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Veröffentlicht am 26.01.2020

Charmant, humorvoll, besonders!

Love Challenge
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Der erste Teil der Reihe - Kissing Lessons - stürzte mich in einen typischen Herz-Kopf Widerspruch. Mein Leseherz war verliebt und wollte eindeutig mehr, während mein kritischer Verstand nicht über einige ...

Der erste Teil der Reihe - Kissing Lessons - stürzte mich in einen typischen Herz-Kopf Widerspruch. Mein Leseherz war verliebt und wollte eindeutig mehr, während mein kritischer Verstand nicht über einige Mängel hinwegsehen wollte. Dieser zweite Teil, auf den ich mich jetzt schon seit Wochen gefreut habe, nimmt dieselben Zutaten wie Band 1 - zwei liebenswerte Protagonisten, ein kulturelles Durcheinander, Anziehungskraft und Autismus und ein gesellschaftliches Gefälle als Hindernis - macht aber definitiv mehr daraus als eine amüsante, unterhaltsame Liebesgeschichte. Die Autorin schreibt in ihrem Nachwort, dass die Protagonistin Esme an ihre eigene Mutter angelehnt ist, die sich aus dem Nichts nach der Einwanderung von Vietnam in die USA mit mehreren Kindern vier erfolgreiche Restaurants aufgebaut hat und es nur durch Arbeit und ihre eigene Willenskraft zu etwas gebracht hat. Und in jeder Seite der Geschichte spürt man den Respekt der Autorin für diese unglaubliche Leistung und so scheinen beide Komponenten der Geschichte direkt aus dem Herzen der Autorin zu kommen: sie erzählt zum einen von den Irrungen und Wirrungen der Liebe wenn man (wie sie selbst) Autist ist, ist aber gleichzeitig auf einer tieferen Ebene eine Liebeserklärung an ihre Mutter, an die Stärke und den Mut von Immigranten, die in einem fremden Land ihren eigenen Amerikanischen Traum schaffen.


"Sie war auf keine Weise beeindruckend, die man sehen oder messen konnte, aber sie hatte dieses Feuer. Sie spürte es. Das war ihr Wert. Sie würde für ihre Familie kämpfen. Und sie würde für sich selbst kämpfen. Weil sie zählte."


Das Cover ist wie Band 1 ein wirklicher Hingucker! Diesmal ist der Hintergrund nicht grau sondern apricot und die kunstvollen Blumen und Ranken heben sich in Weiß-, Orange-, Grün- und warmen Gelbtönen ab. Der Titel glänzt in Türkis und der Autorentitel ist verschnörkelt. Besonders nett ist auch, dass in den Leselaschen der Broschierten Ausgabe wieder ein Interview mit der Autorin abgedruckt ist und die Blüten der Gestaltung auch innerhalb des Buches die Kapitelanfänge zieren. Mit der Gestaltung passt der zweite Teil der "Kiss, Love & Heart"-Reihe wunderbar zu seinem Vorgänger, hat aber durch die andere Farbgebung eine eigene, tropischere, fruchtigere Note, die gut zu Esme und Khai passt.

Wieder ist die Geschichte abwechselnd aus der personalen Er-Perspektive der beiden Protagonisten erzählt, wodurch der Leser wieder von Beginn an in alle Geheimnisse und verborgenen Gefühle der beiden eingeweiht ist. Man weiß also genau, was man zu erwarten hat, sobald man die ersten Seiten umblättert. Man weiß, worauf die Geschichte hinauslaufen wird, man kennt das altbekannte Schema und durchschaut die Protagonisten schnell. Aber das ist vollkommen in Ordnung, denn nichtsdestotrotz eroberte die Geschichte mein Herz. Es gibt hier kein Rätselraten, keine unvorhergesehenen Wendungen, keine großen Überraschungen sondern einfach nur eine prickelnde, unterhaltsame, etwas andere Liebesgeschichte, die mich von der ersten Seite an gefesselt hat.


Erster Satz: "Khai sollte eigentlich weinen."


Als erstes lernen wir im kurzen Prolog Khai kennen, den wir ja im ersten Teil schon flüchtig getroffen haben, da er mit Michael befreundet ist. Er befindet sich gerade auf einer Beerdigung, der Beerdigung seines besten Freundes um genau zu sein, und findet heraus, dass er nicht lieben kann. Denn wenn er nicht so trauert wie die anderen Gäste, muss doch sein Herz aus Stein sein, oder nicht? Um diese Meinung zu ändern und ihren Jungen endlich zu verheiraten hat sich seine Mutter auf den Weg gemacht um in Vietnam eine geeignete Braut für ihn zu suchen. Fündig wird sie ausgerechnet auf einer Toilette eines Hotels in Ho-Chi-Minh und wir lernen unsere Protagonistin Esme kennen. Als mittellose Putzkraft, die zusammen mit ihrer kleinen Tochter, ihrer Mutter und ihrer Großmutter in einem Ein-Zimmer-Apartment wohnt und auf dem Boden schläft erscheint sie auf den ersten Blick sehr anders und rief in mir eine Art kleinen Kulturschock hervor. Ihren Wunsch, nach einer Chance, einer Perspektive, etwas auf ihrem Leben zu machen, der sie antreibt dem Deal, den Khais Großmutter ihr vorschlägt, zuzustimmen, erscheint hingegen sehr nachvollziehbar und so begleiten wir unsere Protagonistin auf dem Weg in ein neues Land, ein neues Leben, eine neue Liebe...


"Sein Name, Khải, bedeutete Sieg, aber so wie er es sagte, flach, ohne Betonung, bedeutete es öffnen. Das war genau das, was sie tun musste. Er war verschlossen, und sie musste ihn öffnen. Ihrer Erfahrung nach machte man das, was man öffnen wollte, erst sauber, damit man sehen konnte, womit man es zu tun hatte, und danach bearbeitete man es wirklich hart. Esme war nicht in vielen Dingen gut, aber sie war gut im Saubemachen und Hartarbeiten. Sie konnte es schaffen. Vielleicht war sie dafür gemacht."


Auch wenn auf der reinen Handlungsebene häufig nicht besonders viel passiert - die beiden leben zusammen, arbeiten und gehen ab und zu auf eine Hochzeit - sorgt Helen Hoangs lockerer, packender Schreibstil dafür, dass es keine Sekunde langweilig wird und man es kaum schafft, sich loszureißen. So habe ich die Geschichte an einem einzigen Nachmittag gelesen und mich komplett in der Handlung und den Gefühlen der Protagonisten verloren. Dabei schafft die Autorin immer eine angenehme Balance zwischen düsteren Gedanken und lustigen, sarkastischen Dialogen, sodass ich - ständig schniefend, schmachtend oder grinsend - von meinem Umfeld etwas schräg angesehen wurde (vielen Dank dafür, Helen). Ebenfalls litt ich durch das Suchtpotential der Geschichte leider an einem typischem In-einem-Rutsch-durchlesen-und-danach-ärgern-dass-man-es-so-schnell-gelesen-hat-Dilemma (ebenfalls vielen Dank dafür, Helen ^^). Die Sensibilität, mit der sie dem Leser einen Blick ins Innere ihrer Protagonisten gewährt, die Grausamkeit, mit der sie uns und ihre Geschöpfe konfrontiert und die viele Liebe, mit der sie ihre und unsere Herzen heilt, sind wirklich erstaunlich. So schafft sie den Spagat zwischen zuckersüßem Märchen-Flair und Bitterkeit der Realität, sodass die Geschichte locker und leicht daherkommt.


"Sie war erneut gekommen, um ihn zu suchen. Niemand suchte nach ihm. Alle wussten, dass er allein sein wollte. Nur dass es nicht immer so war. Manchmal war er aus Gewohnheit alleine. Manchmal kostete es Mühe, sich von der wachsenden Leere in seinem Inneren abzulenken."


Besonders toll ist die Dynamik zwischen den beiden Protagonistin dargestellt, die beide auf ihre Art im Umgang mit dem anderen gehandicapt sind. Während Khai durch seinen Autismus eine andere Sicht auf die Welt und Menschen hat und ihm deshalb viele Dinge entgehen und er andere ohne Absicht verletzt, ist Esme in einer ganz anderen Kultur aufgewachsen und muss sich deshalb an eine neue Sprache, eine andere Art zu Leben und Khais besondere Eigenarten gewöhnen. Wie die Beiden immer wieder aneinander vorbeireden und sich in seltsame Situationen und Missverständnisse manövrieren ist zugleich witzig und liebenswert. Auch wenn von Anfang an klar ist, dass die beiden wunderbar zusammenpassen und sich am Ende auch finden werden, ist es sehr spannend zu verfolgen, wie Khai seine Befürchtung, er könne niemanden lieben und Esme ihre Komplexe, nicht schlau, gebildet, reich oder schön genug für ihn zu sein, überwindet. Etwas gestört hat mich, dass Khai von Anfang an einen total sexualisierten Blick auf Esme hat und sie das gar nicht zu kümmern scheint (ja gut, es ist vielleicht scheinheilig das zu sagen weil es bei dieser Art von Büchern normalerweise immer andersrum ist und der männliche Love-Interest nur als Objekt der Begierde dargestellt ist) aber das hat für mich nicht wirklich gepasst, vor allem weil sich Esme als unabhängige Frau versteht und Khai eigentlich nicht oberflächlich angelegt ist.


"Sie lag in seinen Armen, wandte sich an ihn, vertraute ihm, genau wie damals, als sie den Albtraum gehabt hatte. Es war furchteinflößend. Es war wundervoll. (…) Innerhalb eines Augenblicks veränderte sich alles. Der Wind wurde zu Samt, und die einzigen Geräusche waren das Pochen seines Herzens und das Rauschen seines Bluts. Die Farben wurden strahlender und tanzten. Das Grün ihrer Augen, das Gelb ihres Shirts, das Blau des Sommerhimmels, all das ließ das Rosa ihres Mundes aufleuchten."


Davon abgesehen hatte ich das Gefühl, zwei sehr runde Charaktere kennengelernt zu haben. Besonders genial ist, dass die Protagonistin hier nicht "verwestlicht" angelegt ist, wie die meisten anderen Protagonistinnen des Genres. Stattdessen ist sie jemand, auf den ich (und das ist wirklich traurig, falsch und ich schäme mich, dass erkennen zu müssen) wahrscheinlich im echten Leben herabgeschaut hätte: schlechte Schulbildung, alleinerziehende Mutter und keinerlei Selbstachtung. Dennoch schleicht sie sich mit ihrer strahlenden, direkten Art sofort ins Herz des Lesers und zwingt einen dazu, die Vorbehalte gegenüber ihr fallen zu lassen. Denn wie sie trotz ihrer fehlenden Bildung, der Sprachbarriere, der kulturellen Hürden und der Verantwortung für ihre Familie ein eigenes Ziel, Träume, den Wunsch nach Unabhängigkeit und eine tiefe Stärke in sich selbst entdeckt, ist wirklich beeindruckend. Sie arbeitet hart und kämpft zielstrebig für ihre Zukunft, hat aber gleichzeitig Prinzipien und geht unglaublich liebevoll mit den Menschen um, die ihr am Herzen liegen. Dabei ist sie erstaunlich modern und auf eine unaufdringliche Art und Weise clever, sodass sie bald zu einer der natürlichsten Power-Frauen wird, von der ich jemals gelesen habe.

Und Khai… Khai ist toll, auch wenn man ihm wegen seiner Unwissenheit, seiner Tollpatschigkeit und seiner Unbeholfenheit im Umgang mit anderen oftmals gerne etwas an den Kopf geworfen hätte. Er ist nicht so perfekt wie sein Romanvorgänger Michael, glaubt selbst ein Herz aus Stein zu haben, ist manchmal sehr unsensibel, verletzt Esme alle Nase lang und hält seine Gefühle für sie für eine "Sucht" aber genau das macht ihn so natürlich. Er ist nicht der strahlende Held der Geschichte (diesen Part übernimmt Esme für ihn) sondern die unsichere, süße Identifikationsfigur, die sich an jedem Klischee vorbei in unser Herz schleicht. Apropos Michael: als kleiner schöner Bonus dürfen wir hier seine und Stellas Hochzeit miterleben


"Liebst du mich auch? Vielleicht nur ein bisschen." Ihm wurde kalt. Nicht diese Frage. Warum hatte sie diese Frage gestellt? Er konnte ihr alle Dinge geben, die sie wollte, eine Green Card, echte Diamanten, seinen Körper, aber Liebe? Herzen aus Stein liebten nicht."


Das Ende hat dann leider ein bisschen etwas von einer romantischen Komödie (ihr wisst schon, die üblichen "Flughafen-Renn"- und "Hochzeit-auf-den-letzten-Drücker-Verhinderungs"-Szenen...) und war mir definitiv zu überstürzt. Dennoch will ich noch ein kurzes Hoch auf die Autorin aussprechen, dass sie von einem typischen Prä-Happy-End-Breakdown abgesehen und die Lösung einer durchgängigen Problematik vorgezogen hat. So wird die Geschichte trotz Kitsch am Ende sehr schön abgerundet und ich kann mich auf Band 3 freuen!



Fazit:


Dieser zweite Teil verarbeitet dieselben Zutaten wie "Kissing Lessons" - zwei liebenswerte Protagonisten, ein kulturelles Durcheinander, Anziehungskraft und Autismus und ein gesellschaftliches Gefälle als Hindernis - macht aber definitiv mehr daraus als nur eine amüsante, unterhaltsame Liebesgeschichte. Helen Hoang erzählt hier zum einen von den Irrungen und Wirrungen der Liebe wenn man (wie sie selbst) Autist ist, hat hier aber gleichzeitig auch eine Liebeserklärung an ihre Mutter geschrieben, an die Stärke und den Mut von Immigranten, die in einem fremden Land ihren eigenen Amerikanischen Traum schaffen.

Charmant, humorvoll, besonders!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.01.2020

Charmant, humorvoll, besonders!

Love Challenge
0

Der erste Teil der Reihe - Kissing Lessons - stürzte mich in einen typischen Herz-Kopf Widerspruch. Mein Leseherz war verliebt und wollte eindeutig mehr, während mein kritischer Verstand nicht über einige ...

Der erste Teil der Reihe - Kissing Lessons - stürzte mich in einen typischen Herz-Kopf Widerspruch. Mein Leseherz war verliebt und wollte eindeutig mehr, während mein kritischer Verstand nicht über einige Mängel hinwegsehen wollte. Dieser zweite Teil, auf den ich mich jetzt schon seit Wochen gefreut habe, nimmt dieselben Zutaten wie Band 1 - zwei liebenswerte Protagonisten, ein kulturelles Durcheinander, Anziehungskraft und Autismus und ein gesellschaftliches Gefälle als Hindernis - macht aber definitiv mehr daraus als eine amüsante, unterhaltsame Liebesgeschichte. Die Autorin schreibt in ihrem Nachwort, dass die Protagonistin Esme an ihre eigene Mutter angelehnt ist, die sich aus dem Nichts nach der Einwanderung von Vietnam in die USA mit mehreren Kindern vier erfolgreiche Restaurants aufgebaut hat und es nur durch Arbeit und ihre eigene Willenskraft zu etwas gebracht hat. Und in jeder Seite der Geschichte spürt man den Respekt der Autorin für diese unglaubliche Leistung und so scheinen beide Komponenten der Geschichte direkt aus dem Herzen der Autorin zu kommen: sie erzählt zum einen von den Irrungen und Wirrungen der Liebe wenn man (wie sie selbst) Autist ist, ist aber gleichzeitig auf einer tieferen Ebene eine Liebeserklärung an ihre Mutter, an die Stärke und den Mut von Immigranten, die in einem fremden Land ihren eigenen Amerikanischen Traum schaffen.


"Sie war auf keine Weise beeindruckend, die man sehen oder messen konnte, aber sie hatte dieses Feuer. Sie spürte es. Das war ihr Wert. Sie würde für ihre Familie kämpfen. Und sie würde für sich selbst kämpfen. Weil sie zählte."


Das Cover ist wie Band 1 ein wirklicher Hingucker! Diesmal ist der Hintergrund nicht grau sondern apricot und die kunstvollen Blumen und Ranken heben sich in Weiß-, Orange-, Grün- und warmen Gelbtönen ab. Der Titel glänzt in Türkis und der Autorentitel ist verschnörkelt. Besonders nett ist auch, dass in den Leselaschen der Broschierten Ausgabe wieder ein Interview mit der Autorin abgedruckt ist und die Blüten der Gestaltung auch innerhalb des Buches die Kapitelanfänge zieren. Mit der Gestaltung passt der zweite Teil der "Kiss, Love & Heart"-Reihe wunderbar zu seinem Vorgänger, hat aber durch die andere Farbgebung eine eigene, tropischere, fruchtigere Note, die gut zu Esme und Khai passt.

Wieder ist die Geschichte abwechselnd aus der personalen Er-Perspektive der beiden Protagonisten erzählt, wodurch der Leser wieder von Beginn an in alle Geheimnisse und verborgenen Gefühle der beiden eingeweiht ist. Man weiß also genau, was man zu erwarten hat, sobald man die ersten Seiten umblättert. Man weiß, worauf die Geschichte hinauslaufen wird, man kennt das altbekannte Schema und durchschaut die Protagonisten schnell. Aber das ist vollkommen in Ordnung, denn nichtsdestotrotz eroberte die Geschichte mein Herz. Es gibt hier kein Rätselraten, keine unvorhergesehenen Wendungen, keine großen Überraschungen sondern einfach nur eine prickelnde, unterhaltsame, etwas andere Liebesgeschichte, die mich von der ersten Seite an gefesselt hat.


Erster Satz: "Khai sollte eigentlich weinen."


Als erstes lernen wir im kurzen Prolog Khai kennen, den wir ja im ersten Teil schon flüchtig getroffen haben, da er mit Michael befreundet ist. Er befindet sich gerade auf einer Beerdigung, der Beerdigung seines besten Freundes um genau zu sein, und findet heraus, dass er nicht lieben kann. Denn wenn er nicht so trauert wie die anderen Gäste, muss doch sein Herz aus Stein sein, oder nicht? Um diese Meinung zu ändern und ihren Jungen endlich zu verheiraten hat sich seine Mutter auf den Weg gemacht um in Vietnam eine geeignete Braut für ihn zu suchen. Fündig wird sie ausgerechnet auf einer Toilette eines Hotels in Ho-Chi-Minh und wir lernen unsere Protagonistin Esme kennen. Als mittellose Putzkraft, die zusammen mit ihrer kleinen Tochter, ihrer Mutter und ihrer Großmutter in einem Ein-Zimmer-Apartment wohnt und auf dem Boden schläft erscheint sie auf den ersten Blick sehr anders und rief in mir eine Art kleinen Kulturschock hervor. Ihren Wunsch, nach einer Chance, einer Perspektive, etwas auf ihrem Leben zu machen, der sie antreibt dem Deal, den Khais Großmutter ihr vorschlägt, zuzustimmen, erscheint hingegen sehr nachvollziehbar und so begleiten wir unsere Protagonistin auf dem Weg in ein neues Land, ein neues Leben, eine neue Liebe...


"Sein Name, Khải, bedeutete Sieg, aber so wie er es sagte, flach, ohne Betonung, bedeutete es öffnen. Das war genau das, was sie tun musste. Er war verschlossen, und sie musste ihn öffnen. Ihrer Erfahrung nach machte man das, was man öffnen wollte, erst sauber, damit man sehen konnte, womit man es zu tun hatte, und danach bearbeitete man es wirklich hart. Esme war nicht in vielen Dingen gut, aber sie war gut im Saubemachen und Hartarbeiten. Sie konnte es schaffen. Vielleicht war sie dafür gemacht."


Auch wenn auf der reinen Handlungsebene häufig nicht besonders viel passiert - die beiden leben zusammen, arbeiten und gehen ab und zu auf eine Hochzeit - sorgt Helen Hoangs lockerer, packender Schreibstil dafür, dass es keine Sekunde langweilig wird und man es kaum schafft, sich loszureißen. So habe ich die Geschichte an einem einzigen Nachmittag gelesen und mich komplett in der Handlung und den Gefühlen der Protagonisten verloren. Dabei schafft die Autorin immer eine angenehme Balance zwischen düsteren Gedanken und lustigen, sarkastischen Dialogen, sodass ich - ständig schniefend, schmachtend oder grinsend - von meinem Umfeld etwas schräg angesehen wurde (vielen Dank dafür, Helen). Ebenfalls litt ich durch das Suchtpotential der Geschichte leider an einem typischem In-einem-Rutsch-durchlesen-und-danach-ärgern-dass-man-es-so-schnell-gelesen-hat-Dilemma (ebenfalls vielen Dank dafür, Helen ^^). Die Sensibilität, mit der sie dem Leser einen Blick ins Innere ihrer Protagonisten gewährt, die Grausamkeit, mit der sie uns und ihre Geschöpfe konfrontiert und die viele Liebe, mit der sie ihre und unsere Herzen heilt, sind wirklich erstaunlich. So schafft sie den Spagat zwischen zuckersüßem Märchen-Flair und Bitterkeit der Realität, sodass die Geschichte locker und leicht daherkommt.


"Sie war erneut gekommen, um ihn zu suchen. Niemand suchte nach ihm. Alle wussten, dass er allein sein wollte. Nur dass es nicht immer so war. Manchmal war er aus Gewohnheit alleine. Manchmal kostete es Mühe, sich von der wachsenden Leere in seinem Inneren abzulenken."


Besonders toll ist die Dynamik zwischen den beiden Protagonistin dargestellt, die beide auf ihre Art im Umgang mit dem anderen gehandicapt sind. Während Khai durch seinen Autismus eine andere Sicht auf die Welt und Menschen hat und ihm deshalb viele Dinge entgehen und er andere ohne Absicht verletzt, ist Esme in einer ganz anderen Kultur aufgewachsen und muss sich deshalb an eine neue Sprache, eine andere Art zu Leben und Khais besondere Eigenarten gewöhnen. Wie die Beiden immer wieder aneinander vorbeireden und sich in seltsame Situationen und Missverständnisse manövrieren ist zugleich witzig und liebenswert. Auch wenn von Anfang an klar ist, dass die beiden wunderbar zusammenpassen und sich am Ende auch finden werden, ist es sehr spannend zu verfolgen, wie Khai seine Befürchtung, er könne niemanden lieben und Esme ihre Komplexe, nicht schlau, gebildet, reich oder schön genug für ihn zu sein, überwindet. Etwas gestört hat mich, dass Khai von Anfang an einen total sexualisierten Blick auf Esme hat und sie das gar nicht zu kümmern scheint (ja gut, es ist vielleicht scheinheilig das zu sagen weil es bei dieser Art von Büchern normalerweise immer andersrum ist und der männliche Love-Interest nur als Objekt der Begierde dargestellt ist) aber das hat für mich nicht wirklich gepasst, vor allem weil sich Esme als unabhängige Frau versteht und Khai eigentlich nicht oberflächlich angelegt ist.


"Sie lag in seinen Armen, wandte sich an ihn, vertraute ihm, genau wie damals, als sie den Albtraum gehabt hatte. Es war furchteinflößend. Es war wundervoll. (…) Innerhalb eines Augenblicks veränderte sich alles. Der Wind wurde zu Samt, und die einzigen Geräusche waren das Pochen seines Herzens und das Rauschen seines Bluts. Die Farben wurden strahlender und tanzten. Das Grün ihrer Augen, das Gelb ihres Shirts, das Blau des Sommerhimmels, all das ließ das Rosa ihres Mundes aufleuchten."


Davon abgesehen hatte ich das Gefühl, zwei sehr runde Charaktere kennengelernt zu haben. Besonders genial ist, dass die Protagonistin hier nicht "verwestlicht" angelegt ist, wie die meisten anderen Protagonistinnen des Genres. Stattdessen ist sie jemand, auf den ich (und das ist wirklich traurig, falsch und ich schäme mich, dass erkennen zu müssen) wahrscheinlich im echten Leben herabgeschaut hätte: schlechte Schulbildung, alleinerziehende Mutter und keinerlei Selbstachtung. Dennoch schleicht sie sich mit ihrer strahlenden, direkten Art sofort ins Herz des Lesers und zwingt einen dazu, die Vorbehalte gegenüber ihr fallen zu lassen. Denn wie sie trotz ihrer fehlenden Bildung, der Sprachbarriere, der kulturellen Hürden und der Verantwortung für ihre Familie ein eigenes Ziel, Träume, den Wunsch nach Unabhängigkeit und eine tiefe Stärke in sich selbst entdeckt, ist wirklich beeindruckend. Sie arbeitet hart und kämpft zielstrebig für ihre Zukunft, hat aber gleichzeitig Prinzipien und geht unglaublich liebevoll mit den Menschen um, die ihr am Herzen liegen. Dabei ist sie erstaunlich modern und auf eine unaufdringliche Art und Weise clever, sodass sie bald zu einer der natürlichsten Power-Frauen wird, von der ich jemals gelesen habe.

Und Khai… Khai ist toll, auch wenn man ihm wegen seiner Unwissenheit, seiner Tollpatschigkeit und seiner Unbeholfenheit im Umgang mit anderen oftmals gerne etwas an den Kopf geworfen hätte. Er ist nicht so perfekt wie sein Romanvorgänger Michael, glaubt selbst ein Herz aus Stein zu haben, ist manchmal sehr unsensibel, verletzt Esme alle Nase lang und hält seine Gefühle für sie für eine "Sucht" aber genau das macht ihn so natürlich. Er ist nicht der strahlende Held der Geschichte (diesen Part übernimmt Esme für ihn) sondern die unsichere, süße Identifikationsfigur, die sich an jedem Klischee vorbei in unser Herz schleicht. Apropos Michael: als kleiner schöner Bonus dürfen wir hier seine und Stellas Hochzeit miterleben


"Liebst du mich auch? Vielleicht nur ein bisschen." Ihm wurde kalt. Nicht diese Frage. Warum hatte sie diese Frage gestellt? Er konnte ihr alle Dinge geben, die sie wollte, eine Green Card, echte Diamanten, seinen Körper, aber Liebe? Herzen aus Stein liebten nicht."


Das Ende hat dann leider ein bisschen etwas von einer romantischen Komödie (ihr wisst schon, die üblichen "Flughafen-Renn"- und "Hochzeit-auf-den-letzten-Drücker-Verhinderungs"-Szenen...) und war mir definitiv zu überstürzt. Dennoch will ich noch ein kurzes Hoch auf die Autorin aussprechen, dass sie von einem typischen Prä-Happy-End-Breakdown abgesehen und die Lösung einer durchgängigen Problematik vorgezogen hat. So wird die Geschichte trotz Kitsch am Ende sehr schön abgerundet und ich kann mich auf Band 3 freuen!



Fazit:


Dieser zweite Teil verarbeitet dieselben Zutaten wie "Kissing Lessons" - zwei liebenswerte Protagonisten, ein kulturelles Durcheinander, Anziehungskraft und Autismus und ein gesellschaftliches Gefälle als Hindernis - macht aber definitiv mehr daraus als nur eine amüsante, unterhaltsame Liebesgeschichte. Helen Hoang erzählt hier zum einen von den Irrungen und Wirrungen der Liebe wenn man (wie sie selbst) Autist ist, hat hier aber gleichzeitig auch eine Liebeserklärung an ihre Mutter geschrieben, an die Stärke und den Mut von Immigranten, die in einem fremden Land ihren eigenen Amerikanischen Traum schaffen.

Charmant, humorvoll, besonders!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.01.2020

Aufrüttelnd, berührend, mitreißend!

You are (not) safe here
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Die Autorin schreibt in ihrer Anmerkung am Ende, dies sei eine "Survival-Story" - die Protagonisten kämpfen hier zwar nicht auf einer einsamen Insel, in der Wüste oder im Eis um ihr Überleben sondern retten ...

Die Autorin schreibt in ihrer Anmerkung am Ende, dies sei eine "Survival-Story" - die Protagonisten kämpfen hier zwar nicht auf einer einsamen Insel, in der Wüste oder im Eis um ihr Überleben sondern retten sich dort von Tag zu Tag, wo sie sich eigentlich am sichersten fühlen sollten: zuhause. Doch was Kyrie McCauley hier geschrieben hat ist nicht nur eine spannende Survival-Story, sondern auch ein hoffnungsvoller Coming-of-Age-Roman, ein schonungslose Gesellschaftskritik und ein düsterer Fantasy-Thriller. Was nach einer absurden Mischung klingt, entwickelt sich aber zu einem der beeindruckendsten Jugendromanen, die ich jemals gelesen habe.


"Ich rieche die Rosen und denke an Frauen, die von anderen Frauen im Stich gelassen werden. Frauen, denen gesagt wird, dass ihr Gehorsam wichtiger ist als ihr Leben- und das nicht von ihren Männern, sondern von ihren Müttern und ihren Freundinnen. Von Frauen, die bereit sind, einander zuzusehen, wie sie aufgrund von Traditionen und überkommenen Vorstellungen verletzt werden."


"You are (not) safe here" - die 17-Jährige Leighton und ihre beiden jüngeren Schwestern fühlen sich in ihrem eigenen Haus nicht sicher und das schon eine ganze Weile nicht mehr. Schuld ist ER, ihr Vater, der seine brodelnde Wut nicht unter Kontrolle hat. Warum also finde ich den Titel trotzdem nicht so gut wie das Original? Weil "If these Wings could fly" den Kern der Geschichte besser trifft. Es geht hier zwar um Angst, fehlende Sicherheit und Gewalt - es geht aber auch um den Gegensatz zwischen Liebe und Hass, Fesseln und Flügel, Angst und Hoffnung, welcher sich im englischen Titel meiner Meinung nach besser zeigt. Warum man - wenn man schon einen englischen Titel wählt - nicht einfach beim Original bleiben kann, habe ich noch nie verstanden.


"Die Welt dreht sich um uns herum. Und die Worte steigen von selbst in mir hoch, schnell und ohne Mühe, wie Luft. Worte, die unsichtbar an dem Ding in meiner Brust vorbeijagen, bevor es sie erwischen kann, taumeln aus mir heraus, bevor ich zum Nachdenken komme: "Ich liebe dich."


Auch das deutsche Cover - auch wenn dieses wirklich schön gemacht ist mit der dominanten Schrift, dem schmutzig-weißen Hintergrund, dem rot durchgestrichenen "not" und den schwarzen, rau hervorgehobenen Federn - ist nichts im Vergleich zum Original, welches blaue Silhouetten von Krähen, die im Herzen ein kleines, rotes Haus tragen, zeigt. Sehr schön an der Ausgabe sind jedoch die Einfügungen nach den kurzen Kapiteln, die Datum, Ort und den aktuellen Krähenbestand Auburns anzeigen. Ebenfalls eine gute wie wichtige Idee finde ich die Nennung von Hilfe- und Anlaufstellen ganz am Ende der Geschichte. Denn wie die Autorin in ihrer Widmung schreibt ist das vor allem eine Geschichte für die Überlebenden von häuslicher Gewalt und für alle Nachbarn, Freunde, Mitmenschen, die einfach wegschauen und nicht wissen, was sie tun sollen.


Erster Satz: "Es passiert in der Ausdehnung der Stille, dass ich mich frage, ob sie ganz einfach tot ist."


Mit diesem Gänsehaut-bereitenden Satz steigen wir in die Geschichte von Leighton ein, die Schule, ihre erste Liebe, ihre Zukunftspläne und ihre Träume gegen die Verantwortung ihren Schwestern gegenüber und ihr gemeinsames Überleben in einem Spukhaus abwägen muss. Sich in den charmanten Liam zu verlieben, fühlt sich wie eine Rebellion an, wenn man Zuhause nur Hass gewohnt ist. Von einem Studium in New York zu träumen, fühlt sich wie Verrat an, wenn man dann seine Schwestern mit IHM alleine lässt. Doch soll sie deshalb einfach dableiben und nichts tun, wenn sich jeder weitere Tag wie sterben anfühlt? Jetzt, da ihr nur noch ein einziges Jahr Schule bleibt, läuft ihre Zeit langsam ab und sie muss sich entscheiden, ob sie ihre Flügel ausbreiten und wegfliegen oder dableiben und weiter vor Angst starr ausharren soll. Ob sie endlich ihre Stimme erheben und die unvermeidliche Eskalation in Kauf nehmen oder passiv auf die Explosion warten soll...


"Wie groß ist dein Mut?", überlege ich. Nicht sehr groß. Eher klein. Und er schrumpft immer mehr. Was wird es kosten, diese Stadt zu verlassen? Mut oder Feigheit?"


Ich denke es wird schon im Klapptext sofort klar, worum es hier im Kern geht: häusliche Gewalt. Dennoch hat mich die Autorin überrascht, in dem sie das schwierige Thema mal etwas anders angepackt hat. Hier gibt es keine Schläge, kein Missbrauch, keine bei der Einlieferung ins Krankenhaus vorgetäuschte "Unfälle" sondern die Gewalt, die Leighton, ihren Schwestern und ihrer Mutter zugefügt wird, spielt sich mehr auf psychischer Ebene ab. Besonders beeindruckt hat mich aber, dass es die Autorin nicht bei der Täter-Opfer-Dimension und teilnahmslosen Zuschauern belässt sondern das komplexe Thema weiter aufrollt. Sie schreibt von Machtverhältnissen, Abhängigkeit, Selbstwertproblemen und dem großen Schaden des Kleinredens des Problems und prangert ganz nebenbei die gesellschaftliche Rolle von Frauen allgemein an. Wie geschickt und natürlich sie dabei vielfältige Aspekte und Denkanstöße miteinfließen lässt und beispielsweise durch die Diskussion des Klassikers "Tess von den d'Urbervilles: Eine reine Frau" oder die Recherche von Krähen-Mythen auf Themen wie Rassismus, Perspektivlosigkeit und toxische Normen kommt und eine kleine feministische Debatte auslöst, hat mich nur staunen lassen. Es stecken unfassbar viele tolle und wichtige Gedanken in dieser besonderen Geschichte, die ich wirklich jedem ans Herz legen kann!


"Hier nennen sie Ignoranz Tradition und machen weiter, als ob sie das Recht erworben hätten, grausam zu sein."


Ein weiterer Punkt, der die Problematik so eindrücklich wirken lässt ist, dass das Familienleben sehr authentisch dargestellt ist und gerade deshalb so unter die Haut geht. Es wechseln sich intaktes Familienleben und albtraumhafte Ausbrüche, grausame Wut und einsichtige Reue, einfache Normalität und unleugbare Gewalt ab und gerade dieser Wechsel macht die Bedrohung für Leighton und ihre Schwestern so schrecklich. Diese Ungewissheit, ob heute ein guter oder ein schlechter Tag ist, die ständige Nervosität, etwas Falsches zu sagen oder zu tun und die Angst, dass es DIE Nacht sein wird, in dem er nicht zu einer Tasse oder einer Vase greift sondern seine Pistole oder ein Messer zur Hand nimmt. Die Autorin zeichnet das Bild einer Familie zwischen Hass und Liebe, Wut und Vergebung, Erniedrigung und Stärke, Hoffnung und Angst, welches aufrüttelt und tief berührt. Ganz besonders schön ist dabei, dass man bald feststellt, dass Leighton trotz der vielen Wut, der Angst und des Leids, das sie durchstehen muss, so viel Liebe um sich herum hat. Ihre Schwestern, ihre Mutter, ihre beste Freundin, ihre Oma, ihr Freund und dessen Familie - alle versuchen für sie da zu sein und geben ihr Bestes für sie. Und genau aus diesem Grund ist dieses Buch, so hässlich und tragisch es an manchen Stellen erscheint im Kern doch wunderschön!


"All die Worte, die ich nicht sage. Stattdessen schlucke ich sie herunter und die Buchstaben sind spitz an den Ecken und scharf an den Kanten. Es schmerzt, wenn sie ich runterschlucke. Und sie bleiben in mir und machen mir Bauchschmerzen. Manchmal denke ich, wenn man mich aufschneiden würde, wären all die Worte tatsächlich sichtbar. Wie bei einem Wal, der zu viel Müll gefressen hat, bis der Körper nur noch eine Zeitkapsel ist für all das, was Menschen wegwerfen."


Passend dazu sind die Charaktere sehr feinfühlig gezeichnet. Da wäre Hauptprotagonistin, die die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt und zwischen Isolation und Mitteilungsbedürfnis, zwischen Kämpfen und Weglaufen, Beschützen und sich selbst retten gefangen ist. Mit ihrer stoischen, mutigen aber realistischer Weise auch ein wenig gebrochenen Art wächst sie dem Leser sofort ans Herz und man wünscht ihr, dass ihre Flügel wirklich fliegen können. Besonders berührend sind aber auch die Nebencharaktere wie die süße, unschuldige Juniper, die mit ihrer Verletzlichkeit und Angst immer wieder unter die Haut geht; die nachdenkliche, direkte Campbell, die tagsüber wie ein Wirbelwind durch Auburn saust und wilde Schneeballschlachten führt und sich nachts wie versteinert von Leightons Schattenfiguren ablenken lässt; die offenherzige Sofia, die Leighton in der Schule den Rücken freihält und in stillem Einvernehmen nicht in der Wunde bohrt; der sensible Liam, der Leighton durch ihre ehrliche, zarte Beziehung die Hoffnung auf eine eigene Zukunft und neue Kraft schenkt; die liebevolle Mutter, die nach allem was vorgefallen ist, in ihrem Mann immer noch ihr Zuhause sieht und nicht aus Schwäche sondern aus Liebe immer wieder zu ihm zurückkehrt und der Vater, der durch seine eigene Kindheit ein Vermächtnis von Wut gelehrt wurde und seinen Lebensfrust an seiner Familie auslässt und dennoch mehr ist als ein Monster. Diese wundervollen Protagonisten tragen dazu bei, dass diese Geschichte hässlich und schön, unheimlich und alltäglich, brutal und zärtlich, düster und hoffnungsvoll zugleich wirkt und wir hier ein differenziertes, facettenreiches Bild erhalten.


"Es hockt in meiner Brust - dieses Ding. Es ist Angst. Und ich habe sie weggesperrt wie ein gefährliches Wesen, das sie ja auch ist. Denn Angst lässt mich unbedacht handeln. Angst macht mich schwach. Ich würde ja weglaufen, möchte ich dem flatternden Ding in meinem Inneren sagen, wenn ich nur einen Ort wüsste, wohin. Es gibt einen Ort. EsgibtaufderWeltkeinenOrtwoichhinkann."


So kam es wie es kommen musste und ich war trotz des eher langsamen Erzähltempos, den vielen Wiederholungen und einiger Schwächen im Aufbau absolut gebannt von der Geschichte. Kyrie McCauley fesselt uns mit vielen kurzen Szenen, bildhafter Sprache und atmosphärischer Spannung schleichend an die Geschichte. Bevor man es sich versieht, wird man von dem bedrückenden Szenario verschlungen, das sich weniger rasant, eher wie ein zäher aber stetiger Fluss vorwärts bewegt - auf eine unvermeidliche Eskalation zu.


"Was ist das Gewicht eines Worts? Vielleicht wird es in Tinte und Papier gemessen. Vielleicht aber auch daran, wie viel Schmerz es verursacht."


Auch wenn die Geschichte vergleichsweise viele "normale", gewöhnliche Szenen enthält, spürt man von Anfang an, dass etwas in der Luft liegt. Das wird nicht nur durch die ernste Problematik sondern auch durch einen genialen Kunstgriff der Autorin verursacht. Sie hat der realen Handlungsebene auf einer Metaebene eine magische, surreale Komponente hinzugefügt, die vor allem für die grandiose Atmosphäre des Buches sorgt. Zwar war ich teilweise verwirrt, was magische Elemente wie ein böses Haus, das die Spuren von Gewalt tilgt und die Schuld zusammen mit Glassplittern und Putzbröckchen verschwinden lässt, sodass außer verletzten Gefühlen keine Hinweise mehr zurückbleiben, in dieser Geschichte verloren haben. Die teilweise merkwürdigen Ereignisse, die das Haus wie eine Art verfluchtes Paralleluniversum erscheinen lassen, passen aber wirklich gut zur Thematik und tragen auch maßgeblich zur Darstellung und Pointierung des Konflikts bei.


"Die meisten Spukhäuser werden von Toten heimgesucht, nicht von Lebenden. Außer dieses. Dieses ist von uns allen besessen, sogar wenn wir nicht da sind. Als wenn es kleine Teile von uns nimmt und sie in seinem Fundament, seinen Nägeln und seinem Holz ablegt, da wo es nachgibt.
Lauf. Ich bleibe auf der Treppe stehen.
Lauf weg, schreit etwas tief in meinem Inneren."


Die sich langsam aufbauenden atmosphärische Spannung der Geschichte geht einher mit dem wachsenden Krähenbestand in Auburn. Waren es zu Beginn noch gerade mal 212 Krähen, sind es gegen Ende fast 100 000 der schwarzen Vögel, die die Bäume, Straßen und Häuser der Kleinstadt besetzen. Was der Ornithologe, den Leighton für ihre Zeitungskolumne kontaktiert für ein spannendes Zugphänomen hält und die Stadtbewohner als Bedrohung wahrnehmen, empfindet Leighton als alles andere als beunruhigend. Wie sollte sie auch vor ein paar Krähen Angst haben, wenn sie Nacht für Nacht mit ihren Schwestern im alten Schrank ihrer Großmutter ausharrt und zittern darauf wartet, dass die Schreie von unten aufhören. Nein, sie fühlt sich eher beschützt von tausenden Augenpaaren, die endlich hinsehen, von schwarzen Flügeln, die tröstlichen Schatten werfen, von klugen Köpfen, die ihr immer wieder kleine Geschenke bringen. Die Autorin setzt die Krähen auf Hitchcock-Weise als Stilmittel um eine düstere, unheilschwangere Stimmung zu schaffen, ein, gibt dem Schwarm aber auch eine weitere Bedeutung: Hoffnung. Denn Krähen können nicht nur für Tod sondern auch für Veränderung oder Neuanfang stehen - und den hat die Familie definitiv notwendig.

Wie genau die Lösung für das verzwickte, komplizierte Problem aussehen soll, ist natürlich nicht klar und es würde dem Thema auch nicht gerecht werden, einen einfachen Ausweg anzubieten. Wie die Lösung der Autorin aussieht, was dann am Ende passiert, will ich natürlich nicht verraten. Nur so viel: es schnell, überstürzt und anders als man denkt - dennoch hat Kyrie McCauley das perfekte Ende gefunden!


"In Auburn geboren. Stolz auf Auburn.
Hier ist, was ich über Stolz weiß. Ich weiß, dass er die Geheimnisse grausamer Männer bewahrt. Ich weiß, dass er uns im Schatten hält, weil wir zu stolz sind zuzugeben, dass wir Hilfe brauchen. Ich weiß, dass Stolz den Ruf eines Mannes über das leben einer Frau stellt. Stolz nennt Frauen egoistisch, wenn sie den Mund aufmachen, selbst wenn sie die Wahrheit sagen. Gerade dann.
Und hier ist, was ich über Auburn weiß. Ich weiß von panischem Klopfen nachts an Türen, das ignoriert wird. Ich weiß von Männern, die wegschauen, wenn ihr Freund das Problem ist. Denn Auburn ist eine Stadt, in der Menschen nur sehen, was sie sehen wollen. (...)
Es sind nicht die Krähen, die Auburn hässlich machen."




Fazit:


Eine spannende Survival-Story, die gleichzeitig auch ein hoffnungsvoller Coming-of-Age-Roman, ein schonungslose Gesellschaftskritik und ein düsterer Fantasy-Thriller ist. Kyrie McCauley zeichnet feinfühlig aber schonungslos das Bild einer Familie zwischen Hass und Liebe, Wut und Vergebung, Erniedrigung und Stärke, Hoffnung und Angst, welches aufrüttelt und tief berührt.

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  • Erzählstil
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  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.01.2020

Aufrüttelnd, berührend, mitreißend!

You are (not) safe here
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Die Autorin schreibt in ihrer Anmerkung am Ende, dies sei eine "Survival-Story" - die Protagonisten kämpfen hier zwar nicht auf einer einsamen Insel, in der Wüste oder im Eis um ihr Überleben sondern retten ...

Die Autorin schreibt in ihrer Anmerkung am Ende, dies sei eine "Survival-Story" - die Protagonisten kämpfen hier zwar nicht auf einer einsamen Insel, in der Wüste oder im Eis um ihr Überleben sondern retten sich dort von Tag zu Tag, wo sie sich eigentlich am sichersten fühlen sollten: zuhause. Doch was Kyrie McCauley hier geschrieben hat ist nicht nur eine spannende Survival-Story, sondern auch ein hoffnungsvoller Coming-of-Age-Roman, ein schonungslose Gesellschaftskritik und ein düsterer Fantasy-Thriller. Was nach einer absurden Mischung klingt, entwickelt sich aber zu einem der beeindruckendsten Jugendromanen, die ich jemals gelesen habe.


"Ich rieche die Rosen und denke an Frauen, die von anderen Frauen im Stich gelassen werden. Frauen, denen gesagt wird, dass ihr Gehorsam wichtiger ist als ihr Leben- und das nicht von ihren Männern, sondern von ihren Müttern und ihren Freundinnen. Von Frauen, die bereit sind, einander zuzusehen, wie sie aufgrund von Traditionen und überkommenen Vorstellungen verletzt werden."


"You are (not) safe here" - die 17-Jährige Leighton und ihre beiden jüngeren Schwestern fühlen sich in ihrem eigenen Haus nicht sicher und das schon eine ganze Weile nicht mehr. Schuld ist ER, ihr Vater, der seine brodelnde Wut nicht unter Kontrolle hat. Warum also finde ich den Titel trotzdem nicht so gut wie das Original? Weil "If these Wings could fly" den Kern der Geschichte besser trifft. Es geht hier zwar um Angst, fehlende Sicherheit und Gewalt - es geht aber auch um den Gegensatz zwischen Liebe und Hass, Fesseln und Flügel, Angst und Hoffnung, welcher sich im englischen Titel meiner Meinung nach besser zeigt. Warum man - wenn man schon einen englischen Titel wählt - nicht einfach beim Original bleiben kann, habe ich noch nie verstanden.


"Die Welt dreht sich um uns herum. Und die Worte steigen von selbst in mir hoch, schnell und ohne Mühe, wie Luft. Worte, die unsichtbar an dem Ding in meiner Brust vorbeijagen, bevor es sie erwischen kann, taumeln aus mir heraus, bevor ich zum Nachdenken komme: "Ich liebe dich."


Auch das deutsche Cover - auch wenn dieses wirklich schön gemacht ist mit der dominanten Schrift, dem schmutzig-weißen Hintergrund, dem rot durchgestrichenen "not" und den schwarzen, rau hervorgehobenen Federn - ist nichts im Vergleich zum Original, welches blaue Silhouetten von Krähen, die im Herzen ein kleines, rotes Haus tragen, zeigt. Sehr schön an der Ausgabe sind jedoch die Einfügungen nach den kurzen Kapiteln, die Datum, Ort und den aktuellen Krähenbestand Auburns anzeigen. Ebenfalls eine gute wie wichtige Idee finde ich die Nennung von Hilfe- und Anlaufstellen ganz am Ende der Geschichte. Denn wie die Autorin in ihrer Widmung schreibt ist das vor allem eine Geschichte für die Überlebenden von häuslicher Gewalt und für alle Nachbarn, Freunde, Mitmenschen, die einfach wegschauen und nicht wissen, was sie tun sollen.


Erster Satz: "Es passiert in der Ausdehnung der Stille, dass ich mich frage, ob sie ganz einfach tot ist."


Mit diesem Gänsehaut-bereitenden Satz steigen wir in die Geschichte von Leighton ein, die Schule, ihre erste Liebe, ihre Zukunftspläne und ihre Träume gegen die Verantwortung ihren Schwestern gegenüber und ihr gemeinsames Überleben in einem Spukhaus abwägen muss. Sich in den charmanten Liam zu verlieben, fühlt sich wie eine Rebellion an, wenn man Zuhause nur Hass gewohnt ist. Von einem Studium in New York zu träumen, fühlt sich wie Verrat an, wenn man dann seine Schwestern mit IHM alleine lässt. Doch soll sie deshalb einfach dableiben und nichts tun, wenn sich jeder weitere Tag wie sterben anfühlt? Jetzt, da ihr nur noch ein einziges Jahr Schule bleibt, läuft ihre Zeit langsam ab und sie muss sich entscheiden, ob sie ihre Flügel ausbreiten und wegfliegen oder dableiben und weiter vor Angst starr ausharren soll. Ob sie endlich ihre Stimme erheben und die unvermeidliche Eskalation in Kauf nehmen oder passiv auf die Explosion warten soll...


"Wie groß ist dein Mut?", überlege ich. Nicht sehr groß. Eher klein. Und er schrumpft immer mehr. Was wird es kosten, diese Stadt zu verlassen? Mut oder Feigheit?"


Ich denke es wird schon im Klapptext sofort klar, worum es hier im Kern geht: häusliche Gewalt. Dennoch hat mich die Autorin überrascht, in dem sie das schwierige Thema mal etwas anders angepackt hat. Hier gibt es keine Schläge, kein Missbrauch, keine bei der Einlieferung ins Krankenhaus vorgetäuschte "Unfälle" sondern die Gewalt, die Leighton, ihren Schwestern und ihrer Mutter zugefügt wird, spielt sich mehr auf psychischer Ebene ab. Besonders beeindruckt hat mich aber, dass es die Autorin nicht bei der Täter-Opfer-Dimension und teilnahmslosen Zuschauern belässt sondern das komplexe Thema weiter aufrollt. Sie schreibt von Machtverhältnissen, Abhängigkeit, Selbstwertproblemen und dem großen Schaden des Kleinredens des Problems und prangert ganz nebenbei die gesellschaftliche Rolle von Frauen allgemein an. Wie geschickt und natürlich sie dabei vielfältige Aspekte und Denkanstöße miteinfließen lässt und beispielsweise durch die Diskussion des Klassikers "Tess von den d'Urbervilles: Eine reine Frau" oder die Recherche von Krähen-Mythen auf Themen wie Rassismus, Perspektivlosigkeit und toxische Normen kommt und eine kleine feministische Debatte auslöst, hat mich nur staunen lassen. Es stecken unfassbar viele tolle und wichtige Gedanken in dieser besonderen Geschichte, die ich wirklich jedem ans Herz legen kann!


"Hier nennen sie Ignoranz Tradition und machen weiter, als ob sie das Recht erworben hätten, grausam zu sein."


Ein weiterer Punkt, der die Problematik so eindrücklich wirken lässt ist, dass das Familienleben sehr authentisch dargestellt ist und gerade deshalb so unter die Haut geht. Es wechseln sich intaktes Familienleben und albtraumhafte Ausbrüche, grausame Wut und einsichtige Reue, einfache Normalität und unleugbare Gewalt ab und gerade dieser Wechsel macht die Bedrohung für Leighton und ihre Schwestern so schrecklich. Diese Ungewissheit, ob heute ein guter oder ein schlechter Tag ist, die ständige Nervosität, etwas Falsches zu sagen oder zu tun und die Angst, dass es DIE Nacht sein wird, in dem er nicht zu einer Tasse oder einer Vase greift sondern seine Pistole oder ein Messer zur Hand nimmt. Die Autorin zeichnet das Bild einer Familie zwischen Hass und Liebe, Wut und Vergebung, Erniedrigung und Stärke, Hoffnung und Angst, welches aufrüttelt und tief berührt. Ganz besonders schön ist dabei, dass man bald feststellt, dass Leighton trotz der vielen Wut, der Angst und des Leids, das sie durchstehen muss, so viel Liebe um sich herum hat. Ihre Schwestern, ihre Mutter, ihre beste Freundin, ihre Oma, ihr Freund und dessen Familie - alle versuchen für sie da zu sein und geben ihr Bestes für sie. Und genau aus diesem Grund ist dieses Buch, so hässlich und tragisch es an manchen Stellen erscheint im Kern doch wunderschön!


"All die Worte, die ich nicht sage. Stattdessen schlucke ich sie herunter und die Buchstaben sind spitz an den Ecken und scharf an den Kanten. Es schmerzt, wenn sie ich runterschlucke. Und sie bleiben in mir und machen mir Bauchschmerzen. Manchmal denke ich, wenn man mich aufschneiden würde, wären all die Worte tatsächlich sichtbar. Wie bei einem Wal, der zu viel Müll gefressen hat, bis der Körper nur noch eine Zeitkapsel ist für all das, was Menschen wegwerfen."


Passend dazu sind die Charaktere sehr feinfühlig gezeichnet. Da wäre Hauptprotagonistin, die die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt und zwischen Isolation und Mitteilungsbedürfnis, zwischen Kämpfen und Weglaufen, Beschützen und sich selbst retten gefangen ist. Mit ihrer stoischen, mutigen aber realistischer Weise auch ein wenig gebrochenen Art wächst sie dem Leser sofort ans Herz und man wünscht ihr, dass ihre Flügel wirklich fliegen können. Besonders berührend sind aber auch die Nebencharaktere wie die süße, unschuldige Juniper, die mit ihrer Verletzlichkeit und Angst immer wieder unter die Haut geht; die nachdenkliche, direkte Campbell, die tagsüber wie ein Wirbelwind durch Auburn saust und wilde Schneeballschlachten führt und sich nachts wie versteinert von Leightons Schattenfiguren ablenken lässt; die offenherzige Sofia, die Leighton in der Schule den Rücken freihält und in stillem Einvernehmen nicht in der Wunde bohrt; der sensible Liam, der Leighton durch ihre ehrliche, zarte Beziehung die Hoffnung auf eine eigene Zukunft und neue Kraft schenkt; die liebevolle Mutter, die nach allem was vorgefallen ist, in ihrem Mann immer noch ihr Zuhause sieht und nicht aus Schwäche sondern aus Liebe immer wieder zu ihm zurückkehrt und der Vater, der durch seine eigene Kindheit ein Vermächtnis von Wut gelehrt wurde und seinen Lebensfrust an seiner Familie auslässt und dennoch mehr ist als ein Monster. Diese wundervollen Protagonisten tragen dazu bei, dass diese Geschichte hässlich und schön, unheimlich und alltäglich, brutal und zärtlich, düster und hoffnungsvoll zugleich wirkt und wir hier ein differenziertes, facettenreiches Bild erhalten.


"Es hockt in meiner Brust - dieses Ding. Es ist Angst. Und ich habe sie weggesperrt wie ein gefährliches Wesen, das sie ja auch ist. Denn Angst lässt mich unbedacht handeln. Angst macht mich schwach. Ich würde ja weglaufen, möchte ich dem flatternden Ding in meinem Inneren sagen, wenn ich nur einen Ort wüsste, wohin. Es gibt einen Ort. EsgibtaufderWeltkeinenOrtwoichhinkann."


So kam es wie es kommen musste und ich war trotz des eher langsamen Erzähltempos, den vielen Wiederholungen und einiger Schwächen im Aufbau absolut gebannt von der Geschichte. Kyrie McCauley fesselt uns mit vielen kurzen Szenen, bildhafter Sprache und atmosphärischer Spannung schleichend an die Geschichte. Bevor man es sich versieht, wird man von dem bedrückenden Szenario verschlungen, das sich weniger rasant, eher wie ein zäher aber stetiger Fluss vorwärts bewegt - auf eine unvermeidliche Eskalation zu.


"Was ist das Gewicht eines Worts? Vielleicht wird es in Tinte und Papier gemessen. Vielleicht aber auch daran, wie viel Schmerz es verursacht."


Auch wenn die Geschichte vergleichsweise viele "normale", gewöhnliche Szenen enthält, spürt man von Anfang an, dass etwas in der Luft liegt. Das wird nicht nur durch die ernste Problematik sondern auch durch einen genialen Kunstgriff der Autorin verursacht. Sie hat der realen Handlungsebene auf einer Metaebene eine magische, surreale Komponente hinzugefügt, die vor allem für die grandiose Atmosphäre des Buches sorgt. Zwar war ich teilweise verwirrt, was magische Elemente wie ein böses Haus, das die Spuren von Gewalt tilgt und die Schuld zusammen mit Glassplittern und Putzbröckchen verschwinden lässt, sodass außer verletzten Gefühlen keine Hinweise mehr zurückbleiben, in dieser Geschichte verloren haben. Die teilweise merkwürdigen Ereignisse, die das Haus wie eine Art verfluchtes Paralleluniversum erscheinen lassen, passen aber wirklich gut zur Thematik und tragen auch maßgeblich zur Darstellung und Pointierung des Konflikts bei.


"Die meisten Spukhäuser werden von Toten heimgesucht, nicht von Lebenden. Außer dieses. Dieses ist von uns allen besessen, sogar wenn wir nicht da sind. Als wenn es kleine Teile von uns nimmt und sie in seinem Fundament, seinen Nägeln und seinem Holz ablegt, da wo es nachgibt.
Lauf. Ich bleibe auf der Treppe stehen.
Lauf weg, schreit etwas tief in meinem Inneren."


Die sich langsam aufbauenden atmosphärische Spannung der Geschichte geht einher mit dem wachsenden Krähenbestand in Auburn. Waren es zu Beginn noch gerade mal 212 Krähen, sind es gegen Ende fast 100 000 der schwarzen Vögel, die die Bäume, Straßen und Häuser der Kleinstadt besetzen. Was der Ornithologe, den Leighton für ihre Zeitungskolumne kontaktiert für ein spannendes Zugphänomen hält und die Stadtbewohner als Bedrohung wahrnehmen, empfindet Leighton als alles andere als beunruhigend. Wie sollte sie auch vor ein paar Krähen Angst haben, wenn sie Nacht für Nacht mit ihren Schwestern im alten Schrank ihrer Großmutter ausharrt und zittern darauf wartet, dass die Schreie von unten aufhören. Nein, sie fühlt sich eher beschützt von tausenden Augenpaaren, die endlich hinsehen, von schwarzen Flügeln, die tröstlichen Schatten werfen, von klugen Köpfen, die ihr immer wieder kleine Geschenke bringen. Die Autorin setzt die Krähen auf Hitchcock-Weise als Stilmittel um eine düstere, unheilschwangere Stimmung zu schaffen, ein, gibt dem Schwarm aber auch eine weitere Bedeutung: Hoffnung. Denn Krähen können nicht nur für Tod sondern auch für Veränderung oder Neuanfang stehen - und den hat die Familie definitiv notwendig.

Wie genau die Lösung für das verzwickte, komplizierte Problem aussehen soll, ist natürlich nicht klar und es würde dem Thema auch nicht gerecht werden, einen einfachen Ausweg anzubieten. Wie die Lösung der Autorin aussieht, was dann am Ende passiert, will ich natürlich nicht verraten. Nur so viel: es schnell, überstürzt und anders als man denkt - dennoch hat Kyrie McCauley das perfekte Ende gefunden!


"In Auburn geboren. Stolz auf Auburn.
Hier ist, was ich über Stolz weiß. Ich weiß, dass er die Geheimnisse grausamer Männer bewahrt. Ich weiß, dass er uns im Schatten hält, weil wir zu stolz sind zuzugeben, dass wir Hilfe brauchen. Ich weiß, dass Stolz den Ruf eines Mannes über das leben einer Frau stellt. Stolz nennt Frauen egoistisch, wenn sie den Mund aufmachen, selbst wenn sie die Wahrheit sagen. Gerade dann.
Und hier ist, was ich über Auburn weiß. Ich weiß von panischem Klopfen nachts an Türen, das ignoriert wird. Ich weiß von Männern, die wegschauen, wenn ihr Freund das Problem ist. Denn Auburn ist eine Stadt, in der Menschen nur sehen, was sie sehen wollen. (...)
Es sind nicht die Krähen, die Auburn hässlich machen."




Fazit:


Eine spannende Survival-Story, die gleichzeitig auch ein hoffnungsvoller Coming-of-Age-Roman, ein schonungslose Gesellschaftskritik und ein düsterer Fantasy-Thriller ist. Kyrie McCauley zeichnet feinfühlig aber schonungslos das Bild einer Familie zwischen Hass und Liebe, Wut und Vergebung, Erniedrigung und Stärke, Hoffnung und Angst, welches aufrüttelt und tief berührt.

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Veröffentlicht am 26.12.2019

Charmante Unterhaltung, die auch eine interessante Botschaft bereithält.

Eine Woche voller Montage
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Blub-di-di-blub-blub-ding!

"Eine Woche voller Montage" beginnt mit einem fröhlichen Smartphone-Ton, den wir alle sofort im Ohr haben. Modern, heiter, manchmal ein wenig nervig aber im Grunde genommen ...

Blub-di-di-blub-blub-ding!

"Eine Woche voller Montage" beginnt mit einem fröhlichen Smartphone-Ton, den wir alle sofort im Ohr haben. Modern, heiter, manchmal ein wenig nervig aber im Grunde genommen süß - genau wie dieser Ton ist auch die Geschichte. Jessica Brody erzählt hier mit viel Witz und Herz eine unterhaltsame Teenie-Komödie ohne große Überraschungen.

Das Cover ist ein typischer Magellan-Traum - liebevoll und aufwändig gestaltet, innen und außen voller Details. Den Schutzumschlag der gebundenen Ausgabe ziert ein großes rotes Riesenrad, dessen Bedeutung erst im Laufe der Geschichte ans Licht kommt. Das helle Rot passt wunderbar zu dem sanften Türkis des Hintergrunds und der Titel hebt sich sowohl optisch als auch fühlbar vom Rest ab. Auf der Rückseite des Buches ist ein Abreißkalender zu sehen, der innerhalb der Geschichte die Anzahl der erlebten Montage anzeigt. Auch unter dem Schutzumschlag, entzücken die türkisene Farbe des Buches, die Lichteffekte auf den Buchdeckeln und der ausgestaltete Buchrücken. Die ersten Seiten schmücken kleine bunte Riesenradkabinen. Neben den Kalenderblättern, die die Handlung in die sieben erlebten Montage einteilen, ist noch erwähnenswert, dass die Unterabschnitte immer mit einem Songtitel benannt sind, die es sich lohnt, während des Lesens zu hören. Insgesamt also eine sehr nette Gestaltung, die den Leser der Zielgruppe ansprechen wird und definitiv mehr Klasse hat als das englische Originalcover!


"Heute wird ein guter Tag. Das spüre ich."


Das denkt Ellie Sparks, als sie an einem ganz normalen Montagmorgen aufsteht und aus dem Haus geht. Wie sehr man sich doch irren kann. Nicht nur dass sich ihre Eltern morgens mal wieder anbrüllen und sie deshalb vergisst, einen Schirm mitzunehmen, was ihr ihr Aussehen auf den Jahrgangsfotos komplett vermiest, sie fährt auch noch mit Karacho über eine orange-rote Ampel, was ihr ein teures Blitzlichtgewitter beschert. Es folgen ein vergessener Geschichtstest, bei dem sie nur raten kann, eine Kamikaze-Krähe im Spanisch-Unterricht, ein misslungenes Beratungsgespräch bei Mr. Superman, eine schrecklich peinliche Rede mit Allergienotfall vor der gesamten Schule, ein vergeigtes Auswahltraining für die Softballmannschaft und das schlimmste Date der Welt, auf dem ihr Freund mit ihr Schluss macht. Und als sie denkt, endlich alles überstanden zu haben, … geht alles wieder von vorne los. Ein nie enden wollender Albtraum oder die Chance, alles wieder in Ordnung zu bringen?


"Bitte lass es mich doch noch einmal versuchen.
Bitte gib mir eine zweite Chance.
Ich schwöre, ich kriege das hin."


Wer durch den Klapptext an den Klassiker "Täglich grüßt das Murmeltier" erinnert sein sollte - genau auf so eine Art Geschichte dürfen wir uns freuen, diesmal aber eingebaut in eine launige High-School-Komödie. Für den Leser klingt es erstmal wie ein riesiger Albtraum, eine ganze Woche voller Horror-Montage erleben zu müssen, bald wird Ellies Zeitschleife jedoch zu ihrer großen Chance, endlich herauszufinden, wer sie ist und was sie eigentlich will. Klar, die Grundidee ist alles andere als neu und ein aufmerksamer Leser wird spätestens nach zwanzig Seiten vorhersagen können, wie die Geschichte ausgeht, dennoch macht es sehr viel Spaß, Ellie auf ihrem holprigen Weg zu ihrem "perfekten" Montag zu begleiten. Jessica Brody macht es unserer jungen Protagonistin alles andere als einfach und beschert dem Leser somit einiges zum Lachen. Jeder neue Montag, den Ellie mit einer neuen Strategie angeht, wird von einem kurzen Abschnitt aus Tristans und Ellies Kennenlernen gefolgt, sodass immer neue Versionen des Tages in Verbindung mit neuen Informationen aus der Vergangenheit dafür sorgen, dass es trotz des gleichen Grundablaufs nicht langweilig wird.



"Es gab nur uns, niemanden sonst. Doch jetzt, wo ich in diesem Meer von Menschen stehe, die alle zu Tristan hochstarren, werde ich das Gefühl nicht los, dass sie auch mich anstarren. Mich bewerten. Mich für nicht gut genug halten. Nicht hübsch genug. Nicht cool genug. Und ehrlich gesagt, frage ich mich manchmal auch, ob sie nicht recht haben."



Hauptsächlich sorgt jedoch Jessica Brodys Schreibstil dafür, dass man die 450 Seiten in einem Rutsch durchlesen kann. In moderner, authentischer Sprache schildert sie die persönlichen Katerstrophen und schulischen Abenteuer unserer jugendlichen Protagonistin und gibt einen realistischen (wenn auch etwas überspitzten) Eindruck davon, was es heiß, ein Teenager auf der High-School zu sein. Sie schreibt von Leistungsdruck, sozialem Vergleich, der ersten Liebe, Beziehungen, Aussehen, College-Bewerbungen, Freundschaft und darüber wie schwer es ist, herauszufinden, was man mit dem Leben anfangen soll, dass einem geschenkt wurde. Neben vielen Insidern, Wortsitzen, Situationskomik und subtilem Humor, hält die Autorin aber auch eine interessante Botschaft bereit: mit jedem Montag kommt Ellie der Wahrheit über sich näher und lernt, dass sie sich nicht für andere verbiegen sollte.



"Tristan war der Soundtrack meines Sommers. Der Takt, zu dem ich mich bewegte. Die Melodie, zu der ich ein- und ausatmete. Die Songtexte, von denen ich lebte. Und auf einmal - an diesem Tag, in dieser Version des Tages - ist es, als hätte ihn jemand wieder angestellt. In voller Lautstärke, bis zum Anschlag aufgedreht. Als hätte ich seinen Rhythmus wiedergefunden, nachdem ich zu lange aus dem Takt geraten war."



Ellie gibt uns aus der Ich-Perspektive einen Einblick in die Gedanken und Gefühle eines ganz normalen Teenagers. Die ehrgeizige Schülerin erscheint mit all ihren Problemen, Hoffnungen, Wünschen, Träumen und Ängsten authentisch und sympathisch, auch wenn sie das ein oder andere Mal den Bogen etwas überspannt um Tristan um jeden Preis davon abzuhalten, am Ende des Tages mit ihr Schluss zu machen. Wie sie sich immer mehr von der Rolle der "Freundin des Rockstars" löst und entdeckt, was sie alles ist und sein kann, ist wirklich wundervoll. Dass Tristan trotz (oder gerade wegen) Ellies Verehrung recht eindimensional bleibt, während Ellies Beziehung zu ihrem besten Freund Owen sehr liebevoll ausgearbeitet wurde, gibt schon von Beginn an klar Aufschluss auf das Ende. Mir haben die vielen zarten Anspielungen, die Ellie im Eifer ihres Horror-Montags zu Beginn übersieht und die zu erkennen sieben Versionen desselben Tages erfordern, sehr gefallen!

Das Ende ist unausweichlich, wundervoll und mit genau der richtigen Prise Kitsch versehen, ging mir persönlich aber ein wenig zu schnell.





Fazit:


Eine gelungene Mischung aus Teenie-Drama, High-School-Komödie, Liebesgeschichte und Familiendrama - mal witzig, mal traurig, mal nervig, mal intelligent. Charmante Unterhaltung, die auch eine interessante Botschaft bereithält.

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