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Veröffentlicht am 04.09.2020

Ein wichtiges, aufwühlendes Buch

Meine dunkle Vanessa
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Auf zwei Zeitebenen erzählt Vanessa die Geschichte ihrer ersten und so ziemlich einzigen "Liebe": Wie sie im Alter von 15 Jahren in den Bann ihres damals 42-jährigen Englischlehrers Strane geriet, wie ...

Auf zwei Zeitebenen erzählt Vanessa die Geschichte ihrer ersten und so ziemlich einzigen "Liebe": Wie sie im Alter von 15 Jahren in den Bann ihres damals 42-jährigen Englischlehrers Strane geriet, wie sie eine geheime, aber wundervolle "Liebeaffäre" hatten (sie war schließlich etwas Besonderes) und wie sie viele Jahre später immer noch Schwierigkeiten hat, dieses ganze Chaos beim richtigen Namen zu nennen - Missbrauch, Vergewaltigung - selbst nachdem andere Mädchen sich dazu geäußert haben.

Wie beginnt eine solche "Beziehung"? Wie kann sie jahrelang weitergehen? Warum hat es niemand bemerkt oder, falls doch, gestoppt? Und warum kann (wird?) Vanessa sich selbst nach all den Jahren nicht als Opfer betrachten, selbst nachdem sie es wissen muss? Warum beschützt sie immer noch ihren Peiniger? Das waren die ersten Fragen, die ich von Anfang an hatte. Weitere folgten beim Lesen. Und wow, dieses Buch hat jeden einzelne von ihnen auf höchst befriedigende Weise beantwortet. Ich hab's gesehen, gelesen und verstanden. So wird's gemacht.

In gewisser Weise ist dieses Buch der perfekte Begleiter zu Lolita (es wird nicht nur mehrmals Bezug darauf genommen, es ist auch ein wiederkehrender Teil der Handlung). "Vanessa" erzählt eine sehr ähnliche Geschichte, nur diesmal aus der Sicht von Lo (Vanessa). Für die 15-Jährige, die sich von ihrer besten Freundin verlassen und betrogen fühlt, ist die Aufmerksamkeit ihres Lehrers Grund zur Freude. Er ist derjenige, der sie versteht und sie so sieht, wie sie wirklich ist: Etwas Besonderes, jemand, der klüger und älter ist als es ihre Lebensjahre erahnen lassen, eine dunkle Romantikerin wie Strane selbst. Und so beginnt er das "grooming" seines Opfers.

Dieses Buch bietet viele Einblicke und Perspektiven. Obwohl Vanessa unsere einzige Erzählerin ist und sie ziemlich unzuverlässig ist, bekommen wir mehr Wahrheit aus ihrer Geschichte, als man erwarten könnte. Schon als Teenager hat sie ihre Zweifel und ihre Zurückhaltung, aber Strane dämpft sie. Wie? Durch Manipulieren, "gaslightning" und/oder Lügen.

Strane ist jedoch nicht so wahnhaft (in seiner Rolle) wie Lolitas Humphrey. Er weiß sehr genau, was er tut und warum - und dass es nicht gut ist. Das macht ihn nicht zu einem einseitigen Bösewicht, sondern zu einem anderen verstörten Charakter, der schreckliche Dinge tut. Er benutzt sogar sein eigenes schlechtes Gewissen, um Vanessa näher an sich zu binden (lahme Ausreden wie "Ich weiß, das ist nicht richtig, aber was soll ich tun, du bist meine Seelenverwandter, oh weh ist mir").

Währenddessen sinkt Vanessa immer tiefer in eine Falle, aus der sie nicht ausbrechen kann. Was von ihrem Leben gehört ihr schließlich noch? Ist sie die Illusion oder lebt sie sie? Eines ist schon sehr früh klar: Die erwachsene Vanessa ist eine unruhige Figur, die sich im Leben nie wirklich selbst gefunden hat. Und wir alle wissen, wer schuld ist - warum sieht sie es nicht?

Ja, das ist ein frustrierendes Buch. Und mehr noch: Ich fühlte mich beim Lesen sehr, sehr unwohl. Die gute Art von Unbehagen: Es ist schon eine Weile her, dass mich ein Buch emotional so erschüttert hat. Um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht einmal an das letzte Mal erinnern, als ich beim Lesen kleine Pausen einlegen musste (keine langen Pausen, nur kurze Atemzüge), um mich auf das vorzubereiten, was als nächstes kommen würde.

Dieses Buch ist also nicht jedermanns Sache. Es ist keineswegs eine lustige, schöne Lektüre - dies ist alles andere als "klassisches" Strandlesematerial. Wer jedoch echte Geschichten mag, die dahin gehen, wo es wirklich weh tut, die echte Charaktere und sehr gutes Schreiben bieten, sollte dieses Buch zur Hand nehmen. Es ist es wert. Außerdem müssen Stimmen wie die von Vanessa - obwohl sie fiktiv ist - gehört werden. Das ist vielleicht nicht immer bequem für die Lesenden, aber es ist extrem wichtig.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Verständlich, sympathisch und extrem lehrreich

exit RACISM
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Von allen Büchern, die ich bisher zum Thema Rassismus gelesen habe, ist dieses das bislang beste - nicht, dass die anderen schlecht und/oder uninteressant waren, im Gegenteil, aber bei exit RACISM passt ...

Von allen Büchern, die ich bisher zum Thema Rassismus gelesen habe, ist dieses das bislang beste - nicht, dass die anderen schlecht und/oder uninteressant waren, im Gegenteil, aber bei exit RACISM passt alles: AbsenderIn, Ansprache, Struktur, Informationsgehalt, Zielpublikum. Tupoka Ogette zeigt auf, wie Rassismus enstand, welchem Zweck er einst diente und heute noch dient, wie tief er verwurzelt ist und warum Verneinen, Ablenken, Umkehren oder komplettes Ablehnen keine Option ist.

Kurzum: Ein Buch ganz besonders für deutsche weiße Menschen, die ihre Privilegien bisher noch nicht erkannt haben (oder erkennen wollten). Diese Menschen sind die klar umrissene Zielgruppe, und da es sich hierbei oft um Menschen handelt, deren Selbstverständnis (Ich, rassistisch? Never!) und tatsächliches Handeln nicht korrelieren, führt Ogette sie ganz behutsam an die Thematik heran und schärft den Blick. Sie erklärt mit schier unendlicher, bewundernswerter Geduld (die muss man in der Form erstmal aufbringen...), warum "Ich sehe keine Hautfarben" ebenso keine Lösung ist wie "Aber ich habe schwarze Freunde" oder "Ach, jetzt stell dich mal nicht so an, das war schon immer so."

Verständlich, sympathisch und extrem lehrreich - dieses Buch sollte nicht nur verpflichtende Schullektüre sein, sondern auch zum Curriculum von Lehramtsstudierenden, Menschen in der ErzierInnenausbildung und der Ausbildung von ähnlichen Berufen gehören. Um etwas zu bewegen, ist Zuhören meist der erste Schritt - dieses Buch bietet dafür den perfekten Einstieg und so viel mehr (und das mit dem Hören geht hier auch wörtlich, denn das von der Autorin eingelesene Hörbuch ist nicht nur wirklich gut produziert, es steht auch bei diversen Streamingportalen kostenlos zur Verfügung).

Veröffentlicht am 26.02.2020

Ein großartiges, sehr berührendes Buch

Kurt
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Mit "Kurt" hat Saran Kuttner ein wirklich besonderes Buch geschrieben: Sie hat sich eines gleich in mehrerer Hinsicht komplizierten Themas angenommen, eine interessante, weil frische Erzählperspektive ...

Mit "Kurt" hat Saran Kuttner ein wirklich besonderes Buch geschrieben: Sie hat sich eines gleich in mehrerer Hinsicht komplizierten Themas angenommen, eine interessante, weil frische Erzählperspektive gewählt und dann ihre Geschichte erzählt, die ich am liebsten als "echt" beschrieben möchte. Weil alles so nahbar, authentisch und wirklichkeitsnah wirkt und wirklich sehr gut beobachtet und feinfühlig erzählt ist. Hier braucht es keinen übertriebenen Kitsch oder überzeichnetes Drama für die ganz großen und vielen kleinen Gefühle - Respekt.

Erzählt wird die Geschichte von Lena, die mit ihrem Partner (Kurt) aus Berlin in den Brandenburger Speckgürtel zieht. Statt komödiantischem Kulturschock eines hippen Großstadtpaares auf dem Land gibt es hier ganz viel Offenheit für das Ländliche und die Natur. Die Aufgaben, die so ein Umzug mit sich bringt, wie Heimwerken, Gärtnern und Co. werden nicht als lästige Pflichaufgabe in der neuen Dorfheimat, sondern - vor allem das Gärtnern - als neue Leidenschaft entdeckt. Das Landleben komplettiert ein zweiter Kurt, der kleine: Kurts Sohn aus erster Ehe, für den er sich das Sorgerecht mit seiner Ex teilt. Lenas Perspektive ist also nicht nur die einer Großstädterin in Brandenburg, sondern auch die einer quasi-Stiefmutter - spannend.

Lena und die beiden Kurts konnten mich unfassbar schnell für sich gewinnen: alle drei für sich, Kurt und Lena als Paar, Kurt und Kurt als Vater-Sohn-Gespann, Lena und Kurt als vielleicht-irgendwann-Stiefmutter und -sohn und alle drei als lebhafte und liebenswerte Patchworkfamilie. Bonuspunkte für Jana, Kurts Ex, weil sie zwar nicht unbedingt einfach ist, aber das nicht anklagend dargestellt wird und sie vor allem keine keifende, nachtragende Ex oder Ähnliches ist - danke dafür.

Doch das Hauptthema dieses Buches ist ja eigentlich ein ganz anderes. Es geht um Trauer, um den Verlust eines geliebten Menschen, um den Umgang mit der Welt ohne die geliebte Person und um den Umgang der Hinterbliebenen untereinander. Für Lena nach "die Neue im Dorf" und "die Neue in unserer Familie" schon wieder eine neue Rolle - doch eine, in die es sich besonders schwer hineinfinden lässt.

Jeder Mensch trauert anders. Jeder Mensch liebt anders. Jede Beziehung - ob zwischen Liebenden oder Eltern und Kindern - ist anders. Und dennoch: So, wie Sarah Kuttner es erzählt, ergibt es alles Sinn und ist schlüssig. Ich kann es nicht besser beschreiben, aber ich habe irgendwie alles nachvollziehen, mitfühlen, verstehen können, auch wenn ich aus einer ganz anderen Lebensrealität komme.

Ein großartiges, sehr berührendes Buch, das mich vor allem als Hörbuch sehr begeistert hat. Zwar klingt Sarah Kuttner hier und da wie kurz vorm Lungenkollaps, aber sie trägt ihre Geschichte genau richtig vor. Was für ein schönes (aber natürlich sehr melancholisches) Hörerlebnis!

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Veröffentlicht am 12.02.2020

Nebenbei Geschichte lernen

Teufelskrone
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Ich liebe die Bücher von Rebecca Gablé, vor allem die der Waringham-Reihe, aus zwei Gründen: Zum einen ist es immer ein bisschen, wie nach Hause zu kommen, zum anderen macht Geschichte lernen selten so ...

Ich liebe die Bücher von Rebecca Gablé, vor allem die der Waringham-Reihe, aus zwei Gründen: Zum einen ist es immer ein bisschen, wie nach Hause zu kommen, zum anderen macht Geschichte lernen selten so viel Spaß.

Der vorliegende Band ist der 6. der Reihe, und ich habe ihn gelesen, ohne Band 5 zu kennen - weil ich es kann, ha! Aber hey, ihr könnt das auch: Grundsätzlich kann man die Bücher sowieso unabhängig voneinander lesen, da sie alle abgeschlossene Geschichten erzählen (wobei einem die geschickt eingewobenen Querverweise auf die Vorfahren früherer Teile dann natürlich entgehen). Bei diesem Buch war die Reihenfolge aber sowieso unerheblich, da es chronologisch vor allen bereits erschienenen spielt, die Reihe also quasi aus der Vorvergangenheit fortgesetzt wird. Boah, das hört sich total kompliziert und unsexy an, ist es aber nicht.

Wir starten in England im Jahr 1193, unser Waringham im Mittelpunkt des Buches ist der junge Yvain, der in vielerlei Hinsicht im Schatten seines älteren Bruders Guillaume steht. Doch weder das noch die unterschiedliche Loyalität zu König Richard (Guillaume, der Kreuzfahrerheld) bzw. Prinz John (Yvain, der Knappe) führen zu einem ernsthaften Zerwürfnis. Anders bei den royalen Brüdern König Richard "Löwenherz" und Prinz John "Ohneland" - aber da gehört das eher zur Tradition der Familie, in der jeder gegen jeden hetzt, integriert, kämpft, wegsperrt und was sonst noch (z.B. Bruder gegen Bruder, Brüder mit Mutter gegen Vater, Vater gegen Mutter usw.). Die Spiegelungen der Bruderpaare war jedenfalls eine sehr interessante Erzählweise der alten Waringham'schen Tradition zur Königstreue. Denn die wird hier ganz schön auf die Probe gestellt, und Frau Gablé zeichnet ihre Figuren wie gewohnt nicht schwarz oder weiß, sondern mit sehr vielen Grauschattierungen.

Vor allem Prinz/König John hat mich als Charakter sehr fasziniert. Ich muss zugeben, ich hatte zuerst den daumennuckelnden Löwen aus dem Disneyklassiker "Robin Hood" vor Augen. Aber auch sonst, wenn man an andere, vor allem Hood-bezogene Umsetzungen denkt, erscheint Richard Löwenherz immer als der strahlende Kreuzritter, sein Brunder eher als fieser Gesell. Nun, Gablé lässt keinen Zweifel daran, dass John ein durchaus moralisch fragwürdiger, bisweilen sehr grausamer Charakter war, der vor allem wegen seiner Niederlagen und ausufernden (und für den Adel sehr teuren) Kriegszüge in Erinnerung geblieben ist.

Seine positiven Seiten und Leistungen - er soll z.B. sehr gute juristische Kenntnisse gehabt und sich, im Gegensatz zu seinem hauptsächlich abwesenden älteren Bruder, auch als "englischer" König gefühlt und verhalten haben - stehen eher selten im Mittelpunkt. Das liegt wohl vor allem daran, dass John sich mehrfach massiv mit Kirche und Papst überworfen hat und zeitweise sogar exkommuniziert war. Und Geschichte wurde damals halt vorwiegend von Mönchen oder anderen Kirchenmenschen geschrieben, da hat so ein Ketzer schlechte Karten. Und dann auch noch das: König John war für damalige Verhältnisse geradezu waschsüchtig, mindestens alle zwei Wochen wollte er baden, das muss man sich mal vorstellen! Ein eher wenig stinkender König im Mittelalter, da kann doch was nicht stimmen...;)

Ich will John aber gar nicht zu sehr in Schutz nehmen, denn der Typ war alles andere als nice. Aber, wie gesagt, Rebecca Gablé zeichnet ihn sehr fein und von allen Seiten, sodass die innere Zerissenheit, die Yvain's Königstreue mit sich bringt, nicht nur beim Hauptcharakter für viel Kummer sorgt, sondern auch die Lesenden erreicht. Was ich auch noch ganz nebenbei gelernt habe: Wie die Magna Charta zustande kam und was genau so besonders und toll an ihr war. Und dass Eleonore von Aquitanien quasi die Queen Mum des Mittelalters war und ihre Lebensgeschichte äußerst faszinierend ist (vielleicht komme ich doch nochmal auf Eleanor of Aquitaine: A Life zurück oder versuche The Summer Queen).

Auf der Seite der fiktiven Charaktere gibt es wieder die üblichen dramatischen Verwicklungen, die, abseits des Thrones, schön die Sorgen und Probleme auch der "kleineren" Leute dieser Zeit illustrieren: Hunger, Belagerung, Familienfehde, Klosterverbannung, Lepra, unglückliche Liebschaften und vieles mehr.

Kurzum: Wieder ein sehr unterhaltsamer und äußerst lehrreicher Ausflug nach Waringham. Ich komme sehr gerne wieder.

Veröffentlicht am 25.09.2019

Trifft genau meinen Geschmack.

Brüder
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>>>Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2019 (Shortlist)

>>>Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2019 (Shortlist)<<<

Meine Begegnung mit diesem Buch möchte ich wie folgt beschreiben: Stellt euch vor, ihr habt ein Blind Date. Die Person, mit der ihr euch treffen werdet, ist euch nicht bekannt, aber ihr habt eine grobe Vorstellung von ihr, vielleicht, weil ihr ahnt, wer sie sein könnte, vielleicht, weil ihr ein bestimmtes Bild vor Augen habt. Jedenfalls stimmt euch eure Vorahnung optimistisch. Dann kommt ihr zum Date und stellt fest, dass es sich doch um eine ganz andere Person handelt. Ihr seid im ersten Moment enttäuscht, bleibt aber doch und nehmt das Date an. Schon nach kurzer Zeit stellt ihr fest, dass die euch zuvor unbekannte Person sehr nett und interessant ist. Ihr redet, tauscht euch aus, ihr "klickt" - das Date wird ein voller Erfolg und am Ende seid ihr überglücklich und gleichzeitig traurig, weil der Abend zu Ende ist.

So in etwa war das mit "Brüder" und mir. Nach Lesen des Klappentextes hatte ich so eine Art Parallelgeschichte über zwei Halbbrüder erwartet, die sich sich zufällig (?) treffen und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede erforschen. Oder sowas in der Art. Bisschen Familiendrama, bisschen Exotik, bisschen Ostalgie - beide Brüder wuchsen in der DDR auf, haben je eine weiße Mutter und einen schwarzen Vater, also wird sicher Rassismus oder Identitätsfindung im sozialistischen Bauernstaat und der Nach-Wende-Zeit das beherrschende Thema sein? Und dann kam alles anders. Nicht ganz anders, aber ziemlich.

Erste Überraschung: Frau Thomae erzählt ihre Geschichten hintereinander. Nicht nur strukturell, also erste Hälfte Mick, der stets getriebene Lebemann, der Berufsjugendliche, der Nicht-Festleger und Nie-Ankommer, zweite Hälfte Gabriel, der Geordnete, Geerdete, Gemachte.

Auch zeitlich folgen die Geschichten aufeinander. Micks Geschichte beginnt tatsächlich in seiner DDR-Jugend, lässt sich dann aber schnell auf die Zeit nach der Wende ein, mit unserem Hauptcharakter als Animateur der Berliner Technoszene der 90er Jahre, von Party zu Party und Frau zu Frau. Bis zum großen Crash. Der echt bitter ist. Gabriels Strang setzt zeitlich danach ein, und hat, grundsätzlich irgendwie ähnlich, dann aber doch ganz anders, eher den großen Bogen vom Aufbau bis zum Niedergang der perfekten Illusion, möglicherweise bedingt durch eine identitätsleere Midlifecrisis, zum Inhalt. Auch Gabriel erleidet einen Crash - der zu den denkwürdigsten Ausrastern zählt, die ich überhaupt je gelesen habe.

Dritte Überraschung: Die unterschiedlichen Erzählweisen. Micks Part springt zwischen verschiedenen Erzählstimmen in dritter Person hin und her. Zwar übernimmt Mick den überwiegenden Part, doch es kommen zahlreiche weitere Personen zu Gehör, kleinere und größere Rollen, die teils nur Kurzauftritte haben, trotzdem sehr genau gezeichnet sind. Hat mich hier und da an die Erzählweise meiner geliebten Reihe "Das Leben des Vernon Subutex" erinnert, auch wenn Frau Thomae weit weniger zynisch/böse als Frau Despentes schreibt (was nicht heißen soll, dass Frau Thomae nicht dahin geht, wo es weh tut, denn das tut sie durchaus).

Im zweiten Teil sind es Gabriel und seine Frau Fleur, die abwechselnd aus der Ich-Stimme ihre eigene und gemeinsame Geschichte wiedererzählen, was sich im Laufe der Erzählung zu einem sehr intimen und hintergründigen Beziehungsporträt auswächst, das mir alleine als Geschichte schon gereicht hätte. Ich kann trotzdem nicht sagen, welcher Teil mir besser gefallen hat, beeindruckt haben mich beide auf ihre ganz eigene Art.

Diese drei Besonderheiten haben das Buch für mich sehr interessant und gleichzeitig sehr zugänglich gemacht. Hatte ich anfangs mehr Parallelen erwartet - die sich in den Geschichten der beiden Halbbrüder, so unterschiedlich sie auch sein mögen, durchaus finden lassen - waren es vor allem diese "gleichzeitigen" Unterschiede, die mich mit jeder Seite mehr begeistert haben.

Jackie Thomae schreibt genau so, wie ich es liebe. Sie erschafft Charaktere, die echt sind, die Macken haben, Ecken und Kanten, die real sind. Die den Plot, die Geschichte bestimmen und vorantreiben, durch ihre Echtheit. Weil sie manchmal richtig ätzend sind. Weil sie Angst haben. Weil sie richtig Mist bauen - und sich nicht mal dafür schämen. Oder rechtfertigen. Und sie Beziehungen jeglicher Art durchleben und -leuchten: Paare, Freunde, Bekannte, Eltern-Kind, Kind-Eltern, andere Verwandschaftsverhältnisse.

Jackie Thomae packt zahlreiche Themen aufs Tableau, große Themen, einige davon habe ich bereits erwähnt: Identität, Herkunft, Rassismus, Liebe, Treue, Selbstfindung, Zwänge. Und sie erzählt davon - aber stets auf erfrischende Art und "Nebenbei"-Weise. Hier kommt kein Holzhammer zum Einsatz, eher eine freundliche Einladung, sich doch mal neben Frau Thomae zu setzen und mit ihr zu sinnieren und subtil zu hinterfragen: Und, wie ist das bei dir so? Erzähl doch mal!

Es gibt da noch zwei, drei Specials, die das Werk weiter würzen. Zum einen dieses herrliche Bonmot, das im Teil über Mick vorkommt, den man durchaus als "schwanzgesteuert" bezeichnen kann. Das wird er mit folgenden Worten angesprochen: "[...]Du bist so schwanzgesteuert wie ein Typ, den sich eine verbitterte Frau ausgedacht hat." Ha! Sehr schön. Auch schön: Irgendwann kommt auch Idris, der Vater der beiden Halbbrüder mal ins Bild. Und schließlich der Epilog, hach, was soll ich sagen - ich hatte wirklich Tränen in den Augen. Die letzten Seiten haben mich den Roman endgültig lieben lassen, denn das Ende war - für mich - absolut perfekt.

Tl;dr: Ein wunderbares Leseerlebnis. Jackie Thomae erzählt unaufgeregt und doch aufwühlend. Eine beeindruckende, unaufgesetzte, facettenreiche Charakterstudie, mit Themen und Inhalten, die sehr aktuell sind, das Buch aber eher subtil begleiten als permanent bestimmen. Ich hab's sehr gerne gelesen, für mich ganz genau das Richtige.