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Veröffentlicht am 11.05.2020

Verstaubtes Marchfeld?

Der Offizier der Kaiserin
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Wien, 1898, Geheimpolizeiagent Pospischil wird ins Marchfeld gerufen, nahe Schloss Hof liegt eine Leiche im Wald. Was ist passiert in der verschlafenen Gemeinde, in der nur noch ein Wirtshaus offen hat ...

Wien, 1898, Geheimpolizeiagent Pospischil wird ins Marchfeld gerufen, nahe Schloss Hof liegt eine Leiche im Wald. Was ist passiert in der verschlafenen Gemeinde, in der nur noch ein Wirtshaus offen hat und die Dorfbewohner mit Müh und Not ihr Einkommen bestreiten? Während in der Hauptstadt das fünfzigjährige Regierungsjubiläum Franz Josephs I. gefeiert wird, soll auch im Marchfeldschloss wieder frischer Wind durch die bröckelnden Mauern wehen: nicht nur das Militär schickt eine Gruppe Offiziere zur Vorbereitung von Umbauarbeiten, auch Kaiserin Sisi kündigt sich für eine Übernachtung auf ihrer Durchreise an – und jetzt verursacht auch noch ein Toter Aufregung in der scheinbar ländlichen Idylle.

Mitten in eine Gruppe ungarischer Aufständischer führt uns Autorin Christine Neumeyer im Prolog und deutet schon an, dass nicht nur Schlossmauern verfallen, sondern auch die Donaumonarchie ihrem Untergang zusteuert.

In den nächsten Kapiteln geht es weniger rebellisch zu: Der Leser lernt das Landleben im Marchfeld kennen, den einzigen Gasthof weit und breit, der bekannt ist für seine gschmackigen Suppen, die zänkische Wirtin, den gutmütigen Kaplan, die Freundinnen Rosi und Irmi in ihren Zwirnstrümpfen. Der Alltag unter den Dorfbewohnern wird lebhaft und anschaulich geschildert, durch viele kleine Details fühlt man sich in die Kaiserzeit zurückversetzt. So dreht Frau Grünanger beständig am Schwungrad ihrer Nähmaschine, um immer noch Hüte mit altmodischen Blumen zu fabrizieren, darf Irmi das moderne Fahrrad mit Kettenantrieb benutzen, welches das mannshohe Hochrad gerade ablöst, dröhnen metallische Johann-Strauß-Walzerklänge aus dem Grammophon durch die Wirtsstube. Auch sonst fließt viel Geschichtliches in den Roman ein, wodurch das Marchfeld noch heute geprägt wird, beispielsweise Maria Theresias Föhrenpflanzungen gegen den steten Wind in der Ebene. Die Beschreibungen des Schlosses selbst wecken Neugier auf aktuelle Ausstellungen oder rufen Erinnerungen an bereits besuchte Präsentationen wach (Schokoladenmädchen und Trembleuse, 2018). So flicht Neumeyer nach ausführlicher Recherche interessante Informationen ganz unaufdringlich ins Geschehen ein, vermischt historische Tatsachen mit perfekt erdachten Mythen und komponiert mit diesen Zutaten eine kurzweilige, unterhaltsame Lektüre.

Die Atmosphäre im Marchfeld, genauso wie die morbide Untergangsstimmung in Wien, wird durch einen angenehm zu lesenden Dialekt noch verstärkt und bei der böhmischen Küche mit malerischer goldgelber Vanillesauce und schwarzviolettem Powidl möchte man sofort Gast bei Gerti sein.

Die gelungene Mischung aus Einblicken ins einfache Dorfleben, Problemen in der Hauptstadt durch die aufstrebende Industrialisierung und den Mordermittlungen rund um Schloss Hof zeichnet diesen Historischen Roman aus. Verschiedene Fährten müssen verfolgt werden, so mancher Skandal kommt ans Licht, das verblüffende Ende ist überaus passend - nicht nur für die damalige Zeit.

So könnten dem sympathischen Ermittler Pospischil mit seinem erfrischend modernen Assistenten durchaus noch weitere Fälle im Rahmen der Spionage zugeteilt werden. Aber auch jede andere polizeiliche Untersuchung mit diesem liebenswerten Team möchte ich gerne mitverfolgen.

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Veröffentlicht am 09.05.2020

Von Jenischen und Edelescort

Sechs
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Mitten in der Nacht erhält Privatdetektiv Falco Brunner den Anruf einer verzweifelten Frau. Sofort bricht er zu ihrem Appartement in der Wiener Innenstadt auf, das jedoch verwüstet und verlassen ist. Von ...

Mitten in der Nacht erhält Privatdetektiv Falco Brunner den Anruf einer verzweifelten Frau. Sofort bricht er zu ihrem Appartement in der Wiener Innenstadt auf, das jedoch verwüstet und verlassen ist. Von Emilia, so der Name seiner Bekannten, die als Edelescort-Dame arbeitet, keine Spur. Bevor er noch irgendeinen vernünftigen Gedanken fassen kann, wird er niedergeschlagen und findet sich alsbald in der Psychiatrie wieder. Um seine Unschuld zu beweisen, muss Brunner nun heimlich und auf eigene Faust ermitteln.

Nach einem kurzen Prolog findet sich der Leser direkt in Falco Brunners Lebensrealität – ein Rockvideo aus den Neunzigern, eine Schachtel vom Lieferservice, ein unangenehmer Geruch nach Burgern, Käse und Zwiebeln (das erinnert mich spontan an eine Textstelle mit Käsefüßen – „Kinderspiel“). Wer Falco noch nicht kennt, weiß spätestens nach den ersten Seiten, dass der unkonventionelle Privatdetektiv Star-Wars liebt und dessen Lieblingsfarbe von jeher Dunkelblau ist. Seinem eigenen Instinkt folgend, ermittelt er scheinbar ohne Plan und System und begibt sich nicht selten selbst in Gefahr. Im Grunde aber ist er höchst aufmerksam, beachtet kleinste Einzelheiten und stellt Zusammenhänge her, wo andere nicht einmal näher hinsehen.

Genauso lebensecht und glaubwürdig werden auch alle anderen Figuren in diesem Krimi dargestellt, Charakterzüge entworfen und mit viel Liebe zum Detail ausgearbeitet. Selbst die Hauskatze kann nicht frei erfunden sein, sondern muss ein reales Vorbild haben.
Berührend sind einige sehr persönliche Szenen, die in Form eines modernen Tagebuchs in die Handlung eingeflochten sind, aber auch solche, wo Erinnerungen und Gedanken mit dem Jetzt verschmelzen. Überhaupt gibt der Autor sämtliche Gefühle so direkt und unmittelbar an den Leser weiter, dass man ständig hin und her gerissen wird zwischen Liebe, Trauer, Angst und Zuversicht. Man spürt die intensive Auseinandersetzung mit sämtlichen Themen, die in diesem Buch aufgegriffen werden und kann als aufmerksamer Leser da und dort eine kleine Feinheit ausmachen, die schlussendlich zur Lösung beiträgt.

Mit seinem gewohnt flotten Stil schreibt Michael Seitz unmittelbar wie er denkt und empfindet (so kommt es jedenfalls bei mir an), bringt Spannung ins Spiel, die sich durchzieht bis zum Ende, fesselt durch kurze, abwechslungsreiche Kapitel (ohne langweilige Nummerierung) und unerwartete Wendungen.

Sechs ist ein wunderbarer, facettenreicher Krimi im schönen Wien, bei dem Falco Brunner mit Glück und Verstand – und sympathischen Freunden – einen spannenden dritten Fall zu lösen hat. In diesem Sinne spreche ich eine klare Leseempfehlung aus und hoffe natürlich auf Fortsetzung!

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Veröffentlicht am 01.02.2020

Verzweiflung

Dunkelsommer
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Auf dem Fensterbrett starb schweigend eine Topfpflanze.“ Pos. 239

Lennart Gustafsson, genannt Lelle, fährt jede Nacht im nordschwedischen Sommer bei flach einfallendem Sonnenlicht den Silvervägen entlang, ...

Auf dem Fensterbrett starb schweigend eine Topfpflanze.“ Pos. 239

Lennart Gustafsson, genannt Lelle, fährt jede Nacht im nordschwedischen Sommer bei flach einfallendem Sonnenlicht den Silvervägen entlang, um jede noch so kleine und verwachsene Abzweigung zu kontrollieren, jede noch so entlegene verfallene Hütte zu überprüfen. Denn vor drei Jahren ist seine Tochter Lina verschwunden und die Polizei hat wohl nicht genau genug hingesehen. In der Nähe zieht Meja mit ihrer Mutter Silje ein, in der Hoffnung, hier endlich ein ordentliches Zuhause und Geborgenheit zu finden. Als der Herbst naht, die Nächte dunkler und länger werden, verschwindet ein weiteres Mädchen und die Schicksale von Lelle und Meja finden auf ungeahnte Weise zusammen.

Von der ersten Seite weg fasziniert Stina Jackson mit ihrem Stil, klar und fließend, nüchtern und doch bildhaft und berührend. Die düstere Stimmung in Norrlands ausgedehnten Wäldern, die Ruhe und Einsamkeit spiegeln Lelles Seelenqualen wider. Seine Frau Anette hat sich von ihm getrennt, zu unterschiedlich sind ihre Herangehensweisen, mit dem Verlust der einzigen Tochter umzugehen und Trauer auszudrücken. Immer mehr zieht sich Lelle zurück, vernachlässigt Haus und Körperpflege, trinkt und raucht Kette. Nur noch wenige Menschen finden überhaupt noch Zugang zu ihm und versuchen, ihn aus seinem Selbstmitleid, aus seiner abgrundtiefen Verzweiflung herauszuholen. Mit jeder Fahrt, in jeder Nacht spürt der Leser die intensiven Gefühle, die hier so deutlich vermittelt werden, dass man das Buch am liebsten gar nicht mehr weglegen möchte.

Neben diesem Handlungsstrang gibt es noch – in regelmäßiger Abwechslung – die Geschichte von Meja, deren Mutter ihre Liebhaber und Wohnsitze ständig wechselt und nirgends zur Ruhe kommen kann. Während die 17jährige in der neuen Nachbarschaft drei etwas sonderbare Burschen kennenlernt, wird am Campingplatz ein junges Mädchen vermisst.

Die Hauptfiguren, aber auch jene am Rande sind überzeugend und lebensecht beschrieben, Menschen, Natur und Gefühle stellen ein schlüssiges Gesamtbild dar. Wahrscheinlich ist es gerade die ruhige Schreibweise der Autorin, welche die Stimmung so greifbar werden lässt. Dieser Roman besticht nicht durch Tempo und Hektik, vielmehr ist es die Zähigkeit der Suche – nach der verlorenen Tochter, nach einer „richtigen“ Familie -, die alles so authentisch wiedergibt.

[Ich wurde an einem Ort am Rande der Welt geboren, einem Ort, an dem Kälte, Dunkelheit, archaischer Wald und Stille herrschen. Ein Ort, an dem niemand ein Wort zu viel spricht, an dem die Einwohner scharf die Luft zwischen den Zähnen einziehen, statt mit Ja zu antworten. Ein Ort, den viele verlassen, aber den niemand vergisst. Jahre nach meinem Verschwinden von dort begann ich, mich meinen Wurzeln wieder anzunähern, durch das Schreiben. Bald schon wurde daraus eine Obsession, die gespenstische Landschaft meiner Kindheit mit einem neuen Blick zu entdecken, dem Blick einer Emigrantin. Um sie mir zurückzuerobern. Stina Jackson. Quelle: Produktseite bei Amazon]

Da kann ich nur sagen: gelungenes Debut! Von mir gibt es fünf Sterne samt Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 30.01.2020

Das Geheimnis der rotweißen Zuckerstangen

Unter dem Polarlicht
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Als Chiara kurz vor Weihnachten ihnen Job in einer Bank verliert, ergibt sich kurzfristig die Möglichkeit, für den bekannten Autor Fenton Forrester ein Manuskript zu tippen und so die Zeit bis zu einer ...

Als Chiara kurz vor Weihnachten ihnen Job in einer Bank verliert, ergibt sich kurzfristig die Möglichkeit, für den bekannten Autor Fenton Forrester ein Manuskript zu tippen und so die Zeit bis zu einer neuen Anstellung zu überbrücken. Allerdings weiß die junge Frau nicht genau, worauf sie sich da einlässt: von der Agentur wird sie in eine abgelegene Holzhütte im verschneiten Kanada geschickt. Der Schriftsteller mit den beiden gebrochenen Händen ist ein wortkarger Einzelgänger. Doch die liebenswerte und schlagfertige Chiara lässt sich nicht gleich einschüchtern, sondern begegnet dem einsilbigen Kautz mit ihrem ungekünstelten Charme, während ihre Freunde daheim in Deutschland ein furchtbares Geheimnis aus Forresters Vergangenheit entdecken.

Von Anfang an bezaubert Elisabeth Büchle mit der ihr eigenen malerischen Sprache, die sehr einfühlsam aber niemals kitschig erzählt. Die wenigen Personen, die diese Geschichte tragen, sind alle sehr glaubwürdig und überzeugend gezeichnet. An jeder Ecke könnte man ihnen selbst begegnen: sie verkörpern Stärken und Schwächen, müssen Schicksalsschläge verkraften und ihren Weg im Leben finden. Dabei findet sich Mut neben Angst, Hoffnung neben Verzweiflung, Zuversicht neben Sorge. So verliert sich der Leser schnell in wunderbaren Bildern von glitzerndem Schnee, stillen Wäldern und sternenklaren Nächten. So wie Chiara kann man kindliche, ehrliche Freude empfinden beim Lesen dieser Zeilen über weiche Schneeflocken und rotweiße Zuckerstangen. Dazu stecken noch ein paar gut verpackte wunderschöne Botschaften in diesem Winterroman, die nicht nur zum Thema Weihnachten passen.

„Unter dem Polarlicht“ ist somit eine berührende Erzählung über Vertrauen und Verzeihen, genau so, wie sie zu Elisabeth Büchle und Gerth Medien passt. Schön, dass es noch drei weitere Bücher der „Unter dem…“-Reihe gibt.

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Veröffentlicht am 25.01.2020

Jahrestag

Wisting und der Tag der Vermissten
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Der beste Kommissar Norwegens, William Wisting, packt wieder einmal einen von drei Pappkartons aus und geht alte Unterlagen durch, wie jedes Jahr rund um den 10. Oktober, dem Tag, an dem Katharina Haugen ...

Der beste Kommissar Norwegens, William Wisting, packt wieder einmal einen von drei Pappkartons aus und geht alte Unterlagen durch, wie jedes Jahr rund um den 10. Oktober, dem Tag, an dem Katharina Haugen 24 Jahre zuvor verschwunden ist. Jedes Mal nimmt Wisting dieses Datum zum Anlass, nochmals zu überprüfen, welches kleine Detail damals übersehen worden sein könnte und warum der Fall nie aufgeklärt wurde. Zudem besucht er regelmäßig Martin Haugen, mit dem ihn inzwischen eine gewisse Freundschaft verbindet. Haugen, damals als Ehemann automatisch im Kreise der Verdächtigen, hat ein unumstößliches Alibi für den 10. Oktober, allerdings reist nun der Cold Case-Beauftragte Adrian Stiller aus Oslo an, der in einem anderen Fall auf dessen Fingerabdrücke gestoßen ist. Als nun Wisting zum Besuch bei Haugen aufbricht, ist dieser wie vom Erdboden verschluckt: nicht zu Hause, nicht in der Arbeit, nicht telefonisch erreichbar.

Zu Beginn stellt Jørn Lier Horst den Fall und Kommissar Wisting samt seiner Familie vor, sodass man als Leser einen wunderbaren Überblick über die anstehende Handlung bekommt. Der Schreibstil in der neutralen Erzählperspektive ist sehr angenehm und flüssig, eher ruhig im Ton, ohne reißerische oder hektische Elemente. Meist sieht man dem Kommissar selbst über die Schulter, aber auch seine Tochter Line liefert immer wieder einen Blick aufs Geschehen. Dadurch entstehen übersichtliche kurze Kapitel, die die Neugier wecken, rasch weiterzulesen. Die einzelnen Personen sind authentisch und glaubwürdig ins Geschehen eingebettet, Wisting mit seiner Familie von der ersten Seite weg sympathisch. Mit viel Feingefühl und „Gespür“ geht er an seine Arbeit heran und ist vermutlich gerade deshalb so erfolgreich. Er versteht es, sich in andere – speziell die Täter – hineinzuversetzen und deren Beweggründe nachzuvollziehen, ungewöhnliche Verbindungen herzustellen und beharrlich seinen Weg zu gehen. So ist der Krimi von Anfang an spannend, bringt mit Stillers anderem Fall immer wieder Neues ins Spiel und zum Schluss eine so einfache wie befriedigende Antwort auf alle Fragen.

„Erfrischend anders“ fällt mir zu Wisting ein, auch der andere Cold Case hat mir sehr gut gefallen, weshalb ich mich nun den früheren Büchern von Jørn Lier Horst widmen werde.

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