Sie ruhig hin, das ist er. Direkt aus dem Museum: unser Commissaire Maigret. Wir müssen ihn uns kurz für eine Ermittlung ausleihen. Aber keine Sorge, wir bringen das wichtigste Exponat nachher wieder zurück.“ Jetzt wissen wir es: Lacroix ist der neue Maigret!
Gerade aus dem Urlaub zurück, wird Lacroix vom Vorgesetzten mit der Aufklärung eines Mordfalles beauftragt: „Ein toter Clochard. Und um das Klischee vollständig zu bedienen: Er liegt unter dem Pont Neuf.“ Autor Alex Lépic scheut sich also nicht, selbst von Klischees zu sprechen, von denen er in seinem Roman reichlich Gebrauch macht. Doch was in anderen Romanen stört, nimmt man hier in Erinnerung an die Maigret-Klassiker gern an. Es gibt sogar gleich drei Tote in drei Nächten, alle ermordet unter den Brücken der Seine. Schnell erinnert sich die Pariser Öffentlichkeit an eine vergleichbare Mordserie vor 30 Jahren. Lacroix versucht nun wie sein „Vorbild“ mit Intuition und Menschenkenntnis die Mordfälle aufzuklären, was ihm binnen weniger Tage natürlich gelingt.
Fast scheint es, als arbeite Lacroix nur selten im Kommissariat. Ständig begleiten wir ihn, wenn nicht direkt im Außeneinsatz, bei seinen Spaziergängen in der Altstadt auf den Boulevards, am Ufer der Seine oder bei seinen regelmäßigen Abstechern in Brasserien und Cafés, vor allem in sein Stammbistro „Chai de l’Abbaye“. Hier trifft sich Lacroix nicht nur täglich mit Freunden oder sogar zum Gespräch mit Zeugen. Hier nimmt er auch wichtige Anrufe entgegen oder telefoniert selbst. Denn Lacroix verabscheut Handys und die modernen Technologien. Kollegen, sogar sein Vorgesetzter und seine Ehefrau kennen seinen Tagesrhythmus und rufen, wenn sie ihm Wichtiges mitzuteilen haben, kurzerhand im „Chai“ an, weshalb sich dessen Wirtin Yvonne nicht selten und nur scheinbar widerwillig wie seine Sekretärin fühlt. Doch sie hilft ihm gern, ist sie doch seine Vertraute, akzeptiert seine schrulligen Gewohnheiten, weiß genau, wann Lacroix etwas zu essen wünscht oder seine Ruhe braucht, um über den aktuellen Fall zu grübeln.
Mit „Lacroix und die Toten vom Pont Neuf“ ist dem Kampa-Verlag ein lesenswerter Überraschungscoup gelungen, der nahtlos an jene Maigret-Klassiker anschließt, die vom Verlag gerade in neuer Übersetzung herausgegeben werden. Wir dürfen deshalb schon auf „Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain“ gespannt sein, den zweiten Band der Lacroix-Reihe, der für März angekündigt ist.

Veröffentlicht am 02.11.2019

Unterhaltsamer, humorvoller und spannender Krimi - trotz mancher Länge

Arrowood - Die Mördergrube
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REZENSION – Mit „Arrowood – Die Mördergrube“ erschien kürzlich der zweite Band in der Reihe historischer Krimis des britischen Schriftstellers Mick Finley. Wieder begleiten wir im viktorianischen London ...

REZENSION – Mit „Arrowood – Die Mördergrube“ erschien kürzlich der zweite Band in der Reihe historischer Krimis des britischen Schriftstellers Mick Finley. Wieder begleiten wir im viktorianischen London des Jahres 1896 seinen Protagonisten William Arrowood, den leider nur zweitbesten Privatdetektiv nach Sherlock Holmes, und seinen Assistenten Norman Barnett „In den Gassen von London“ (2018), wie schon der erste Band hieß, bei der Aufklärung eines überaus mysteriösen Kriminalfalles.
Der Reiz dieser Reihe ergibt sich einerseits aus dem seelischen Konflikt Arrowoods mit dem in der Londoner Öffentlichkeit gefeierten Holmes. Während der „beste Privatdetektiv der Welt“ als aristokratisch wirkende Erscheinung in seinem luxuriösen Apartment in der Baker Street wohnt und dank seines eloquenten Intellekts beim virtuosen Geigenspiel die schwierigsten Fälle löst, muss der fettleibige Arrowood mit seiner Schwester Ettie in einer Arbeitersiedlung zur Untermiete wohnen. Verdient Holmes beim Auffinden eines vermissten Adelssprosses in nur zwei Tagen 6 000 Pfund, muss sich Arrowood mit 20 Shilling pro Tag begnügen, nicht selten dafür auch noch verprügeln lassen. Dabei fühlt er sich nach Lektüre einiger Bände psychologischer und medizinischer Fachliteratur dem berühmten Holmes intellektuell durchaus ebenbürtig, und jede Lobeshymne auf Holmes in den Zeitungen lässt den gefühlsbetonten Arrowood vor Zorn erzittern.
Im zweiten Band der Krimireihe wird dieser „zweitbeste Privatdetektiv“ vom Ehepaar Barclay beauftragt, ihre geistesschwache Tochter Birdie zu kontaktieren, die seit sechs Monaten auf einem Bauernhof außerhalb Londons verheiratet ist. Jeglicher Kontaktversuch mit der Tochter war den Barclays von der Farmerfamilie bisher verweigert worden. Arrowoods Assistent Norman Barnett, der uns vergleichbar zu Holmes' Assistent Dr. Watson an der Ermittlungsarbeit und den Missgeschicken seines Arbeitgebers teilhaben lässt, erzählt nun, wie Arrowood in strapaziösen Schritten üblen Machenschaften und einem Korruptionsfall auf die Schliche kommt, dabei aber, von Gefühlen allzu sehr geleitet und in seinen Maßnahmen oft recht tolpatschig, von einer Katastrophe in die nächste stolpert. Am Ende kommt es natürlich wie immer: Nicht Arrowood und Barnett werden in den Zeitungen als Helden gefeiert, sondern die Londoner Polizei und andere Profiteure.
Ein anderer Reiz auch dieses Romans liegt in der detaillierten Schilderung der damaligen Lebenssituation des Londoner Proletariats: Unrat auf Straßen und in Häusern, von Krankheiten gezeichnete Menschen, Saufgelage und Prügeleien bestimmen das Bild des Alltags. Hauptthema dieses zweiten Bandes ist der Umgang der damaligen Gesellschaft mit Schwachsinnigen und Menschen mit Downsyndrom, damals noch Mongoloide genannt, und der erbarmungslose und unwürdige Zustand in Armenhäusern und Nervenheilanstalten, die damals noch als Irrenhäuser bezeichnet wurden.
Der stark übergewichtige, verfressene und versoffene Privatdetektiv William Arrowood ist nicht nur als Privatermittler, sondern auch als Mensch gewiss nicht perfekt, was auch sein Assistent und Leibwächter Barnett oft zu spüren bekommt. Doch trotz allem lässt ihn Autor Mick Finley, hauptberuflich Psychologe und Universitätsdozent, auf uns durchaus sympathisch wirken: Wir freuen uns über die seltenen Erfolge des Privatdetektivs, leiden aber umso öfter bei Arrowoods Misserfolgen.
„Arrowood – Die Mördergrube“ ist wie schon der erste Band wieder ein recht unterhaltsamer und in seiner Art auch spannender Krimi. Doch stellenweise schwächelt der Roman wegen mancher Länge oder unnötig überzogener Situationsbeschreibung. Die 430 Seiten des Taschenbuches hätte der Autor gern auf 350 Seiten straffen können - zugunsten der Spannung und des Humors. Dennoch dürfte auch dieser viktorianische Krimi allen Freunden des Genres erneut Freude machen. Auf einen dritten Band müssen deutsche Leser leider noch lange warten: „Arrowood and the Thames Corpses“ ist in englischsprachiger Originalausgabe erst für Frühsommer 2020 angekündigt.

Veröffentlicht am 20.10.2019

Historisch interessanter Krimi mit nur kleinen Schwächen

Der dunkle Bote
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REZENSION – Der im Oktober mit dem Österreichischen Krimipreis ausgezeichnete, auch für andere Preise nominierte Kriminalroman „Der dunkle Bote“ ist nach „Der zweite Reiter“ (2017) und „Die rote Frau (2018) ...

REZENSION – Der im Oktober mit dem Österreichischen Krimipreis ausgezeichnete, auch für andere Preise nominierte Kriminalroman „Der dunkle Bote“ ist nach „Der zweite Reiter“ (2017) und „Die rote Frau (2018) der dritte Band der unter dem Pseudonym Alex Beer veröffentlichten Erfolgsreihe der österreichischen Schriftstellerin Daniela Larcher (42) um den Wiener Kriminalinspektor August Emmerich.
Wir befinden uns im Wien des Jahres 1920, Monarchie und Adel sind abgeschafft, das gesellschaftliche System ist zerrüttet. Sozialisten und Kommunisten bekämpfen sich mit konservativen Republikanern, die Bevölkerung leidet unter der Hungersnot, die Inflation vernichtet den Geldwert, Arbeitslose und Bettler bestimmen das vom Krieg geschundene Straßenbild, Kriegsgewinnler und mafiöse Banden teilen die Stadt für ihre Machenschaften unter sich auf.
An einem kalten Oktobertag wird ein grausam zugerichtetes Mordopfer gefunden, dem die Zunge herausgeschnitten wurde. Diese wird später, verpackt in einer mit einer römischen Ziffer beschrifteten Schachtel, der sich für Frauenrechte einsetzenden Zeitungsreporterin Alma Lehner von einem „dunklen Boten“ zugestellt. Emmerichs übernimmt diesen Fall gemeinsam mit seinem jungen Assistenten Ferdinand Winter. Der Fall weitet sich aus, als neue Morde nach ähnlichem Muster folgen. Doch Emmerich fehlt nicht nur jeglicher Ansatzpunkt zur Aufklärung der Morde, sondern wird auch durch Privates abgelenkt: Xaver Koch, der aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrte und zum brutalen Schläger mutierte Ex-Mann seiner Lebensgefährtin Luise und Vater ihrer Kinder hat die Familie entführt, um sich an Emmerich zu rächen. Koch täuscht außerdem einen sozialistischen Putsch gegen die konservative Regierung vor, um mit den dafür erbeuteten Waffen zum kriminellen Herrscher Wiens zu werden. In dieser verworrenen Situation kämpft Emmerich, selbst vom Krieg gezeichnet, voller Leidenschaft und beseelt im Glauben an Recht und Ordnung gegen kriminelles und soziales Unrecht.
Alex Beer gelingt es auch in ihrem dritten Band, das gesellschaftlich und politisch so facettenreiche Wien des Jahres 1920 lebendig werden zu lassen. Dank ihrer im Nachwort mit Quellen belegten Recherche beschreibt sie Zeitgeschehen und Örtlichkeiten sehr treffend. Nur mindert dies gelegentlich die Spannung. Unglaubwürdig wird dann auch Assistent Winter, an den sein Chef solche Erläuterungen richtet. Mag Winter auch jung und in der Polizeiarbeit unerfahren sein, dürfte er sich doch als Spross aus gebildetem Adelshaus in Geschichte und Gegenwart Wiens auskennen. Schließlich ist es doch Winter, der dank eigener Bildung seinem Chef den fehlenden Ermittlungsansatz liefert.
So zeigt dieser dritte Band im Vergleich zu den zwei ersten leichte Schwächen, auch manche Länge. Fast scheint es, als wolle Beer dieses Manko mit der Aufnahme gleich mehrerer Handlungsstränge ausgleichen, fehlende Spannung also durch zusätzliche Aktion ersetzen. Doch die Abschnitte um Luises Entführung hätte sie sich besser sparen sollen, zumal der dramatische Schluss doch allzu überzogen wirkt.
Trotz genannter Schwächen bietet „Der dunkle Bote“ insgesamt – auch für Leser ohne genaue Ortskenntnis Wiens – doch wieder ein interessantes, spannendes Lesevergnügen und setzt mit Wiener Schmäh und manchem humorvollen Einschub die Krimireihe reizvoll fort. Auf den für Mai 2020 angekündigten vierten Band um Kriminalinspektor August Emmerich darf man gespannt sein.

Veröffentlicht am 01.10.2019

Schlichte Worte brühren tief

Blackbird
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REZENSION – In jüngster Zeit mehren sich die Bücher bekannter Schauspieler, die sich als Schriftsteller versuchen. Einer der wenigen, die echte literarische Begabung beweisen, ist Matthias Brandt (57), ...

REZENSION – In jüngster Zeit mehren sich die Bücher bekannter Schauspieler, die sich als Schriftsteller versuchen. Einer der wenigen, die echte literarische Begabung beweisen, ist Matthias Brandt (57), der schon 2016 mit seinem Debüt „Raumpatrouille“ überzeugte. Waren dies noch Geschichten aus eigener Bonner Kindheit als jüngster Sohn des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt, wechselt der Schriftsteller Matthias Brandt in seinem neuen Roman „Blackbird“ ins Fiktive.
Hauptperson und Ich-Erzähler ist der 15-jährige Morten Schumacher, genannt Motte, Schüler des Brahms-Gymnasiums in den 1970er Jahren. Ausgerechnet in dieser ohnehin schon schwierigen Lebensphase überstürzen sich die Ereignisse: Bei Bogi, seinem besten Freund, haben die Ärzte die todbringende Krankheit „Non-Hodgkin-Lymphom“ diagnostiziert. Mortens Eltern trennen sich, der Junge verliert sein Zuhause und muss mit der Mutter in eine neue Wohnung. Dazu kommen die Aufregungen erster Liebschaften. Ein wahres Kontrastprogramm unbändiger Gefühle.
Was anfangs wegen der im lockeren Jargon eines 16-Jährigen erzählten Geschichte noch wie ein harmloser Jugendroman erscheint, entwickelt sich schon bald zu einem psychodramatischen, auf seine Art sogar mitreißenden Roman über die Gefühlswelt eines pubertierenden Jugendlichen im Spannungsfeld zwischen Tod und Verzweiflung sowie Liebe und Freundschaft.
Das Faszinierende am Roman ist die Art des Erzählens. Seine oft schlichte Wortwahl, diese manchmal abgehackten Halbsätze – Gedankensplitter des Erzählers – machen Schwieriges so einfach zu verstehen: „Das Problem, oder besser, eines meiner Probleme, war aber neuerdings folgendes: Die Wörter und Gedanken in meinem Kopf wurden immer mehr, aber immer weniger davon kamen am Ende als verständlicher Satz heraus.“
Auch was die tiefe Angst vor der schweren Erkrankung Bogis in Morten bewegt, die beide Freunde zunehmend trennt, ist so einfach, aber stimmig beschrieben: „Statt mit dem Fahrrad zur Klinik zu fahren, ging ich zu Fuß. Ich hatte es nicht eilig. Obwohl ich den Weg so gut kannte, lief ich wie auf fremdem Boden. Es war, als ob Bogis Krankheit von einem auf den anderen Tag eine riesige Schneise in unser Leben geschlagen hatte.“
Erste Erfahrungen in der Liebe macht Morten zunächst mit der hübschen, leider oberflächlichen Jacqueline Schmiedebach, Schülerin am Einstein-Gymnasium, dann mit der nur 1,58 Meter kleinen Schornsteinfegerin Steffi, die ihm zu einer wahren Freundin wird. „Die meisten Leute machten mir Stress, ohne dass sie was dafür konnten. Steffi nicht.“
Die ganze Dramatik dieses einen Jahres, die Verletzlichkeit, die Angst und Verlassenheit des 16-Jährigen zeigt uns der Autor in der nächtlichen Szene auf dem Zehn-Meter-Sprungbrett, wohin sich Morten mit zwei Rotweinflaschen Amselfelder zurückgezogen hat. Bademeister „Elvis“, der wie üblich zunächst schimpft, dann aber zu ihm raufkommt, bleibt schweigend neben Morten sitzen, als dieser alle Fragen unbeantwortet lässt. In Elvis findet Morten momentanen Trost und einen neuen Freund, denn „mehr kann man manchmal nicht tun, finde ich. Nicht weiterfragen, aber dableiben.“ Es sind solche einfachen und gerade in ihrer Schlichtheit anrührenden Sätze, die „Blackbird“ von Matthias Brandt so lesenswert machen.