Profilbild von StefanieFreigericht

StefanieFreigericht

Lesejury Star
offline

StefanieFreigericht ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit StefanieFreigericht über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 15.12.2016

„Du wirst sie elendig verrecken sehen…“

Damit du nie vergisst
1

„Du wirst sie elendig verrecken sehen…“ S. 454

Ich stehe noch ein wenig unter Schock – und setze meine für das gesamte Genre übliche Warnung gleich an den Anfang: es geht um sadistische Taten, es werden ...

„Du wirst sie elendig verrecken sehen…“ S. 454

Ich stehe noch ein wenig unter Schock – und setze meine für das gesamte Genre übliche Warnung gleich an den Anfang: es geht um sadistische Taten, es werden sexuelle Übergriffe beschrieben und beides in einem Umfang, den man erst einmal verkraften können muss, verkraften wollen muss. Selbst für die, die genau dieses Genre lesen möchten, empfehle ich die Leseprobe.

Profilerin Andrea ist angekommen. Sie hat eine kleine Familie, ist wieder zurück mit Mann und Tochter in der Nähe von Schwiegermutter, Schwager und Freunden, im Beruf läuft alles rund. Dann tauchen Leichen auf, mit Spuren entsetzlicher Misshandlung vor dem Tode – und alles wirkt auf unheimliche Weise so, als sei der furchtbare Serientäter Jonathan Harold zurückgekehrt. Aber – der ist doch tot? Wie also kann das sein?

Als Andrea bemerkt, dass sie selbst längst im Fokus der Taten ist, realisiert sie: „So weit hatte es nicht kommen sollen, doch es war längst zu spät.“ S. 391 Autorin Dania Dicken peitscht den Leser erbarmungsloser als je zuvor durch ein Wechselbad aus (zunehmend immer weniger normalem) Familienleben der Profilerin Andrea, quälend langsamer Polizeiarbeit und kranken Gedanken und Taten der anderen Seite. Was dort passiert, ist wirklich kaum zu ertragen. Wie soll man mit den Eltern der Opfer reden können? Und selbst mich überraschten noch die ersten Erkenntnisse zu Motiv und Quelle der Untaten – doch was dann folgt…

„Damit du nie vergisst – Die Profilerin“ ist der dritte Band aus der Reihe um Profilerin Andrea Thornton und eignet sich durchaus auch zum Einstieg in die Reihe, weil recht geschickt vorige Ereignisse wieder aufgegriffen werden (Andrea hält auch Vorlesungen für Studenten und wird dort zu vorangegangenen Ereignissen befragt – somit erhält der Einsteiger einen ausreichenden Überblick und der Serienleser wird dennoch nicht gelangweilt). Geschickt baut die Autorin wieder Hintergründe zum Profiling ein. Der Band ist zweifelsohne spannend geschrieben, der Grund-Plot bewegt sich abseits von ausgetretenen Pfaden, die Konstruktion ist schlüssig - alles richtig gemacht, aber es brachte mich als Leser doch sehr an die Grenze.

Fast hätte ich einen Stern abgezogen, denn ich mag meine Hauptperson nicht dergestalt im Fokus, weil ich da zu viel Anteil nehme - aber das wäre dem Buch gegenüber wirklich nicht fair. Schnallt Euch an!

Veröffentlicht am 14.05.2017

Empfehlenswerter historischer Krimi mit dem bedrückenden Hintergrund in Dresden 1944-45

Der Angstmann
0

Kriminalinspektor Max Heller ist ein Ermittler vom alten Schlag – routiniert, oft knurrig, wenig zu beeindrucken. Doch der Frauenmord, zu dem er gerufen wird, ist so grausam, dass er kaum an einen üblichen ...

Kriminalinspektor Max Heller ist ein Ermittler vom alten Schlag – routiniert, oft knurrig, wenig zu beeindrucken. Doch der Frauenmord, zu dem er gerufen wird, ist so grausam, dass er kaum an einen üblichen Täter glauben mag. Sein Vorgesetzter ist eher aus politischen Gründen im Amt und scheint eine einfache Lösung zu bevorzugen – aber das passt kaum mit der zweiten Frauenleiche zusammen, die für Heller zu viele Parallelen zum ersten Fall aufweist. Schon fängt die Bevölkerung an, in Furcht vor dem geheimnisvollen und furchtbaren „Angstmann“ zu leben, wilde Gerüchte machen die Runde. Wir sind in Dresden – und es tobt der Zweite Weltkrieg in seinen letzten Monaten. Was bedeutet da der Verlust eines weiteren Menschenlebens? Und wie einfach schiebt man etwas „den üblichen Verdächtigen“ unter, in jener Zeit sind das ein jüdischer Exmann oder Osteuropäer.

Aber welche Bedeutung haben die seltsamen Geräusche, von denen berichtet wird? Und soll Heller hier von etwas abgelenkt werden, was nicht ins offizielle Bild passt? Auch die Wege, auf denen hier einige Fahrräder unterwegs sind, sorgen für Verwirrung. Und „einfach Max Heller“ zu sein, ist nicht immer leicht, wenn man sich mit seiner Meinung und seinem Handeln jederzeit zuerst vor den Nationalsozialisten in Acht nehmen muss und dann vor der Sowjetarmee.

Frank Goldmanns „Der Angstmann“ ist nicht nur Krimi, sondern schildert auch in eindringlicher Weise die bedrückende Situation in Dresden kurz vor und kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges. „Jeden Abend verließ er diese Welt, um zurückzukehren in ein warmes Heim, mit einer warmen Mahlzeit. Tag für Tag mit einem schlimmeren Gefühl der Hoffnungslosigkeit, denn der Strom der Menschen riss nicht ab. Waren ein paar hundert abgefertigt und zu ihrem neuen Bestimmungsort losgeschickt, so kamen hunderte, tausende neue Flüchtlinge nach. Ihre Sprache wurde fremder und der Wille der Einheimischen, sie aufzunehmen, sie als Landsleute anzuerkennen, wurde schwächer und schwächer, denn sie waren Konkurrenten um die wenigen Lebensmittel, um den Wohnraum, um die Kleidung. Die Angst, selbst nicht genug zu bekommen, wurde dafür stärker…“ S. 50 Das bedeutet in diesem Falle nicht nur, die eine Verknappung und die eine Ideologie zu tauschen gegen eine andere – die für Dresden verheerenden Bombenangriffe kurz vor Kriegsende findet in der beschriebenen Zeit statt. Der Autor ist Dresdner und wie alle auch jüngeren Dresdner ist er in diesem Bewusstsein, mit den Erzählungen in den Familien, aber auch mit den bis ins Heute reichenden Spuren in der Stadt aufgewachsen (ja, das gilt auch für andere Städte wie z.B. Hamburg mit dessen Feuersturm; aber hier geht es eben um Dresden). Meiner Ansicht nach gelingt ihm damit, Ereignisse, die viele Jüngere sich kaum noch vorstellen können, mit aller Not, den vielen Flüchtlingen, der Angst, dem Hunger, dem gegenseitigen Misstrauen eindringlich, eingängig und bildhaft darzustellen, während zunehmend weniger Zeitzeugen noch am Leben sind, um zu berichten von Ereignissen, die heute anderen Menschen an anderen Orten widerfahren.

Ich habe die Erzählung zuerst als Hörbuch genießen dürfen gelesen vom auch als Schauspieler arbeitenden Heikko Deutschmann, den ich wieder einmal als gute Wahl empfand. Bei Krimis als Hörbuch habe ich sonst häufig Probleme, da ich recht schnell lese und damit bei steigender Spannung häufig etwas ungeduldig werde – das war hier kein Problem: Die Handlung ist zwar oft spannend, aber weniger von der nervenzerfetzenden Art (eben ein Krimi, kein Thriller), und besticht vielmehr durch die allgemein düstere Atmosphäre der Taten und der Zeit. Das Vorlesen passt gut zu dieser Situation. Danach habe ich mir das „normale“ Buch noch besorgt,
unter anderem, weil ich so die Strecken in Dresden besser nachverfolgen konnte - ohne "Abwertung" des Hörbuchs, für mich passen einfach die unterschiedlichen Medien zu unterschiedlichen Situationen.

Nachtrag:

Der Vergleich mit dem 2012 veröffentlichten historischen Hamburg-Krimi „Der Trümmermörder“ von Cay Rademacher drängt sich auf, ich habe das Buch über den Hungerwinter '47 erst NACH dem und wegen des "Angstmann" gelesen: Goldammer lässt den Leser den Krieg spüren, den Hunger, das Misstrauen, die Bombennacht, die Besatzung. Der historische Dresden-Krimi hat hier vielleicht den Vorteil, zeitlich einen größeren Zeitraum abzubilden (der Hamburg-Krimi beschränkt sich auf drei Monate des Nachkriegsjahres 1947) – das ist es jedoch nicht. In Hamburg lese ich „..bis ihn draußen auf der Straße der Wind trifft wie eine eisige Faust.“ S. 274 oder „…trifft ihn der Wind wie ein Faustschlag.“ S. 99, das ist erstens eine Wiederholung über diese beiden Stellen hinaus und lässt mich zweitens den Wind nicht miterleben – Goldammer schafft das. Dafür ist bei Goldammer weniger nachvollziehbar, wie sich sein Max Heller in der NS-Zeit behaupten konnte, „seine Morde“ sind blutrünstiger. Ich kenne Dresden und Hamburg von sehr regelmäßigen Besuchen – beide Autoren nehmen in seltener Übereinkunft Abstand vom Dialekt selbst bei Nebenfiguren. Da s-tolpert niemand über den s-pitzen S-tein, da gibt es kein „nu nu freiiilisch“, das ist verständlich (nachvollziehbar UND im Wortsinn), aber irgendwie schade. Straßennamen zählen beide auf – während Rademacher Gebäude beschreibt, fühle ich mich bei Goldammer in den Beschreibungen von Straßenzügen eher vor Ort (dafür sind es dann teils wieder zu viele Straßennamen). Ich mag Stave irgendwie lieber – doch sehe ich insgesamt nur 4 Sterne für einen durchschnittlich guten Krimi (gegenüber 5 für den Angstmann, den ich verschlungen hatte). Dennoch will ich bei Stave dem zweiten Band eine Chance geben bzw. würde das bei Heller (es gibt noch keinen), weil mich einfach das Thema der Nachkriegszeit ausreichend interessiert.

Wer eines der Bücher verschenken möchte: man merkt bei der Lektüre doch eindeutig (so man alt genug dafür ist), wo man aufgewachsen ist, als "Wessi" oder "Ossi", welche Erzählungen in der eigenen Familie weiter getragen wurden - selbst wenn man, wie ich, "dazwischen" steht. Und man merkt auch, wenn die Erinnerungen der eigenen Familie im ländlichen Raume angesiedelt waren, wo die Auswirkungen durch Selbstversorgung und "mehr Fläche pro Mensch" milder waren: hier sind Hamburg und Dresden dann doch erschreckend ähnlich.

https://www.lesejury.de/cay-rademacher/buecher/der-truemmermoerder/9783832161545?tab=reviews&s=2#reviews

Veröffentlicht am 31.10.2016

„Sei brav, mein Schmerz, und lass mir etwas Ruhe.“ (Baudelaire) S. 245

Rabenschwarzer Winter
0

Christine betrügt ihren Mann Stéphane
Gilles wird von seiner Frau Claire betrogen.
Christine wird ermordet. Gilles ist Lieutenant bei der Polizei und ermittelt – irgendwie lässt ihn das nicht ganz unbeteiligt.

Jaaaa ...

Christine betrügt ihren Mann Stéphane
Gilles wird von seiner Frau Claire betrogen.
Christine wird ermordet. Gilles ist Lieutenant bei der Polizei und ermittelt – irgendwie lässt ihn das nicht ganz unbeteiligt.

Jaaaa – bitte, genau SO! Ein Krimi ist das, gut geschrieben, spannend, dabei aber keine Sadisten, Folterszenen oder sexuelle Perversionen. Ein Frankreich-Krimi ist das, der wirklich von einem Franzosen geschrieben wurde – über eine nicht so offensichtliche Region wie die Provence. Gute Sprache ist das, auch über einen Ermittler mit persönlichen Problemen – nein, KEIN beschädigter Ermittler, viel banaler: Gilles Sebag hat herausgefunden, dass seine langjährige Ehefrau ihn betrogen hat, die Affäre ist bereits vorbei. Daran leidet er, darunter leidet seine Arbeit. Den Kummer ertränkt er in Alkohol, in Fragespielchen mit seiner Frau, die doch nur beide schmerzen. "Wenn du bei mir bist, wie jetzt, dich an mich geschmiegt, dann schaffe ich es, nur an uns beide zu denken. Aber sobald du dich von mir entfernst, selbst nur ein paar Zentimeter, kann ich nicht anders: Ich denke an euch.“ S. 171

Und gerade, während Gilles so damit ringt, dass ihm der sicher geglaubte Boden unter den Füßen weg gezogen wurde, scheint es in den Fällen um ihn herum nur noch um Ehebruch zu gehen, mit fatalen Folgen. Ein Ehemann erschießt seine Frau in dem Hotel, in dem ihr Liebhaber sie gerade zurück gelassen hat. Ein anderer Ehemann stürzt sich aus dem fünften Stock, weil seine Frau sich – platonisch, wie sie versichert – mit einem anderen trifft. Sonst helfen seine Sprichwörter ihm „Man erholte sich besser von Liebeskummer als von verletztem Stolz.“ S. 168, aber diesmal ist Gilles mehr als sonst angewiesen auf die Zusammenarbeit mit seinen Kollegen – denn an diesen Fällen stimmt etwas nicht…

Autor Philippe Georget hat hier seinen dritten Band um den französischen Polizisten Gilles Sebag angesiedelt im Roussillon – ich konnte ohne Kenntnis der Vorgängerbände folgen. Der Regionalkrimi-Charakter ist eher weniger ausgeprägt, dafür gefiel mir die psychologische Tiefe bei der Darstellung von Sebags Dilemma. Weniger ein „Whodunnit“, bei dem man selbst hätte auf den Täter gekommen sein können anhand der Hinweise als mehr eine Begleitung von Ermittlern bei ihrer Arbeit an mehreren Fällen ohne große Dramatik, dabei dennoch fesselnd – was ich als angenehm empfand. Gerne mehr!

Veröffentlicht am 31.10.2016

„the importance of looking forward as well as remembering the past“ (p. 499)

Zwei Leben
0

Achtung: ich habe die optisch sehr ähnliche Original-TB-Ausgabe gelesen

Was für ein phantastisches Buch, diese Mischung aus Briefroman, Geschichtsbuch, Autobiographie, Familiengeschichte, Weltgeschichte ...

Achtung: ich habe die optisch sehr ähnliche Original-TB-Ausgabe gelesen

Was für ein phantastisches Buch, diese Mischung aus Briefroman, Geschichtsbuch, Autobiographie, Familiengeschichte, Weltgeschichte und quasi von einem „Ghostwriter“ verfasster Biographie. Dieser „Quasi-Ghostwriter“ ist Vikram Seth, einer der wichtigsten aktuellen indischen Autoren. Die Geschichte ist die seiner Familie ebenso wie die seines Großonkels Shanti (1908-1998) und dessen Frau Henny (1908-1989), die dieser in London nach dem Zweiten Weltkrieg geheirat hatte. Shanti lebte in Deutschland als Untermieter bei Hennys Familie, um dort zwischen den Weltkriegen Zahnmedizin zu studieren, ähnlich wie später der Autor bei Shanti und Henny in London lebte, während er zur Ausbildung in England war. Autor Seth spannt einen weiten Bogen:

wir lesen über die eher gut situierte Familie des Autors in Indien, in der weibliche Erziehung wichtig ist und Familie alles. Familien sind größer, als wir das gewohnt sind, so berichtet der Autor von einer Ferienfahrt: „In Berne, I stayed with an Indian diplomat, who was my mother’s brother’s wife’s brother’s wife’s father, and therefore ‘family‘ in the Indian sense.“ p. 17 Einiges befremdete: So wurde der Autor als Kleinkind problemlos (?) für ein Jahr der Großmutter überlassen, da die Eltern beruflich abwesend sein mussten, wobei man einander durchaus sehr liebevoll zugetan ist. Ebenso haben die Eltern des Autors ein eigenes Kind zur Adoption an Verwandte gegeben, die wegen eines Gendefektes, der schon mehrere von deren Kindern getötet hatte, kein weiteres leibliches Kind riskieren wollten. Faszinierend auch die Darstellung des Lebens im Berlin der Zwanziger Jahre, als Onkel Shanti dort zum Zahnarzt ausgebildet wird bis zu Machtergreifung und Olympischen Spielen 1936 ; später praktiziert er in Großbritannien.

Von der Geschichte Indiens zwischen britischer Herrschaft über Freiheitsbestrebungen bis zum Mord an Indira Gandhi liest man, später viel über den Zweiten Weltkrieg; Shanti Seth hatte sich freiwillig gemeldet und ist als Zahnarzt stationiert vom Sudan bis nach Italien. Ressentiments gerade von britischer Seite scheint ihm selten widerfahren zu sein, ein Vorkommnis pariert er: auf das herablassende Verhalten entgegnet er „In Roman times, people in the army were sent to Britain as a punishment“ p. 121

Selten hat mich eine derartig detailreiche Darstellung historischer Ereignisse so in den Bann gezogen, wie es der Autor hier vermag. Sein „Trick“ besteht in bestimmten Perspektivwechseln: Mit seinem Onkel führte er lange Interviews, lässt dessen Aussagen als Ich-Erzählung wechseln mit Hintergrundinformationen, seien es Zitate oder Zusammenfassungen aus Sachbüchern, Quellentexte oder eigenen Bemerkungen. Dadurch trifft er für mich perfekt die Balance aus persönlich (berührend und unmittelbar) und sachlich (faktenreich ohne Schulbuchcharakter). Während des Sturm verliert Zahnarzt Shanti seinen rechten Arm, kämpft sich aber über den Umweg eines Vertreters für Dentalprodukte wieder in seinen Beruf zurück; sein Vorbild ist ein ebenfalls amputierter praktizierender Kollege, der ihm schreibt: „Most upper extractions are easy & the difficult ones would still be difficult if you had as many arms as an Octupus. …Practise on your relations at home“ p 172

Shantis geliebte Frau Henny, Tochter seiner Zimmerwirtin, jedoch war nicht nur gebürtige Deutsche – ihre Familie war jüdisch. Ihre Mutter und Schwester starben in Konzentrationslagern. Als Autor Seth dieses Buchprojekt aufnahm, hatte er nur seinen Onkel als mündlichen Zeugen. Als er von seiner Tante nachgelassene Briefe findet, arbeitet er auch dieses sehr genaue Bild, das sich daraus von seiner Tante und der Situation im Nachkriegseuropa zeichnen lässt, mit ein. Durch ein Verweben der Aussagen von Zeitzeugen, den wenigen Briefen, offiziellen Dokumenten und Sachbuchinformationen beschreibt er sehr bewegend, wie die letzten Tage von Hennys Familie vermutlich abgelaufen sind, etwas, das ich so noch nicht gelesen hatte und das mich sehr berührte. Später setzt sich Henny stark mit ihrem alten Freundeskreis auseinander über Nazi- und Nachkriegsdeutschland, diskutiert über Verantwortung, Unterlassen, Wegsehen und Unterstützung. Auch das Leben in der Nachkriegszeit in Deutschland, England und versprengt an noch weitere Orte kann man mit Lebensmittelrationierung, kalten Wintern und Stromabschaltung beidseits des Ärmelkanals hautnah miterleben. Und so erklärt sich der Titel „Two Lives“, auch wenn Henny und Shanti 38 Jahre (seit 1951) miteinander verheiratet waren und noch viel länger Freunde (56 Jahre); sie bleiben doch zwei Individuen. Zwei Leben.

Henny ist in vielem wohl die komplexere Persönlichkeit, ordentlich, kontrolliert – eher eine sehr gute und einfühlsame Freundin für viele als von großer Zärtlichkeit oder Leidenschaft. Vieles scheint sie eher mit selbst auszumachen, ob als genereller Charakterzug oder wegen des Erlebten.

Falls möglich, empfehle ich die Lektüre des englischsprachigen Originals – der Autor hat, wie zuvor sein Onkel, deutsch gelernt für sein Studium. Die Konversation wechselt zwischen den Sprachen, neben vielen Fotos enthält das Buch auch Kopien von Original-Briefen und häufig Mutmaßungen oder Erklärungen zu bestimmten Begriffen für den englischsprachigen Leser, die einfach für einen Deutschen, der das Original liest, so viel aussagekräftiger sind bezüglich der Einschätzungen eines Nicht- Muttersprachlers zu unseren Begriffen wie „Heimat“, „innig“ (unübersetzbar) oder speziell zu deutscher Geschichte.

Als einzige Verunsicherung bleibt nach der Lektüre die Einschätzung des kurzen letzten fünften Kapitels über Irritationen infolge des Testaments von Onkel Shanti und gewisse Widersprüchlichkeiten (Verwirrtheit?) seiner letzten Monate. Der Autor scheint für sich Ruhe gefunden zu haben mit der schriftlichen Niederlegung. „Behind every door on every ordinary street, in every hut in every ordinary village on this middling plant of a trival star, such riches are to be found. The strange journey we undertake on our earthly pilgrimage, the joy and suffering we taste or confer, the chance events that cleave us together or apart, what a complex trace they leave: so personal as to be almost incommunicable, so fugitive as to be almost irrecoverable.“ p 498

Veröffentlicht am 14.10.2016

Wo Rauch ist, ist auch Feuer

Im Wald
0

"Wo Rauch ist, ist auch Feuer“ dürfte einer der Standard-Sprüche sein zum Thema, ob sich denn hinter Gerüchten auch ein wahrer Kern verbergen könne. In Nele Neuhaus nunmehr achtem Roman (Vorkenntnisse ...

"Wo Rauch ist, ist auch Feuer“ dürfte einer der Standard-Sprüche sein zum Thema, ob sich denn hinter Gerüchten auch ein wahrer Kern verbergen könne. In Nele Neuhaus nunmehr achtem Roman (Vorkenntnisse sind nicht nötig) um ihre Kriminalpolizisten Oliver von Bodenstein und Pia Sander, vormals Kirchhoff, beginnt es mit dem Feuer. Gleich zu Beginn brennt ein Wohnwagen ab im Taunus, in den Überresten wird eine Leiche gefunden.

Aber schon bald lesen wir besonders vom sprichwörtlichen Rauch - es geht nicht nur darum, was sich hinter so einem dörflichen Geflecht verbirgt mit seinen alten Freundschaften, Abhängigkeiten, Gerüchten, sondern vor allem auch darum, inwieweit diese Verflechtungen Ursache dafür sein können, dass Menschen zu Schaden kommen. Bodenstein stammt aus dem Dorf, aus dem auch die Eigentümerin des Wohnwagens kommt, er ist dort aufgewachsen und seine Eltern leben noch dort. Wie sich bald herausstellt: Es war nicht die letzte Leiche – und auch nicht die erste. Und Bodensteins Bezug zu den Fällen geht weit darüber hinaus, „nur“ im Ort aufgewachsen zu sein…

Dabei hat der Ermittler doch gerade eben genug eigene Probleme: seine aktuelle Beziehung ist am Schwächeln, er fühlt sich aufgerieben zwischen längst vergangenem beruflichen Enthusiasmus und der Ernüchterung durch die Realität, seine Exfrau überlässt ihm die gemeinsame jüngste Tochter im Vorschul-Alter, ohne sich an Absprachen zu halten. So wird nicht nur sein deshalb geplantes Sabbatical zum Problem für seine Kollegin Pia Sander, sie muss auch damit klarkommen, inwieweit Oliver Bodenstein nicht nur ihr Noch-Chef ist, sondern auch noch in der Lage, persönlich objektiv zu bleiben.

Was hat der alte Pfarrer gesehen? Was geschah wirklich in der Vergangenheit von Rosie? Und was geschah mit Artur, dem verschwundenen Kindheitsfreund von Oliver von Bodenstein?

Die Stärke dieses Krimis liegt in der glaubwürdigen Schilderung des dörflichen Milieus, mitsamt dem Misstrauen gegenüber Zugezogenen, dem lebenslangen, teils generationsübergreifenden Beziehungsgeflecht zwischen Familie, Freundschaft, Liebe, Abhängigkeit und Neid. Das jedoch hatte die Autorin bereits mit „Schneewittchen muss sterben“ geliefert - auch dort schon handwerklich gut, jedoch bot sich dem Leser die Zuflucht, sagen zu können, dass das bei ihm im Ort ganz anders sei. Weit gefehlt, wie hier klar wird: Im aktuellen Roman erweitert Neuhaus das ganze noch um Rückblenden in die Kindheit, darum, wie es sich anfühlt, durch die Konfrontation mit den Ängsten und Freuden der frühesten Jugend wieder in das damalige Ich zurück katapultiert zu werden, wieder Teil jenes Geflechts zu sein, ob freiwillig oder nicht. Nicht nur hier ist der Roman düster, spielt mit Elementen des Psychothrillers (Stichwort: Klaustrophobie) – die gesamte Handlung ist unterlegt mit einer gewissen Melancholie. Was sonst gefiel? Man kann jeden Band der Reihe ohne die anderen lesen; ungeachtet dessen entwickeln sich die Charaktere wohltuend fort, sind Menschen mit Ecken und Kanten. In diesem Band hat man sich (endlich) entschlossen, ein Personenregister und eine Karte mitzuliefern – Frau Neuhaus neigt zu einer gewissen Personalfülle. Das wäre dann auch das einzige Manko – es sind doch wieder reichlich viele Personen… aber da ich das Buch praktisch über Nacht auslesen MUSSTE, dafür nur einen knappen halben Stern Abzug, die spannende Handlung macht es wett…4,5 Sterne aufgerundet.