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Veröffentlicht am 11.04.2020

Vom Danke sagen und klareren Blicken

Magic Cleaning
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Ich habe nie gerne Dinge weggeworfen. Irgendetwas schien stets an ihnen zu haften, das mich sie behalten lies. Manche Dinge hatte ich geschenkt bekommen und obwohl ich sie nicht verwendete – und sie mir ...

Ich habe nie gerne Dinge weggeworfen. Irgendetwas schien stets an ihnen zu haften, das mich sie behalten lies. Manche Dinge hatte ich geschenkt bekommen und obwohl ich sie nicht verwendete – und sie mir oftmals nicht gefielen –, behielt ich sie. Immerhin waren es Geschenke und jemand hatte sich Gedanken gemacht.

Andere Dinge schienen eine Erinnerung zu tragen. Nicht unbedingt eine konkrete, eher eine Zeit, für die sie standen. Da ich oft umgezogen und auch früh von zuhause ausgezogen bin, wurden die Gegenstände, die ich mitnehmen konnte, ein Mitnehmen der Orte, an denen sie vor meinem Umzug gewesen waren.

Und über die Zeit kamen so einige Gegenstände zusammen. Viele trugen keine konkrete Erinnerung (oder keine bedeutende), sondern eher die Angst, sie könnten etwas Wichtiges tragen.

Somit sammelte ich nicht nur Gegenstände , sondern vor allem „schwere“ Gegenstände an. Ich habe mich oftmals gezwungen auszumisten, aber den durchschlagenden, anhaltenden Erfolg konnte ich nicht erzielen. Trotzdem spürte ich, dass ich dieses Thema für mich noch lösen musste, weil ich nicht von immer mehr Dingen auf enger werdendem Raum umgeben sein wollte, und versuchte erfolglos verschiedene Methoden.

Bis ich auf Marie Kondo und Magic Cleaning stieß.

Ausmisten mit diesem Prinzip ist vielleicht nicht für alle die erste Wahl, aber für jemanden wie mich, die vor allem mit der Emotions- und Bedeutungszuordnung ihrer Gegenstände klarkommen musste, war es befreiend.

»Oft sind hier bewusste oder unbewusste Blockaden und Abwehrmechanismen dem Aufräumen gegenüber am Werk. Also muss an der inneren Einstellung zur Ordnung gearbeitet werden.«

In ihrem Buch Magic Cleaning, in dem Marie Kondo ihre KonMari-Methode vorstellt, lernt der Lesende zuerst Marie und ihre persönliche Entwicklung im Kampf gegen die Unordnung kennen. Aus den Schwierigkeiten, die ihr über die Jahre begegnet sind – selten lang anhaltende Ergebnisse und bald schon neues Ansammeln von Dingen –, schuf sie diese Methode.

Die Grundprinzipien sind denkbar einfach und doch ist es wichtig, sich an die Methode zu halten (zumindest habe ich dies getan). Zuerst Kleidung, dann Bücher, dann Dokumente, jetzt alles andere und zuletzt Erinnerungsstücke.

Auch innerhalb dieser Kategorien ist das vorgehen simpel strukturiert, aber rigoros: Alle Gegenstände einer Kategorie auf einen Berg. Alle Kleider, die man besitzt, egal, ob auf dem Speicher, in Schränken, Kisten oder vergessenen Ecken. Alle Kleider auf einen Berg und die Masse dessen, was man besitzt, auf sich wirklich lassen. Ich gehorchte. Mein Schlafzimmer wurde zu einem riesigen Berg aus Kleidung.

»Nur durch das drastische Aufräumen in einem Rutsch wir ein Bewusstseinswandel ausgelöst.«

Aus Gehorsam wurde Überforderung und tiefes Durchatmen. Sehr tiefes Durchatmen. Weitermachen. Ein Kleidungsstück nach dem anderen, jedes einmal in den Händen gehabt und mich gefragt haben, ob es mich glücklich macht und, ob es zu dem Leben gehört, das ich führen will.

Der Berg wurde zusehends kleiner und kleiner, mein Selbstvertrauen in meine Aufräumskills wuchs und zugleich ein Gespür dafür, was ich wirklich behalten wollte. Ich habe mich durch das Buch und zugleich durch meinen Besitz gearbeitet. Marie Kondos Schreibstil ist schlicht, authentisch und einnehmend. Ihre Beobachtungen sind an vielen Stellen so treffend und ihre Erklärungen motivierend.

Natürlich habe ich nicht nur meine Kleider aussortiert, alle Kategorien habe ich in Angriff genommen, auch meine Bücher. Mittlerweile ist es über ein Jahr her, dass ich Marie Kondo und ihre Methode kennengelernt und mit meinem Ausmisteprojekt begonnen hatte. Und es hat funktioniert. Ich habe mich von Schätzungsweise 70–80 % meiner Dinge getrennt, und vermisse nichts davon. Zugleich habe ich den freiwerdenden Platz nicht mit neuem Kram gefüllt. Zum einen durch den Schock über die Maße an Dingen, die ich besaß, zum anderen, weil ich viel besser weiß, was ich wirklich behalten will. Ausmisten für einen freieren Blick auf die Dinge, die einem wirklich am Herzen liegen.

So ist Magic Cleaning ein kompakter, auf den Punkt gebrachter und erfrischend geschriebener Ratgeber, der definitiv einen Versuch wert ist.

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Veröffentlicht am 11.04.2020

Von Wünschen, Freundschaft und Entscheidungen

Goldene Flammen
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Von klein auf haben die Waisenkinder Alina und Mal einen Wunsch: beieinander zu sein. Sie leben in einer Welt, in der Krieg und Magie herrschen und die zum Teil durch eine riesige Schattenflur überzogen ...

Von klein auf haben die Waisenkinder Alina und Mal einen Wunsch: beieinander zu sein. Sie leben in einer Welt, in der Krieg und Magie herrschen und die zum Teil durch eine riesige Schattenflur überzogen ist. Und die Freundschaft der beiden wird auf die Probe gestellt.

Waise, Kartenzeichnerin und meistens fehl am Platz: Alina Starkov fühlt sich selten wohl in ihrer Haut. Auch unter Menschen scheint sie selten dazuzugehören – nur bei ihrem besten Freund Mal kennt sie dieses Gefühl.

Doch als die beiden älter werden und Mal sich zu einem attraktiven jungen Mann entwickelt, hat er nur Augen für andere Frauen. Alina, auch »Besenstiel« genannt, kann dabei nur zusehen.

Als die beiden Kindheitsfreude im Zuge ihrer Ausbildungen zur Kartenzeichnerin und zum Fährtenleser die von Volkra bewohnte Schattenflur durchqueren müssen, verändern sich die Leben der beiden grundlegend: Alina schützt ihren Freund Mal durch Kräfte, die sie bislang nicht einmal erahnt hat. Sie verlassen die Schattenflur wieder und Alina Starkov wird einem Mann übergeben, der sich »Der Dunkle« nennt. Er ist der Anführer der Grisha und zählt zu den mächtigsten Männern im Reich.

»Die Volkra waren blind, weil sie seit Generationen auf der Schattenflur lebten und jagten, aber sie konnten Menschenblut angeblich schon aus weiter Ferne wittern.«

Und ausgerechnet die als mager und hässlich verlachte Alina, mit ihren dunklen Augenringen und den hageren Ärmchen soll Kräfte besitzen, für die sich ein solcher Mann interessiert? Nicht, wenn man Alinas Einschätzung ihrer selbst glauben darf.

Doch der Dunkle macht sich ein eigenes Bild von ihr und wird zu ihrem Mentor. Sie reisen zum Hof des Zaren und Alina wird in die Reihen der Grisha aufgenommen: wunderschöne Frauen und Männer, die der Magie mächtig sind. Ein Blick in den Spiegel genügt für sie, um das Gefühl zu haben, dass sie wieder nicht hineinpasst. Bis zu dem Tag, als ihre Kräfte wieder aus ihr hervorbrechen.

Mit Goldene Flammen schafft Leigh Bardugo den Auftakt zu einer Fantasy-Reihe um die Legenden der Grisha, der von der ersten Seite an mitreißt und den Figuren Leben einhaucht. Dabei ist die phantastische Welt, die sie schafft, erfrischend klischeefrei. Was zu Beginn schwarz und weiß scheint, verliert bald an Klarheit. Die Ziele und Pläne der Figuren überschneiden und verwischen sich.

Bardugo macht es ihren Figuren nicht leicht, sie treibt sie wiederholt zum Äußersten und lässt nicht für einen Moment Langweile aufkommen. Und doch überschlagen sich die Ereignisse mitunter so schnell, dass auch der Leser herumgewirbelt wird, bis nur noch Eines klar ist: Der nächste Band muss so schnell wie möglich erscheinen.

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Veröffentlicht am 01.02.2020

Vom Ende und vom Anfang der Götter.

Nordische Mythen und Sagen
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Spätestens seit der Verfilmung der Marvel-Comics sind Thor, Loki, Odin und weitere Vertreter der nordischen Götter wieder im Bewusstsein von vielen.

Doch schon mit der Edda liegen literarische Werke ...

Spätestens seit der Verfilmung der Marvel-Comics sind Thor, Loki, Odin und weitere Vertreter der nordischen Götter wieder im Bewusstsein von vielen.

Doch schon mit der Edda liegen literarische Werke vor, die in altisländischer Sprache über die Götter und Helden erzählen: von Odin, Loki, Balder und vielen weiteren, zum Teil heute noch bekannten Figuren der Welt der nordischen Mythen.

Zwischen den Schriften der Edda und den Comics von Marvel liegen viele, viele Jahrhunderte. Wie lange die mündliche Überlieferung der Geschichten der nordischen Götter zuvor bereits existiert hat, weiß vielleicht nur Odin selbst. Doch auch in den Jahrhunderten zwischen der Verschriftlichung der Edda und der Wiederauferstehung der nordischen Götter durch Tom Hiddleston, Chris Hemsworth und Anthony Hopkins war es um die Götter nicht still.

Myths of the Norsemen: Retold from the Old Norse Poems and Tales von Roger Lancelyn Green, erschienen im Jahre 1960, und Werke des 1941 geborenen Autors Kevin Crossley-Holland über die nordische Mythologie haben nicht nur Neil Gaiman tief beeindruckt.

Es gibt selten Bücher, bei denen ich mich bereits in die Einleitung verliebt habe. Neil Gaiman ist das mit seinen Nordischen Mythen und Sagen gelungen. Eine Wirkung, die auch im Verlauf des knapp 250 Seiten langen Buches nicht nachließ.

»Odin und Vili und Ve töteten den Riesen Ymir. Es musste geschehen, denn es gab keine andere Möglichkeit, die Welten zu erschaffen. Dies war der Anfang von allem, der Tod, der alles Leben möglich machte.«

Neben der Wiedergabe der alten, nordischen Geschichten gelingt es Gaiman, weit mehr als den Inhalt der Geschichten wiederzugeben: Er gibt die Faszination für sie weiter. Möglichst zugänglich, spannend und greifbar geschrieben, können die Geschichten der alten Götter durch ihn Leser von heute ohne Vorwissen und besondere Sprachkenntnisse erreichen und abholen in eine Welt, die noch anderen Gesetzen folgte.

»Thor sagte nichts. Er dachte an den vergangenen Abend, daran wie er mit dem hohen Alter gerungen und den Ozean getrunken hatte. Er dachte an die Midgardschlange.«

Neil Gaiman legt mit Nordische Mythen und Sagen keine historisch-kritische Version der Edda vor, sondern eine Nacherzählung von Geschichten, die spannend sein und unterhalten will, und dennoch den alten Göttern der nordischen Welt nah bleibt. Von Ymir bis zu Ragnarök und über all die Gestalten, die ihre Welt bevölkern.

= :spoiler:
Einige der 15 Geschichten des Buches zeichnen sich durch Witz und Humor aus, wie die Geschichten, wie Sif ihr Haar verliert oder Thor seinen Hammer. Andere hingegen werden durch Spannung und Tragik getragen, wie die Geschichten, wie Höd seinen Bruder verliert oder Tyr seine Hand.

»Die Tatsache, dass diese Welt und ihre Geschichten enden würden, und die Art, wie sie eines Tages enden und neu entstehen sollten, machte die Götter und die Riesen und alle anderen Figuren zu tragischen Helden und zu tragischen Schurken.«

Doch eines eint die Geschichten von Neil Gaiman, obwohl ihnen allen eine Art Ende innewohnt: Sie sind voller Leben und begeistern für Nordische Mythen und Sagen.

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Veröffentlicht am 18.01.2020

Von einem Mädchen, das an sein Unglück glaubte.

Das wandelnde Schloss
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Als Diana Wynne Jones (1934–2011) im Jahre 1986 den ersten Band der Howl-Saga veröffentlichte, war sie im Literaturbetrieb längst keine Unbekannte mehr. Neben eigenständigen Werken der Kinder-, Jugend- ...

Als Diana Wynne Jones (1934–2011) im Jahre 1986 den ersten Band der Howl-Saga veröffentlichte, war sie im Literaturbetrieb längst keine Unbekannte mehr. Neben eigenständigen Werken der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur hatte sie bereits die ersten Bände ihrer Chrestomanci– und ihrer Dalemark-Serie veröffentlicht.

:spoiler:

Das wandelnde Schloss erzählt die Geschichte der jungen Sophie Hatter, die in einem Hutladen arbeitet und besondere Hüte schneidert, bis sie eines Tages von einem bösen Fluch in eine alte Frau verwandelt wird. Sophie, die überzeugt davon ist, das nur das Unglück auf sie warte, weil sie die älteste von drei Schwestern ist, kann sich niemandem in ihrem Heimatort anvertrauen.

Sie geht fort und entschließt sich, als ihr die Strapazen ihres neuen Alters bewusst werden, zum Schloss des Zauberers Howl zu gehen, von dem behauptet wird, dass er junge Mädchen entführe und auffresse.
Doch statt auf einen menschenfressenden Zauberer zu treffen, wird sie Teil der seltsamsten und liebenswürdigsten Wohngemeinschaft, die man sich vorstellen kann.

»Was mich hergeführt hat, junger Mann?«, fragte sie. Das lag doch auf der Hand, jetzt, wo sie das Schloss gesehen hatte. »Ich bin hergekommen, weil ich deine neue Putzfrau bin, ist doch klar.«

Mit einer wohl platzierten und dosierten Portion Humor räumt Sophie Hatter in vielerlei Hinsicht in dieser neuen Welt der Zauberei auf. Umgeben von dem sich stets beklagenden Ofenfeuer, dem verliebten Lehrling des Zauberers, verfolgt von einer flotten Vogelscheuche und stets bereit, eine neue Seite an Howl kennenzulernen, findet sie weit mehr als das Unglück, das sie in ihrem Leben erwartet hatte.

Klassische Elemente der Phantastik wie die Siebenmeilenstiefel, verzauberte Gegenstände und Tiere, werden gemischt mit originellen Figuren und einer zauberhaften Schreibweise und machen so Das wandelnde Schloss zu einem großen Vergnügen – und dies nicht nur für jene, die bereits den gleichnamigen Film von Studio Ghibli mochten.

»Dieser Mann und dieses riesige, wichtige Ding, sein Königtum eben, kamen ihr in ihrem verwirrten Zustand vor wie zwei unterschiedliche Wesen, die nur durch Zufall denselben Sessel besetzten. Und ihr ging auf, dass sie jedes Wort der von Howl sorgsam ausgetüftelten Rede vergessen hatte.«

Der erste Band der Howl-Saga lebt von dem Unausgesprochenem. Die Personen haben Geheimnisse voreinander, nicht alles ist leicht auszusprechen, ob durch Angst oder einen Fluch. Und obwohl die Kapitelüberschriften bereits einen Vorausblick zulassen, um zu wissen, was das Kapitel bringen wird, trägt das Unausgesprochene als Grundspannung über den Roman hinweg.

Das wandelnde Schloss ist eine Liebeserklärung an die Phantastik, an liebevoll entworfene Figuren mit Kanten und an kleine Helden und Heldinnen, die zusammen Großes bewirken können.

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Veröffentlicht am 09.01.2020

Manche Einladungen sollte man annehmen

Leben, schreiben, atmen
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Hast du als Kind gelogen? Hast du schonmal etwas verloren, oder jemanden? Schreibe über dein Elternhaus, was ist noch da? So oder so ähnlich lauten einige der Fragen und Anregungen, die Doris Dörrie in ...

Hast du als Kind gelogen? Hast du schonmal etwas verloren, oder jemanden? Schreibe über dein Elternhaus, was ist noch da? So oder so ähnlich lauten einige der Fragen und Anregungen, die Doris Dörrie in ihrem neuen Buch Leben, schreiben, atmen für den Leser bereit hält.
In 50 Kapiteln, die zumeist nur wenige Seiten lang sind, begegnen ihnen die Lesenden und mit ihnen der »Einladung zum Schreiben«. Dörrie löst dieses Versprechen ein, das der Untertitel des Buches gibt: Kaum hat man das Buch aufgeschlagen begegnet man der ersten dieser Fragen und Anregungen, die zum Schreiben inspirieren.
Doch Leben, schreiben, atmen ist kein Frontalunterricht, bei dem Dörrie die Fragen diktiert und die Lernenden brav eine Antwort geben sollen. Vielmehr erinnert das Buch an einen Dialog, denn noch bevor die Lesenden die Frage kennenlernen, gibt die Autorin kurze Erzählpassagen von sich preis, die sich um die kommende Frage drehen.

»Meine Erinnerungen vermischen sich mit deinen Erinnerungen.
Wenn ich über Verlorenes schreibe, erinnerst du dich an Verlorenes. Wenn ich über Gewonnenes schreibe, erinnerst du dich an Gewonnenes.«

Leben, schreiben, atmen ist ein Kennenlernen durch Schreiben und Geschriebenes. Während das Bild der Erzählerin durch ihre Erzähltexte Kontur annimmt, werden die Lesenden auch auf ihre eigenen Konturen stoßen und diese neu abzutasten versuchen.
Doris Dörrie gelingt es, ihren Lesern – wenn diese sich auf ihre Einladung einlassen und zu Schreibenden werden –, mit einem unerschöpflichen Vorrat an Geschichten vertraut zu machen: Jene Geschichten, die der Mensch durch seine Erlebnisse und Erinnerungen in sich trägt. Fragen, die zunächst leicht beantwortbar erscheinen, entpuppen sich als Goldgruben. Denn Dörries Prinzip, mindestens zehn Minuten am Stück zu schreiben, führt dazu, dass es bei der schnellen Antwort auf eine Frage nicht bleiben kann, Assoziationen werden geweckt, der Lesende gräbt tiefer nach einer Antwort und noch ehe er sich versieht, ist die Antwort auf die Frage weit größer geworden, als sie je ausgesehen hat. Und größer, als dass sie in zehn Minuten niederzuschreiben wäre.

»Erinnerungen aufschreiben ist wie Perlen auf eine Kette aufziehen. Eine nach der anderen. Nichts ist verloren.«

Einladung statt Anleitung
Wer sich auf Dörries Einladung zum Schreiben einlässt, lernt schnell, den eigenen Kopf beim Schreiben nicht mehr als Gegner oder Blockade wahrzunehmen, sondern ihn zur Quelle dessen zu machen.

»Wenn wir darüber nachdenken, was wir so denken, schämen wir uns schnell. Und wenn wir uns schämen, können wir schlecht schreiben. Wofür schämen wir uns?«

Leben, schreiben, atmen versucht nicht, letztgültige Regeln darüber festzulegen, wie geschrieben werden soll. Es belehrt nicht und kann dennoch eine große Wirkung auf seine Leser und Leserinnen entfalten: Dörries Fragen inspirieren, sie regen an und helfen, sich selbst zum Schreiben zu verhelfen.
Doris Dörries neues Werk ist kein Buch, das am Stück gelesen werden soll, um dann in den Untiefen des Bücherregals neben dicken Wörterbüchern zu verschwinden. Vielmehr kann es immer wieder hervorgezogen werden, um erneut zum Schreiben einzuladen.
Wer nach klaren Vorgaben sucht, wie geschrieben werden soll, wird bei Dörrie nicht fündig. Doch was sich durch das Buch zieht, ist die Aufforderung, das geschrieben werden soll, am besten täglich, mindestens zehn Minuten. Wer lernen will, im eigenen Kopf einen Weg zu pflastern, der zu einem Quell an Inspiration führt, sollte Leben, schreiben, atmen in seinen Werkzeugkasten packen, denn manche Einladungen sollte man nicht ausschlagen.
Rezension erstmals erschienen auf www.libertineliteratur.com

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