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Veröffentlicht am 14.11.2020

Ausgezeichnet konzipierte, vielschichtige Geschichte

Das Licht von Marokko
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„Das Licht von Marokko“ war ein Zufallsfund, über den ich sehr glücklich bin. Es ist ein außergewöhnlicher Roman, der verschiedene Themen komplex und ausgesprochen gelungen verbindet. Das grundlegende ...

„Das Licht von Marokko“ war ein Zufallsfund, über den ich sehr glücklich bin. Es ist ein außergewöhnlicher Roman, der verschiedene Themen komplex und ausgesprochen gelungen verbindet. Das grundlegende Thema ist die Malerin Helena, die seit Jahrzehnten unter dem nicht aufgeklärten Mord an ihrer Schwester Alicia leidet und nun herausfinden möchte, was geschehen ist. Dieser Mord an Alicia ist gewissermaßen der rote Faden, aber Helena findet noch unglaublich mehr über ihre Familie heraus und der Leser hat das Glück, sie auf dieser wirklich spannende Reise zu begleiten.

Helenas Anstoß zu weiteren Forschungen ist die Teilnahme an einer Familienaufstellung, und ich fand es schade, daß diese dubiose Methode so unkritisch geschildert wurde und die dort gemachten fast esoterisch anmutenden repräsentativen Wahrnehmungen als so relevant dargestellt wurden. Aber dies nimmt zum Glück nicht zu viel Raum ein. Der Großteil der Recherche findet durch Gespräche mit Weggefährten, Spurensuche und zwei Kisten voller Dokumente statt, die Helena aus dem Nachlass ihrer Mutter übergeben werden. Das mag einen an die zahllosen, sich ähnelnden 08/15-Romane mit dem Thema „Frau findet alte Dokumente und kommt Geheimnis auf die Spur“ erinnern, aber dieses Buch hebt sich weit von dieser Dutzendware ab, dies sowohl durch die Erzählweise wie auch die Thematik. Helenas Nachforschungen führen sie tief in die Geschichte nicht nur ihrer Familie, sondern auch Spaniens. Der Vater war überzeugter Franquist und weitaus mehr in die Unterstützung Francos verwickelt, als seine Familie sich je hätte träumen lassen. Es werden dunkle Themen angesprochen – Francos Methoden und überhaupt die Stimmung im Spanien jener Jahre, politische Morde, von politisch Unliebsamen geraubte Kinder und vieles mehr. Auch Marokkos Geschichte spielt eine – kleinere – Rolle.

Die Geschichte entfaltet sich uns allmählich durch Helenas Nachforschungen, Rückblicke und einen Blick auf alte Fotografien. Dies ist gut gemacht, denn wir bekommen immer nur einzelne Puzzleteile – Geschehnisse und Personen halten reichlich Überraschungen bereit, fast nichts ist so, wie es scheint. Gerade die Rückblicke sind farbig geschildert, aber auch sonst ist der Schreibstil flüssig. Ein kleines Manko ist die gelegentliche Neigung zum Dialog-Infodumping (zu Beginn insbesondere die Tendenz mancher Charaktere, ihren Verwandten den Familienstammbaum herunterzubeten, der allen durchaus bekannt ist. „Du bist meine Stiefgroßmutter, weil …“) und zu Wiederholungen. Wenn ein Brief z.B. ausführlich Dinge erklärt, die die Charaktere – und somit auch der Leser – bereits herausgefunden haben, ist das unnötig und etwas zäh. Dies kommt aber nicht so oft vor, daß es das Lesevergnügen wirklich beeinträchtigt hätte. Es gibt einen ausgesprochen großen Zufall, was nie mein Geschmack ist, aber es war nur einer. Ansonsten war alles sorgfältig konzipiert. Helena, die oft grundlos unfreundlich ist, war kein sympathischer Charakter und es gibt zwischen ihr und ihrem Stiefenkel einen obskuren und unnötigen Handlungsstrang, aber auch das überlagerte die Geschichte nicht.

Ich habe die fast 500 Seiten des Buches mit Freude gelesen, war nie gelangweilt, sondern im Gegenteil sehr gespannt, was sich als nächstes enthüllen würde. Ich habe die bildhaften Schilderung genossen und die Schauplätze, insbesondere das von der Familie geliebte Haus in Marokko, vor mir gesehen. Außerdem konnte ich hier viel über die Zeit Francos und die Nachwirkungen jener Zeit lernen, was ausgesprochen interessant war. So ist „Das Licht von Marokko“ ein auf vielen Ebenen ausgezeichnetes Buch, das zahlreiche Aspekte geschickt verwebt und farbenfroh schildert.

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Veröffentlicht am 12.11.2020

Schon fast ein viktorianischer Psychothriller

Das Geheimnis der Lady Audley
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Lady Audley's Secret hat mich fast durchgehend an den Seiten kleben lassen und mir mit der gelungenen Mischung aus Spannung, Humor und lebendigen Charakteren viel Freude bereitet. Ich muß vorab sagen, ...

Lady Audley's Secret hat mich fast durchgehend an den Seiten kleben lassen und mir mit der gelungenen Mischung aus Spannung, Humor und lebendigen Charakteren viel Freude bereitet. Ich muß vorab sagen, daß meine Rezension sich auf die englische Version bezieht. Die deutsche Version wurde dem modernen Lesegeschmack angepaßt und stark gekürzt, wodurch leider auch einige Dinge geopfert wurden, die einen anderen Blickwinkel bieten oder Beispiel für den feinen Humor der Autorin sind.

Für einen viktorianischen Klassiker ist das Buch zugänglich und gut lesbar. Es gibt langatmige Passagen (hier hat vielleicht die deutsche Übersetzung Abhilfe geschaffen) und manche Motive und Gedanken werden uns ausgiebig und überdeutlich erklärt. Überwiegend aber ist das Erzähltempo ausgezeichnet, die Geschichte schreitet flott voran und bietet viele überraschende Wendungen und Spannungsmomente, so daß man immer weiterlesen möchte.

Die Prämisse der Geschichte beruht auf einem dieser unglaublichen viktorianischen Zufälle, die man in britischen Büchern dieser Zeit sehr häufig findet. Lady Audleys dunkles Geheimnis kommt nämlich nur deshalb ans Licht, weil in ganz England ausgerechnet jene beiden Menschen aufeinander treffen, die zu einer Konstellation führen, in der dieses Geheimnis entdeckt werden kann. Aber was die Autorin aus der Geschichte macht, ist so gelungen, daß einige Logikschwächen gut verziehen werden können.

Interessant ist auch die Erzählweise. Größtenteils wird aus Sicht des jungen Robert Audley berichtet, der ein einfach herrlicher Charakter ist. Ein bequemer Lebemann, der hier über sich hinauswächst und immer wieder durch sein charmantes, amüsantes und hochanständiges Wesen beeindruckt. Einige andere Szenen gewähren uns Einblicke, die über jene von Robert hinausgehen, aber die Autorin spielt recht geschickt mit Perspektiven. So enthüllt sich uns Lady Audleys Wesen erst nach und nach, insbesondere da wir sie zunächst fast nur durch die Berichte anderer kennenlernen. Auch sonst sind einige Charaktere nicht gut einzuschätzen und auch manche relevanten Geschehnisse und Gedanken bleiben dem Leser verborgen und werden erst nach und nach enthüllt. So bleibt die Spannung bestehen und das Buch hat an manchen Stellen etwas von einem durchaus raffinierten Psychothriller. Gerade die Szenen, in denen Robert Audley und seine Gegenspielerin Lady Audley Unterhaltungen voller doppelter Bedeutungen führen, in denen das Ungesagte oft wichtiger ist als das Ausgesprochene, prickeln vor psychologischer Spannung. Es ist bemerkenswert, wie diese beiden miteinander spielen.
Es sind aber ohnehin fast alle Charaktere von erfreulicher Lebendigkeit, sogar Roberts irische Haushälterin mit ihrem irischen Akzent stand mir bildlich vor Augen, obwohl sie nur wenige kurze Auftritte hat.

Die allmähliche Aufdeckung von Lady Audleys Geheimnis (eigentlich: Geheimnissen, denn es kommt viel ans Licht) enthüllt viele Schicksale, Geschehnisse und bringt tragische Entwicklungen mit sich. Auch hier ist es gelungen, wie viele Facetten sich entfalten und wie man durchaus hier und da schwankt, ob man Mitleid oder Wut empfinden soll. Kalt gelassen hat mich das Geschehen keineswegs. Die Geschichte ist in vielerlei Hinsicht düster und es gibt mehrere (herrliche) Szenen, die so beklemmend, bedrückend geschildert werden, daß ich die Düsternis beim Lesen richtig spürte. Allerdings enthält das Buch auch häufig prächtigen Humor. Dieser wird von der Autorin in einzelnen Sätzen eingestreut, die besonders treffend sind, wenn sie die Menschen durchschauen. Hier gibt es Formulierungen, die mich laut auflachen ließen.

Das Ende wird leider mit reichlich rosa Zuckerguss versehen und übertreibt es mit dem Idyll und der Konventionalität ein wenig, aber es sind nur wenig Seiten, so daß das vorherige Lesevergnügen dadurch nicht überlagert wird. So bietet Lady Audley's Secret eine psychologisch raffinierte und spannungsreiche Geschichte mit gelungenen Charakteren, die mich oft überrascht und sehr gut unterhalten hat.

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Veröffentlicht am 20.07.2020

Ausgezeichnet geschriebener Blick in eine DDR-Familie

Ab jetzt ist Ruhe
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„Ab jetzt ist Ruhe“ hat mich von der ersten Seite in seinen Bann gezogen, was an dem so lebendigen und gelungenen Schreibstil liegt. Ich hatte beim Lesen fast das Gefühl, bei Braschs im Wohnzimmer zu sitzen. ...

„Ab jetzt ist Ruhe“ hat mich von der ersten Seite in seinen Bann gezogen, was an dem so lebendigen und gelungenen Schreibstil liegt. Ich hatte beim Lesen fast das Gefühl, bei Braschs im Wohnzimmer zu sitzen. Marion Brasch erweckt ihre Familiengeschichte, ihre Eltern und Geschwister wirklich zum Leben. Ich muß gestehen, daß ich vor dem Buch noch nie von der Familie gehört habe, so daß ich recht unbedarft an die Geschichte heranging.
Der erste Teil des Buches findet während Marion Braschs Kindheit statt und der Familienverband spielt hier eine sehr starke Rolle. Ich fand gerade die Geschichten der Eltern faszinierend. Beide wurden während der Nazizeit von ihren jüdischen Eltern nach England geschickt, der Vater wurde im Laufe der Jahre zum überzeugten Kommunisten und ging nach dem Krieg in die DDR; seine Frau folgte ihm mit recht wenig Begeisterung und fühlte sich in dem bedrückenden, einengenden Land nie wohl. Diese Dynamik zwischen den Eltern und auch das Festhalten des Vaters an der herrschenden Ideologie, obwohl er deren dunkle Seiten immer wieder am eigenen Leib erlebt, sind ausgesprochen interessant. Die Lebenswege der Eltern sind so ungewöhnlich, so vielseitig und in vielem auch sehr tragisch. Auch kurze Rückblicke auf die Großeltern lesen sich spannend – gelebte Zeitgeschichte!

Ein Teil der Tragik ist das Verhältnis zu den drei Söhnen, Marion Braschs Brüdern, die sich alle gegen das System DDR wenden, obwohl sie das Land DDR durchaus lieben. Wenn der Vater den eigenen Sohn anzeigt und das Verhältnis des Vaters zu seinen Söhnen einem ständigen Auf und Ab unterliegt, weil er seine Söhne zwar liebt, aber diese Gefühle seiner Ideologie unterordnet, dann ist das tief berührend, oft schmerzhaft, gerade auch, wenn man dann den Lebensweg dieser drei Söhne betrachtet, die alle drei Alkohol- und teilweise Drogenmissbrauch betrieben und früh starben. Wir erfahren diese Konflikte durch Marion Braschs Augen, die all dies anfänglich als Kind wahrnimmt und uns deshalb auch entsprechend vage und oft unvollständig berichtet, manches klingt fast harmlos, weil sie als Kind die ganze Wucht nicht erfassen konnte. Das ist einerseits eine authentische Herangehensweise, andererseits fehlten mir dadurch einige Aspekte, war mir manches zu vage. Doch gelingt es der Autorin durchaus, uns tief in die Familiendynamik hineinzuführen und uns den Schmerz, das Unausgesprochene, den Konflikt zwischen Politik und familiärer Zuneigung spüren zu lassen. Das habe ich selten so gut gelesen. Die innerfamiliären Momente sind die stärksten Stellen dieses Buches.

Der Schreibstil ist, wie erwähnt, ansprechend, wechselt gekonnt zwischen Tragik und Humor; sogar in eigentlich herzzereißenden Situationen lockert eine trockene Bemerkung die Szene oft auf. Diese Familie wirkt eben so lebendig, weil wir sie in all ihren Facetten erleben. Das Buch liest sich leicht, fast wie im Plauderton, so, wie Marion Brasch ihre Geschichte vielleicht an einem Abend einigen Freunden erzählen würde. Ein wenig irritierend fand ich ihre Angewohnheit, Namen zu vermeiden. Das klappt bei den Brüdern (die hier nur als jüngster, mittlerer und ältester Bruder auftreten) gut, wirkt sonst aber oft verkrampft. So spielt die Ausbürgerung Biermanns eine durchaus wichtige Rolle, er wird aber beharrlich als „Sänger mit dem Schnurrbart“ bezeichnet, wie auch sonst Personen oft nur als „Gitarrist mit der großen Nase“, „Schauspielerin mit der kindlichen Stimme“ etc. bezeichnet werden. Auch Filme werden nie beim Namen genannt und das führt dort zu etwas verkrampften Formulierungen, z.B. wenn Katharina Thalbach davon berichtet, daß sie eine Rolle in „Die Blechtrommel“ gespielt hat, und sich das im Buch dann so liest: „Die Freundin meines Bruder (…) erzählte (…) mir von dem Film, in dem sie eine Hauptrolle gespielt hatte und der jetzt einen Preis nach dem anderen gewann. Der Preis erzählt die Geschichte (…). Der Junge hieß Oskar, genauso wie der Preis, für den der Film nominiert werden sollte.“ Ich weiß nicht, ob Marion Brasch um jeden Preis Namedropping vermeiden wollte oder es ihr darum ging, ihre kindliche Sichtweise zu schildern (obwohl sie bei vielen diesen Szenen schon längt erwachsen ist) oder ob es einen anderen Grund hatte, aber mir gingen diese Vermeidung von Namen und die damit einhergehenden umständlichen Formulierungen ein wenig auf die Nerven.

Während die erste Hälfte des Buches mich absolut gebannt hat, gab es in der zweiten Hälfte doch mehrere für mich langatmige Passagen. Die Autorin will auch ihre Geschichte erzählen, das ist verständlich, aber ihre Geschichte ist nicht sonderlich interessant, da sie sich nicht viel von denen anderer junger Leute unterscheidet. Erste Wohnung, Trampurlaube, Parties, Liebeleien – das wirkt im Vergleich zur faszinierenden Familiendynamik blass, oberflächlich und eben auch langatmig, insbesondere weil sie solche banalen Szenen minutiös berichtet. Auch ihre diversen Männergeschichten werden recht uninspiriert heruntererzählt, die jeweiligen Männer bleiben konturlos und tragen überhaupt nichts zur Geschichte bei. Da hätte ich mir viel mehr Raum für die Schilderung der Familienverhältnisse gewünscht, die an der Stelle ein wenig zurücktreten. Immer, wenn die Autorin zu Vater und Brüdern zurückkehrt, gewinnt das Buch die alte Eindringlichkeit zurück.

Bei einer Fokussierung auf diese Thematik wäre das Buch für mich ein 5-Sterne-Buch mit Sternchen geworden, denn die Autorin hat die ungemein interessante Thematik gekonnt umgesetzt. Aber auch so war es trotz einiger Längen eines der erfreulichsten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe und das mir in herrlichem Schreibstil viele Informationen über das Leben einer solchen Familie, die Generations- und Ideologiekonflikte in der DDR gegeben hat.

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Veröffentlicht am 09.03.2020

Kaum in Worte fassbare besondere Geschichte

Die Glocke im See
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Aufgrund des Klappentextes hätte ich das Buch nie gelesen, denn er läßt das Buch wie eine kitschige Liebesgeschichte klingen, die es zum Glück überhaupt nicht ist. Allerdings ist es auch wirklich schwierig, ...

Aufgrund des Klappentextes hätte ich das Buch nie gelesen, denn er läßt das Buch wie eine kitschige Liebesgeschichte klingen, die es zum Glück überhaupt nicht ist. Allerdings ist es auch wirklich schwierig, der Geschichte in wenigen Sätzen gerecht zu werden. Das wundervolle Titelbild schafft das schon eher, kann die Atmosphäre des norwegischen Gudbrandstal wundervoll einfangen und zeigt vor dem fast einfarbigen Hintergrund als leuchtenden Farbfleck die Stabskirche, die für mich eigentlich der Hauptcharakter war.

Ich gebe zu, noch nie vorher von diesen Stabkirchen gehört zu haben und ich habe beim Lesen immer wieder auf das Titelbild geschaut, mir im Internet einiges zu dem Thema durchgelesen und werde mich auch weiter damit beschäftigen. Die Kirche im Buch hat zudem noch zwei riesige Glocken, die vor Jahrhunderten von der örtlichen Familie Hekne gestiftet wurden und die eine Legende umgibt. Mit dieser Legende beginnt das Buch auch und saugt den Leser sofort ein in diese ganz eigene Welt des abgelegenen Tals und diesen Ort, der von der Außenwelt nur unter großen Mühen erreicht werden kann und deshalb eine ganz eigene Art der Weltabgeschiedenheit pflegt. Hier ist das Leben hart, die Menschen bodenständig und in jahrhundertalten Gebräuchen tief verwurzelt. Legenden, Mythen und uralte Rituale, Glauben an manch Übersinnliches gehören aber ebenso zum Leben wie die knochenharte Hofarbeit, das Hungern im Winter, der endlose Reigen aus Geburten und Toden. Und dies vermittelt Lars Mytting ganz wundervoll. Er webt die unwirklichen, übersinnlichen Aspekte sparsam und völlig natürlich ein, läßt Stimmungen und Ahnungen neben den Alltag treten und bildet dadurch eine ganz andere Welt. Er kommt aus dieser Gegend und man merkt die intensive Vertrautheit mit den Gegebenheiten und den dortigen Menschen hervorragend.

Auch das historische Wissen und Informationen über die Stabskirchen werden gelungen eingewoben, ich habe unglaublich viel über zahlreiche Themen gelernt und dies auf unterhaltsame Weise. Es gibt eine farbige Vielfalt an Themen, ohne daß es je überladen wirkt. Ebenfalls hat mir gut gefallen, daß es fast durchweg spannend bleibt, obwohl gar nicht so viel passiert. Wenn man die Geschichte beschreiben müßte, klänge es banal: Dresdner Architekturstudent reist ins Gudbrandstal, um den Abbau der dortigen Stabskirche zu überwachen, welche nach Dresden gebracht und dort wieder aufgebaut werden soll. Örtlicher Pfarrer hat dies initiiert, die Kirche nach Dresden verkauft, weil die über 700 Jahre alte Kirche baufällig und zu klein ist, das Geld für eine neue Kirche aber fehlt. Örtliche junge Frau fühlt sich zu diesen beiden Männern hingezogen. Aus diesen Rahmenbedingungen webt Mytting aber eine komplexe Geschichte, in der es um Entwicklungen und Traditionen geht, um die Lebensart im Tal und die Frage, ob und in welchem Tempo Innovationen notwendig oder willkommen sind. Um Zugehörigkeit und Loyalität, um Rache und Reue. Das mag dramatisch klingen, wird aber herrlich unaufgeregt erzählt. Es sind auch humorvolle Momente darin, sehr viel Trauriges, und diese ganz eigene Atmosphäre, die mir eine Welt zeigte, von der ich bislang überhaupt nichts wußte und die ich sehr gerne entdeckt habe.

Nur zum Ende hin gab es ein paar etwas langatmige Passagen und ich war auch ein wenig enttäuscht, daß die Geschichte der sich zu Anfang so wichtigen Glocken etwas antiklimaktisch entwickelte, aber das sind Kleinigkeiten. Insgesamt hat mir dieses ungewöhnliche Buch unglaubliche Lesefreude bereitet, die in Worten schwer fassbar ist, da es dem Autor gelang, eine besondere Atmosphäre zu schaffen, wie ich sie selten so bemerkenswert gelesen habe.

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Veröffentlicht am 11.01.2020

Unterhaltsames gelungenes Kaleidoskop

Berlin 1936
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"Berlin 1936" ist ein unterhaltsames Kaleidoskop aus verschiedenen Schicksalen, die sich während der Olympiade jenes Jahres in Berlin abspielten. Jedem der 16 Olympiatage ist ein eigenes Kapitel gewidmet, ...

"Berlin 1936" ist ein unterhaltsames Kaleidoskop aus verschiedenen Schicksalen, die sich während der Olympiade jenes Jahres in Berlin abspielten. Jedem der 16 Olympiatage ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das stets mit dem Wetterbericht und einer Fotografie beginnt. Dies sind die einzigen Konstanten, ansonsten erwartet uns in jedem Kapitel eine unterhaltsame, stetig wechselnde Mischung.

Der Text berichtet über eine Vielzahl von Menschen und dem, was sie an jenem Tag erlebten, verwebt dies mit Informationen über bekannte Berliner Hotels, Bars oder Restaurants und einem allgemeinen Stimmungsbild. Durchsetzt ist dieser Text von gelegentlichen Tagesmeldungen der Polizei, internen Anordnungen, Zitaten aus Zeitschriften- oder Zeitungsartikeln und anderem - diese originalen Wortlaute sind ausgesprochen erhellend. Ich fand die Mischung gut gelungen und unterhaltsam, weil auf diese Art so viele unterschiedliche Eindrücke aufeinandertrafen. Durch diese abwechslungsreiche Erzählweise und den eingängigen Schreibstil läßt sich das Buch gut lesen.

Auch die Personen, von denen wir hier erfahren, sind gänzlich unterschiedlich. Es sind die ganz normalen Bürger der Stadt, ausländische Gäste, Sportler, Naziprominenz, Personen des Nachtlebens. Ich hätte mich gefreut, wenn der Fokus etwas mehr auf den ganz normalen Menschen gelegen hätte, aber das ist wahrscheinlich auch eine Frage der vorhandenen Quellen. Ein wenig gestört hat mich allerdings, daß dem Schriftsteller Thomas Wolfe so unverhältnismäßig viel Platz gewidmet wurde. Sicher ist seine innere Reise vom unkritischen Touristen zu jemandem, der die Monstrosität der braunen Diktatur allmählich begreift, interessant. Aber es ist bei weitem nicht die interessanteste Geschichte in diesem Buch und sie wird zudem mit unnötiger Detailfreude und viel Nebensächlichem erzählt. Auch die Abstecher nach Spanien, wo die Nazis sich auf ihren brutalen Eingriff den dortigen Konflikt vorbereiten, hielten sich mit nebensächlichen Details auf und waren für ein sich auf Berlin konzentrierendes Buch unnötig. Die zahlreichen Empfänge und Feiern der Naziprominenz glichen sich ein wenig zu sehr, um so ausführlich beschrieben zu werden. So gab es also einige Abschnitte, die mich weniger fesselten, dafür aber sehr viele, die ich ausgesprochen interessant und unterhaltsam fand.

Oliver Hilmes gelingt eine gute Balance zwischen unterhaltsamen Betrachtungen, amüsanten Anekdoten und der dunklen Seite des Regimes. Auch die damaligen Aussagen über Geschehen und Leute sind aufschlußreich. So schüttelt es einen, wenn der massenmordende Diktator mehrfach als gütig aussehend beschrieben wird oder wenn Amerikaner, die vor der Olympiade untersuchen sollen, ob deutsche jüdische Athleten von der Olympiateilnahme ausgeschlossen werden, sich selbst als Antisemiten - und "nebenbei" noch Rassisten - erweisen und ihren Auftrag halbherzig bzw. gar nicht ausführen. Dann liest man das Lob der Berliner Zeitungen, die die olympischen Spiele als "die schönsten Spiele aller Zeiten" bejubeln und hat das Gefühl, gerade einen Tweet Trumps gelesen zu haben...

Man lernt in diesem unterhaltsamen Buch richtig viel über Berlin, über die so unterschiedlichen Menschen und Schicksale und auch über die Sorgfalt, mit der die menschenverachtende Diktatur sich von einer bewußt harmlosen Seite zeigte, um erfolgreiche Augenwischerei zu betreiben. Im Anhang wird über das weitere Schicksal der erwähnten Menschen berichtet, auch dies war ausgesprochen lesenswert. Jesse Owens, der vom amerikanischen Präsidenten für seine fulminanten Olympiaerfolge nicht mal ein lobendes Wort erhielt und aufgrund seiner Hautfarbe zu seinem eigenen Festbankett mit dem Lastenaufzug fahren mußte, berührt hier sehr. Thomas Wolfe nimmt leider auch in dieser Aufzählung viel mehr Raum ein als andere mit beeindruckenderen oder interessanteren Lebenswegen - dieses Ungleichgewicht ist doch ein Wermutstropfen.

Insgesamt ist "Berlin 1936" ein absolut lesenswertes, originelles Buch, das die Balance aus Unterhaltung und Wissensvermittlung ausgezeichnet meistert und uns zudem zeigt, was Verharmlosung und Propaganda anrichten können.

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