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Sadie

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.02.2020

Mutig

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
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Respekt an die Autorin für eine derart unsympathische und unangenehme Hauptfigur - die sie nicht nur zum Leben erweckt, sondern sie "ihr Ding" auch mehr oder weniger kompromisslos von Anfang bis Ende durchziehen ...

Respekt an die Autorin für eine derart unsympathische und unangenehme Hauptfigur - die sie nicht nur zum Leben erweckt, sondern sie "ihr Ding" auch mehr oder weniger kompromisslos von Anfang bis Ende durchziehen lässt.

Wir haben es hier mit einer eher seltenen Erzählperspektive zu tun: Missbrauch, vor allem emotionaler Natur, aus Sicht der Täterin. Dabei handelt es sich um Rosalinde, eine grausame, aus eigener Anschauung aber allen anderen in allen Belangen deutlich überlegene Ehefrau, Mutter und später auch Großmutter. Rosalinde lebt gewissermaßen in einer völlig eigenen Welt, in der sie die einzige ist, die Durchblick hat und überhaupt dafür sorgt, dass alles läuft - ohne sie wären ihre Angehörigen hoffnungslos verloren. Vielleicht kennt ihr ähnliche dominante Frauengestalten aus eurem eigenen Umfeld, mir zumindest kamen einige Szenen und Aussagen Rosas - wenn man das völlig Überzeichnete mal abzieht - durchaus bekannt vor.

Die Geschichte beginnt Ende der 70er Jahre in einem abgelegenen Teil der Sowjetunion, Rosalindes noch junge (und völlig dumme, häßliche und unfähige) Tochter Sulfia ist schwanger. Was folgt ist ein Familiendrama über drei Generationen hinweg, das in der Fastgegenwart in Deutschland endet.

Grob gesagt habe ich das Buch in vier Teilen "erlebt". Der Anfang war ziemlich heftig, denn die innerfamilären Beziehungen werden in ihrer brutalen Direktheit gleich auf dem Silbertablett präsentiert. Das hat mich zunächst einmal interessiert: Schafft die Autorin es, Rosalinde durchgängig zu unsympathisch zu erzählen, ohne dass es am Ende ins Kitschige oder gar Belanglose abdriftet? Nun, grundsätzlich hat sie das für mich geschafft, auch wenn der Weg nicht immer ganz leicht war. Denn nach dem Auftakt kam für mich eine ziemliche Durststrecke, ca. das zweite Viertel. Da passierte nichts genug, um mich mitzunehmen, und ich fand es eher langweilig.

Dann wartet der Plot ab ca. der Hälfte allerdings mit drei nacheinanderfolgenden dramatischen Wendungen auf, die mich ziemlich mitgenommen haben. Da war das Buch ganz stark: Zwar weiterhin größtenteils sehr unangenehm zu lesen, denn der emotionale Missbrauch schlug wirklich sehr eklige Wege ein, aber ich war fasziniert, auf eine angewiderte-mitfühlende Weise.

Das Ende, also ca. das letzte Viertel, fiel dann wieder etwas ab, da wurde es mir ein wenig zu "schrill". Ich bin mir ehrlich gesagt auch nicht ganz sicher, ob da am Ende alle Erzählstränge der tatsächlichen Realität entsprechen oder Rosa sich nicht immer weiter in ihre eigenen Illusionen und falschen Wahrnehmungen geflüchtet ist. Ihr ursprüngliches Verhalten wurde durch die grausame Kindheit und zahlreichen damit verbundenen Entbehrungen angedeutet: Verdrängen, Vergessen, das Schaffen einer eigenen Realität - das half Rosalinde beim Überleben. Nicht ausgeschlossen, dass sie bei den späteren Schicksalsschlägen wieder in diese psychologischen Muster zurückfiel.

So oder so, ein mutiges Buch, mit dem die Autorin ein ziemliches Wagnis eingegangen ist. Fröhlich geht anders, auch würde ich es nicht als "schwarzen Humor" klassifizieren - eher nur schwarz. Also nicht für jeden, aber wer mal Lust auf etwas Abgründiges aus sehr ungewöhnlicher, unbequemer Perspektive hat, kann ja mal reichschauen.

Veröffentlicht am 26.02.2020

Voll im Soll

Jürgen
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Der titelgebende Jürgen ist seit längerer Zeit auf der Suche nach einer Partnerin. Ein "Final Close" ist ihm leider (noch) nicht vergönnt gewesen, und das, obwohl er stets an "Inner Game" und "Outer Game" ...

Der titelgebende Jürgen ist seit längerer Zeit auf der Suche nach einer Partnerin. Ein "Final Close" ist ihm leider (noch) nicht vergönnt gewesen, und das, obwohl er stets an "Inner Game" und "Outer Game" arbeitet, "Rapport" einsetzt und "richtiges Flirten" akribisch studiert. Doch es klappt einfach nicht, und so fahren Jürgen und Kumpel Bernd die ganz harten Geschütze auf - nach Speeddating und Co. soll ein Liebestrip nach Polen Amor in Gang bringen. Was soll da schon schief gehen?

Entschuldigt das term dropping im ersten Absatz, aber ich habe mich tatsächlich mal eine zeitlang mit den Themenkomplexen "PUA" (Pick Up Artist) und der "Seduction Community" beschäftigt, der Heinz Strunk hier ansatzweise auf die Finger haut. Das hätte er nach meinem Geschmack ruhig noch etwas mehr tun dürfen. Aber auch so sind die Seitenhiebe ansprechend gesetzt. So gesehen erst einmal ein pauschales Dankeschön an den Heinzer, dass er dahin geht, wo es weh tut. Muss manchmal einfach sein.

Ansonsten bietet "Jürgen" viel Bekanntes für Kenner des Autors. Klassisches Strunk'sches Grundsetting: Der "arme Willi" Jürgen, der mit seiner (pflegebedürftigen) Mutter zusammenlebt und im Alltag wenig Spontanes erlebt. Jürgen wünscht sich die Abnabelung von der Mutter, den Schritt in die Selbstständigkeit. Der Weg dorthin führt in seinem Fall über die Partnerinnensuche, bei der neben Jürgen und Bernd zahlreiche weitere groteske Figuren mitmischen. Und genau diese Kleinigkeiten, die mit nur wenigen Worten scharf umrissenenen Charaktere des Alltags, sind es, die Strunk immer so gut machen. Ob beim Speeddating oder im Wartezimmer eines Arztes: Die Personen werden sofort greifbar, auch wenn sie nur einen Kurzauftritt haben.

Wie immer als Hörbuch, wie immer passgenau vom Autor selbst vorgelesen. Einzig Ludmilla, die polnische Helferin des amourösen Reiseführers, ist Strunk misslungen - anstatt osteuropäisch klang ihr Dialekt eher niederländisch. Aber Schwamm drüber. Es war kurzweilig und amüsant - also voll im Soll.

Veröffentlicht am 26.02.2020

Der Jan erklärt Deutschland

Alles, alles über Deutschland
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Der Jan erklärt Deutschland - und ich habe mich dabei gut amüsiert. Gewohnt spitzfindig und satirisch vermittelt der blassedünneJunge hier ein Grundlagenwissen, das irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn ...

Der Jan erklärt Deutschland - und ich habe mich dabei gut amüsiert. Gewohnt spitzfindig und satirisch vermittelt der blassedünneJunge hier ein Grundlagenwissen, das irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn mäandert. Für Fans und Freunde der Böhmermannschen Weltsicht ein amüsanter Happen für zwischendurch, wenn auch natürlich viel zu kurz um die Wartezeit bis zu seiner TV-Rückkehr im September zu überbrücken :((

Leider sind einige Passagen - auch in der aktualisierten Ergänzung von 2015 - mittlerweils etwas überholt bzw. einige Themenkomplexe der jüngsten Vergangenheit fehlen gänzlich. Aber dennoch bietet das Buch, gerade bei den zeitlosen Themen, viel zum Kichern und Grinsen. Als Hörbuch besonders nice, da nett vorgetragen vom Autor, der hier den sympathisch-verständnisvollen Conferencier gibt. Noch nie hat mich ein Hörbuch so schön und nachhaltig gelobt!

Veröffentlicht am 12.02.2020

Zeitzeugenbericht der etwas anderen Art

Wir sind dann wohl die Angehörigen
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Ein Zeitzeugenbericht der etwas anderen Art: Johannes Scheerer erzählt rückblickend, wie er 1996 als 13-Jähriger die 33-tägige Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma erlebt hat (Reemtsma-Entführung). ...

Ein Zeitzeugenbericht der etwas anderen Art: Johannes Scheerer erzählt rückblickend, wie er 1996 als 13-Jähriger die 33-tägige Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma erlebt hat (Reemtsma-Entführung). Die Erzählperspektive ist gut gewählt und authentisch wiedergegeben. Vom ersten Schock über die Schritte ins das neue, temporäre Leben ohne Vater (dafür mit Polizei, Ermittlern und Entführern) bis hin zur großen Verzweiflung - Scheerer lässt den Emotionen freien Lauf, ohne dass sein Bericht ins Kitschige abdriftet.

Man kann sie nachvollziehen, die Hoffnungslosig- und Hilflosigkeit des 13-Jährigen, dessen gesamtes Leben von jetzt auf gleich auf nur ein Thema (Entführung!) einzoomt und kaum Platz für darüber hinaus gehende Randbetrachtungen lässt. Er ist quasi mittendrin im Geschehen, aber irgendwie nicht, denn vieles, vor dem er als 13-Jähriger in dem Moment geschützt werden sollte, erfuhr er erst später. So ist es vor allem die Hilfslosigkeit, die die Gedanken des 13-Jährigen bestimmt. Neben Fragen wie: "Was kann ich tun, wie kann ich von Nutzen sein?" ist es dabei vor allem die reale Befürchtung, den Vater nie wieder zu sehen, die der 13-Jährige schon früh akzeptiert, um auf das Schlimmste vorbereitet zu sein. Briefe des Vaters aus der Gefangenschaft, in denen er liebevoll mit Frau und Sohn kommuniziert, erzeugen so einen mentalen Spagat zwischen dem schon fast als real empfundenen Verlust und der hierfür unerwünschten Hoffnung. Diese Gedanken, diese vorauseilende Akzeptanz des "bösen Endes" fand ich ziemlich düster, teils fast erschreckend.

33 Tage lang dauert die Qual. 33 Tage, in denen die Polizei sich diverse ermittlungstaktische Pannen erlaubt, in denen die Kommunikation mit den Entführern immer wieder scheitert, in denen Johannes die Außenwelt kaum wahrnimmt (und wenn doch, immer mit etwas schlechtem Gewissen) und in denen so manche an ihre Grenzen stoßen.

Die (von ein paar Gesangseinlagen abgesehen) überwiegend besonnene, ruhige Lesung vom Autor passt gut zur "Stimmung" des Buchs. Für mich persönlich hätte es an einigen wenigen Stellen noch etwas straffer sein dürfen. Grundsätzlich hat es sich aber gut lesen bzw. hören lassen und ist als außergewöhnlicher Blickwinkel auf eine solche Entführungssituation empfehlenswert.

Veröffentlicht am 12.02.2020

Eine Geschichte über die Geschichte eines Buches..

Alles, was wir sind
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Was ist dieses Buch? Die Antwort darauf fällt mir nicht leicht. Drin steckt ein ordentlicher Schlag gut recherchierter Zeitgeschichte von der Nuance "Kalter Krieg in den 1950ern"; ein bisschen Spionagetätigkeit; ...

Was ist dieses Buch? Die Antwort darauf fällt mir nicht leicht. Drin steckt ein ordentlicher Schlag gut recherchierter Zeitgeschichte von der Nuance "Kalter Krieg in den 1950ern"; ein bisschen Spionagetätigkeit; menschliches Drama sowie die Liebesgeschichte von zwei Paaren, die unterschiedlicher nicht sein könnten und durch ihre jeweilige "Unmöglichkeit" doch eine unglückliche Gemeinsamkeit haben.

In erster Linie ist es aber ein Buch über ein anderes Buch. Ein Buch über Doktor Schiwago, dessen eigener Inhalt aber nur eine Nebenrolle spielt. Soll heißen, man muss es nicht zwingend gelesen haben (der Appetit darauf kommt sowieso von alleine) aber ein paar grobe Grundzüge der Geschichte zu kennen hilft. Letzlich steht aber vor allem sowieso eher das Buch an sich im Fokus, die Macht des geschriebenen Worts.

Es sind die 50er, es ist der Kalte Krieg und Frauen hier wie da haben sowieso schlechte Karten. In der UdSSR ist es Olga, die nicht ganz so heimliche Geliebte und Muse des großen russischen Literaten Boris Pasternak (quasi seine persönliche Lara). Pasternak ist gerade dabei, sein Lebenswerk zu vollenden, jenen Roman, der zur politischen Waffe werden wird. Dabei will Pasternak eigentlich nur die Geschichte von Juri und Lara erzählen, von jenen Irrungen und Wirrungen vor, während und nach der Oktoberrevolution. Doch weil das, was Pasternak über die Oktoberrevolution zu schreiben hat, als antisowjetisch gilt, wird der ehemalige Stalin-Protege nach dessen Tod zum Schreiberling unter Beobachtung. Mit fatalen Folgen für seine Geliebte Olga, die in den Gulag geschickt wird. Und Doktor Schiwago? Darf nicht veröffentlicht werden.

In den USA will das CIA den Roman in seine Finger kriegen. Die Geheimdienstler sehen in dem verbotenen Epos eine literarische Waffe, die die Menschen in der UdSSR wachrütteln soll. Nur: Dazu muss das Buch erscheinen - und wie es dazu kommt, erzählen bei der CIA angestellte Frauen aus verschiedenen Blickwinkeln.

Die Kapitel wechseln flott hin und her: sowohl Schauplatz, Handlungsjahr als auch Erzählstimme. Die Geschichte fand ich interessant: Da war zum einen der zeitgeschichtlicher Aspekt, der die 50er Jahre ziemlich lebendig rübergebracht hat. Hier haben mir vor allem die Kapitel der "Stenotypistinnen" gut gefallen - als eine Art "griechischer Chor" berichten diese Frauen in der ersten Person Plural von ihrem Leben, ihrer Arbeit, ihrem Dasein als "stille Tippse" in dieser Männerwelt, die viel mehr wissen und mitbekommen, als ihre Kollegen für möglich halten.

Zum anderen fand ich den Fokus auf Literatur bzw. den Literaturbetrieb spannend. Wie Boris Pasternak das Werden, das Entstehen seiner Geschichte beschreibt, was ihm das Buch bedeutet, was er dafür alles als zweitrangig einordnet. Wie das Buch seinen Weg um die Welt antritt. Wie Schriftstellerverbände, Verleger, Agenten und letztlich das Nobelpreiskommitee Politik machen. Wie Doktor Schiwago so viel mehr war, so viel mehr ist, als die Liebesgeschichte zwischen Juri und Lara.

Vermutlich kein Roman, der mir auf ewig in Erinnerung bleiben wird, dazu blieben mir die Charaktere - vielleicht bis auf die eindringliche Olga und den "erfrischenden" Chor - etwas zu blass. Aber: Das Thema war spannend und interessant erzählt. Ich hab's gern gelesen.