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Veröffentlicht am 15.03.2020

70 Jahre alt, aber ungebrochen in seiner Aussagekraft

Der Schnee war schmutzig
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REZENSION – Wer nur einige seiner 75 kommerziell erfolgreichen Krimis um Kommissar Maigret gelesen hat, kennt nur die eine, die unterhaltsame Seite des belgischen Schriftsteller Georges Simenon (1903-1989). ...

REZENSION – Wer nur einige seiner 75 kommerziell erfolgreichen Krimis um Kommissar Maigret gelesen hat, kennt nur die eine, die unterhaltsame Seite des belgischen Schriftsteller Georges Simenon (1903-1989). Wer das literarische Können des, gemessen an seinem Gesamtwerk, erfolgreichsten Autors des 20. Jahrhunderts wirklich erfahren will, sollte auch einige seiner anderen etwa 120 Romane und 150 Erzählungen lesen. Dies wird einem erst richtig bewusst bei der Lektüre seines bereits 1948 im amerikanischen Exil veröffentlichten Romans „Der Schnee war schmutzig“, der kürzlich, von Kristian Wachinger neu übersetzt, mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann neu herausgegeben wurde. Dieser so düstere, lange nachwirkende Roman hat in seiner zeitlosen Betrachtung des menschlichen Wesens und der leichten Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaft auch 70 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung nichts an Kraft verloren.
Simenon, der seit 1930 in Paris gelebt hatte und erst 1945 in die USA emigriert war, schildert in seinem Roman die bedrückende Situation in einem zwar namenlosen, von fremden Truppen besetzten Land, das aber unschwer an die deutsche Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg erinnert. Die soziale Ordnung, die Würde des Menschen und das Mitgefühl mit den Nächsten scheinen ausgesetzt, im Einzelfall sogar verloren zu sein. In dieser Situation lernen wir den 18-jährigen Frank Friedmaier kennen, der vaterlos im Bordell seiner Mutter aufgewachsen ist. Der haltlose junge Mann würde dieses Milieu gern verlassen, sehnt sich im Innersten nach einer heilen Welt, landet aber immer tiefer in der kriminellen Szene, bis er schließlich sogar – eher grundlos und aus Langeweile – zum Mörder wird und als Todeskandidat in Isolationshaft sitzt. Erst dort spürt er beim Besuch der ihn liebenden Nachbarstochter Sissy Holst die Bedeutung von Zuneigung und Liebe.
Erst Sissys selbstlose, bedingungslose Liebe, obwohl Frank sie Wochen zuvor mitleidslos gleich einer Prostituierten an einen Freund verschachert hatte, ermöglicht es Frank Friedmaier endlich, ein moralisches Bewusstsein aus sich selbst heraus zu entwickeln. In Sissy als Braut und deren Vater als Ersatz des immer vermissten eigenen Vaters findet er die vermissten Zeichen familiärer Zusammengehörigkeit, Zeichen einer heilen Welt. „Er wird nur das gehabt haben. Das ist alles für ihn. Davor war nichts, und danach wird nichts mehr sein. Es ist seine Hochzeit! Es sind seine Flitterwochen, sein Leben, das er auf einen Schlag leben muss.“ Frank erkennt, dass auf diesen Moment nur noch sein Tod folgen kann. So schließt Simenons Roman folgerichtig mit Franks Hinrichtung durch ein Erschießungskommando.
Simenon zeigt in diesem Roman, wie in Besatzungszeiten durch fremde Mächte normale Gesellschaftsregeln außer Kraft gesetzt und die Menschen ihrer moralischen Prinzipien beraubt werden. „Der Schnee war schmutzig“ ist trotz zweier Morde und anderer Verbrechen kein Kriminalroman. Ähnlich, wie Simenon seinen Protagonisten nicht als Verbrecher zeigt, sondern „nur“ als ein für seine Mitmenschen uninteressantes Glied der Gesellschaft, geschehen auch seine Taten eher beiläufig, gedankenlos, und werden von den anderen gefühllos, fast als unvermeidbar hingenommen. Erst in der Isolationshaft – dies ist der psychologisch und in seiner Intensität beeindruckendste Teil dieses lesenswerten Romans – entwickelt sich Friedmaier durch Schaffung eines moralischen Selbstbewusstseins allmählich zum „Menschen“. Doch für ihn ist es jetzt zu spät.

Veröffentlicht am 05.03.2020

Intellektuell anspruchsvoller Roman über Rassismus

Heaven, My Home
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REZENSION - Wer „Bluebird, Bluebird“ (2019), den mit zwei renommierten US-Literaturpreisen ausgezeichneten Roman der Afroamerikanerin Attica Locke (46) schon kennt, dürfte es beim Folgeband „Heaven, My ...

REZENSION - Wer „Bluebird, Bluebird“ (2019), den mit zwei renommierten US-Literaturpreisen ausgezeichneten Roman der Afroamerikanerin Attica Locke (46) schon kennt, dürfte es beim Folgeband „Heaven, My Home“ leichter haben. Erstleser werden sich dagegen anfangs schwer tun, sich in die Verwicklungen und Finessen der Ermittlungsarbeit des schwarzen Texas Rangers Darren Mathews einzufinden, zumal der aktuelle Fall durch Verbindungen zu einem zurückliegenden Mord überlagert wird.
Auch in „Heaven, My Home“ geht es um die rassistische Scheinheiligkeit des Miteinanders oder eigentlich Nebeneinanders von Schwarz und Weiß im Osten Texas, eben jenes Staates, dessen Probleme der schwarzen Bevölkerung die afroamerikanische Autorin als dort Geborene wenn nicht selbst erfahren, dann doch hat beobachten müssen. Der Roman spielt im Zeitvakuum zwischen Donald Trumps Wahl zum Präsidenten und seiner offiziellen Amtseinführung. Rassisten wie die neonazistische Arische Bruderschaft Texas (ATB), in der Vergangenheit von Ordnungskräften mühsam zurückgedrängt, fühlen ihre Zeit gekommen. Alte, erloschen geglaubte Rassenvorurteile werden durch das sich verändernde politische Klimas wieder neu entfacht.
In dieser spannungsgeladenen Zeit verschwindet im Marion County der neunjährige Levi King, Sohn einer Weißen, die mit einem Rassisten in einem Trailer-Park auf dem Privatgrundstück des alten Schwarzen Leroy Page lebt. Leroy, der nach eigener Aussage den Neunjährigen zuletzt sah und mit ihm früher schon Streit hatte, wird vom FBI des Mordes verdächtigt. Der weiße FBI-Mann Greg, ein Studienfreund des schwarzen Rangers, will nachweisen, dass nicht nur Weiße Hassverbrechen an Schwarzen begehen, sondern umgekehrt auch Schwarze an Weißen. Ranger Mathews wird von seinem Vorgesetzten an den Tatort geschickt, um letzte Beweise gegen die mit Drogen handelnde und mordende Arische Bruderschaft zu sammeln, noch bevor Trump ins Amt eingeführt wird.
Attica Locke versteht es meisterhaft, uns im weiteren Verlauf der Handlung das Denken und Fühlen vor allem schwarzer Südstaatler und die Vielschichtigkeit der gesellschaftlichen Problematik im gemischtrassigen Zusammenleben zu verdeutlichen. Vor allem in den parallel laufenden Ermittlungen der beiden Freunde Greg und Darren werden die Schwierigkeiten, Komplikationen und Vorurteile deutlich: Während es für FBI-Mann Greg wegen aufgefundener Indizien erwiesen ist, dass der alte Schwarze den Neunjährigen ermordet haben muss, hält Ranger Darren dies für unwahrscheinlich, da nicht sein kann, was nicht sein darf. Darren wagt es nicht, wie Freund Greg ihm vorwirft, „sich zu seinen eigenen blinden Flecken zu bekennen, wenn es um Schwarze ging, zu dem Gefühl von Rücksichtnahme, das ihn durchdrang, und zu dem Instinkt, schützen und dienen zu wollen, der in ihm vor allem bei älteren Schwarzen erwachte, Männern und Frauen, deren Kämpfe und Stärke Darrens Leben erst möglich gemacht hatten.“
Attica Locke macht es uns deutschen Lesern, die wir mit dem in den USA seit der Sklaverei tief verwurzelten Rassenproblem nicht vertraut sind, mit ihrem vielschichtigen, sensiblen Roman nicht leicht, das Gelesene unmittelbar zu verstehen. „Heaven, My Home“ ist kein unterhaltsamer Krimi für gemütliche Stunden zum Feierabend, sondern ein intellektuell anspruchsvoller Roman, der zum Nachdenken anregt - und über den man auch nachdenken sollte. Denn Rassismus ist leider nicht mehr nur in den USA ein aktuelles Thema.

Veröffentlicht am 02.02.2020

Ein wichtiges Stück Zeitgeschichte, wieder aktuell

Der eiserne Gustav
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REZENSION - Den „eisernen Gustav“ glauben viele zu kennen. Doch der Rühmann-Film von 1958 hat mit Hans Falladas gleichnamigem Roman von 1938 nichts zu tun, schildert er doch nur die Kutschfahrt des wahren ...

REZENSION - Den „eisernen Gustav“ glauben viele zu kennen. Doch der Rühmann-Film von 1958 hat mit Hans Falladas gleichnamigem Roman von 1938 nichts zu tun, schildert er doch nur die Kutschfahrt des wahren Berliner Droschkenkutschers Gustav Hartmann (1859-1938) im Jahr 1928 nach Paris. Fallada griff dieses damals öffentlichkeitswirksame Ereignis lediglich gegen Ende seines Romans um seinen fiktiven Kutscher Gustav Hackendahl auf. Doch auch wer Falladas „Der eiserne Gustav“ gelesen hat, hatte nie seinen Originaltext, der verschollen ist, sondern nur einen bearbeiteten Text in der Hand. Erst jetzt nach über 80 Jahren erschien im Aufbau-Verlag eine Ausgabe mit jenem Ende, „wie ihn der Verfasser gewollt hatte“, und in einer dem Urtext nahekommenden Fassung, wie es Fallada-Forscherin und Herausgeberin Jenny Williams in ihrem ausführlichen Nachwort nachweist.
Hauptfigur ist der Berliner Droschkenkutscher Gustav Hackendahl. Wir begleiten den kleinbürgerlichen, in der wilhelminischen Zeit zu Disziplin und Gehorsam erzogenen Mann, der es bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs durch harte Arbeit zum Unternehmer mit 30 Droschken geschafft hatte, in den nun nachfolgenden Jahren 1914 bis 1924. Fallada zeigt am Beispiel des wirtschaftlichen Untergangs Hackendahls und des Zerfalls seiner Familie zugleich den Zerfall des gesellschaftlichen und politischen Systems nach dem verlorenen Krieg, nach Auflösung des Kaiserreichs und in den Wirren der Weimarer Republik, was letztlich in der Machtübernahme der Nationalsozialisten endete. Gustav Hackendahl muss erleben, wie seine von ihm „eisern“ verteidigten Werte – Ordnung, Gehorsam, Disziplin – untergehen. Andererseits war es gerade die Strenge des Vaters, die für die Trennung seiner erwachsenen Kinder vom Elternhaus sorgte. Nur den Jüngsten lässt der Autor zu einem „anständigen Menschen“ heranwachsen.
Fallada hatte seinen Roman bewusst vorzeitig 1924 enden lassen, um nicht in die Sphären der Nazis zu geraten. Doch noch in der Andruckphase verlangte Goebbels eine Verlängerung der Handlung bis zur NS-Machtübernahme. Ausgerechnet Kutscher Hackendahl und sein „anständiger“ Sohn sollten der NSDAP beitreten. Fallada gab am Ende nach - sein Buch wäre wegen „fehlender Propagandawirkung“ nicht zugelassen worden - und ergänzte einen „Nazi-Schwanz“, wie er es in Briefen selbst formulierte.
Zwanzig Jahre später erschien in der DDR eine erneut bearbeitete, diesmal dem kommunistischen System gefällige Romanfassung: Zwar war der „Nazi-Schwanz“ gestrichen, in vorauseilendem Gehorsam aber auch weitere Textpassagen, die den DDR-Funktionären hätten missfallen können. Nach jahrelanger Forschung und Textvergleichen erschien endlich im Herbst 2019 eine „von allen politischen Eingriffen befreite“ Fassung des Fallada-Textes, die dem verschollenen Originalmanuskript wohl am nächsten kommt.
Trotz seiner 80 Jahre ist „Der eiserne Gustav“ immer noch aktuell und in seiner Authentizität aufrüttelnd, wie er von Fallada einst gedacht war. Nicht wenige vergleichen unsere heutigen politischen Verhältnisse mit denen der Weimarer Republik und meinen auch, einen Verfall unseres gesellschaftlichen Systems zu erkennen. Manche vermissen auch heute das notwendige Maß an Disziplin und Ordnung. Wieder erstarken in Deutschland die extremen politischen Flügel. So kann man diese Fallada-Neuausgabe als immer noch aktuelle und unbedingt lesenswerte Mahnung verstehen.

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Veröffentlicht am 13.10.2019

Ungewöhnlicher Thriller auf hohem Niveau

Geblendet
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REZENSION – Nach seinen Bestsellern „Endgültig“ (2016) und „Niemals“ (2017) hat der deutsche Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor Andreas Pflüger (62) nun mit „Geblendet“ seine Thriller-Trilogie ...

REZENSION – Nach seinen Bestsellern „Endgültig“ (2016) und „Niemals“ (2017) hat der deutsche Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor Andreas Pflüger (62) nun mit „Geblendet“ seine Thriller-Trilogie um die erblindete Elitepolizistin Jenny Aaron in einem beeindruckenden Finale abgeschlossen. Dank ihrer herausragenden Fähigkeiten ist Aaron Mitglied der „Abteilung“, einer weltweit operierenden, geheimen deutschen Sondereinheit. Waren die beiden Vorgänger noch reine Thriller, wenn auch stilistisch herausragend und aus der ungewöhnlichen Perspektive einer blinden Heldin erzählt, wird dieser abschließende Band zu einem spannenden Psychodrama. Wir lernen die bisherige „Kampfmaschine“ Jenny Aaron als verletzlichen, auch an sich selbst zweifelnden Menschen kennen.
Wer die ersten Bände nicht kennt, sollte dies vor der Lektüre des dritten möglichst nachholen. Zwar kommt der Leser durch eingestreute Rückblenden und Erinnerungsfetzen stückweise der Vorgeschichte näher, die vor fünf Jahren zur Erblindung Jenny Aarons geführt hat, doch reicht dies allein nicht aus, die Charakterprägung der Heldin und ihr Verhältnis zu den anderen, nur männlichen Agenten in jeder Einzelheit zu erfassen, zumal in „Geblendet“ immer wieder auf Vergangenes Bezug genommen wird.
Fünf Jahre nach dem durch einen Anschlag erlittenen Verlust ihres Augenlichts, beginnt Jenny Aaron auf Rügen eine medizinische Behandlung, die ihr die Sehkraft vollständig zurückbringen soll. Erst nach langen inneren Kämpfen hatte sie sich dazu entschlossen, allerdings in dem Wissen, damit zugleich ihre bis ins Extrem verstärkten Gehör- und Geruchssinne wieder zu verlieren, mit deren Hilfe sie in den vergangenen Jahren „sehen“ gelernt hatte und dadurch bei Einsätzen ihren Kollegen gegenüber sogar Vorteile hatte. Die Therapie scheint bereits zu wirken, doch erste optische Eindrücke verwirren Aarons Sinne, überanstrengen und schwächen sie, machen sie letztlich verwundbar. Als ihre Abteilung bedroht, nach einem vernichtenden Bombenanschlag, den nur sechs Männer durch Zufall überstehen, fast vernichtet ist und sie selbst sich auf Rügen vom Feind beobachtet und bedroht fühlt, muss sich Aaron entscheiden – für sich selbst und die Wiederherstellung ihres Sehvermögens oder für ihre „Abteilung“ und weitere Blindheit.
Geblendet, verblendet, blind – Pflüger zeichnet in seinem ungewöhnlich gefühlsbetonten Thriller die Charaktere seiner Figuren psychologisch nachvollziehbar und in ihrer Unterschiedlichkeit interessant. Jeder sieht nur das, was er sehen will oder was man ihn zu erkennen antrainiert hat. So ist nicht nur Aarons Gegenspielerin Malin zeitweilig ebenfalls blind, sondern beide sind durch die einseitige stringente Erziehung der Väter derart verblendet, dass es einen ganzen Roman braucht, bis jede im Wust ihrer von Hass und Rache beherrschten Gefühle endlich die Wahrheit zu erkennen und den symbolhaften Spiegel, der doch nur die Oberflächlichkeit des eigenen Ichs zeigt, endlich zu zerbrechen vermag. Erst dann kommt beiden, so unterschiedlich sie auch sind, die Erkenntnis eines auf einer Lüge aufgebauten Lebens. Bis dahin durchlebt der Leser eine von Spannung getriebene Achterbahnfahrt der Gefühle, die sowohl stilistisch als auch in der Vollkommenheit erforderlicher Recherche beeindruckt und über alle 500 Seiten anhaltend begeistert. „Geblendet“ ist ein Thriller auf hohem Niveau, wie man ihn von deutschen Autoren nur selten findet.

Veröffentlicht am 27.08.2019

Psychologisch tiefgreifender, nachhaltiger Roman

Sakari lernt, durch Wände zu gehen
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REZENSION – Eine wahre Begebenheit hat sich der deutsche Schriftsteller Jan Costin Wagner (46) als Ausgangspunkt für seinen bereits 2017 veröffentlichten, kürzlich als Taschenbuch im Goldmann-Verlag erschienenen ...

REZENSION – Eine wahre Begebenheit hat sich der deutsche Schriftsteller Jan Costin Wagner (46) als Ausgangspunkt für seinen bereits 2017 veröffentlichten, kürzlich als Taschenbuch im Goldmann-Verlag erschienenen Roman „Sakari lernt, durch Wände zu gehen“ genommen, den sechsten Band seiner in 14 Sprachen übersetzten Kriminalreihe um den finnischen Kommissar Kimmo Joentaa. Im Sommer 2013 stieg ein verwirrter Mann am Berliner Alexanderplatz nackt ins Wasser des Neptunbrunnens und drohte, sich selbst mit einem Messer zu verletzen. Beim folgenden Polizeieinsatz wurde er von einem Beamten irrtümlich erschossen. In Wagners Roman geschieht dies im Marktplatzbrunnen der finnischen Stadt Turku. Bei ihm ist es der 19-jährige Sakari, der auf der Suche nach seinem Engel Emma, seiner „Fee des frühen Morgens“, durch die durchlässige Wasserwand steigt und vom Polizisten Petri Grönholm in einer Reflexhandlung erschossen wird. Petri versucht in seiner Verzweiflung, mehr über diesen jungen Menschen zu erfahren, und sucht Hilfe bei seinem Kollegen Kimmo.
Kommissar Kimmo Joentaa, der nach dem frühen Tod der Ehefrau allein für seine kleine lebensfrohe Tochter Sanna sorgen muss, sucht die Eltern des Toten auf und stößt auf Spuren einer drei Jahre zurückliegenden Familientragödie, die nicht nur den jungen Sakari in den Wahnsinn getrieben hat, sondern gleich zwei benachbarte Familien hat verzweifeln lassen. Während sowohl der damalige Motorradunfall – der 16-jährige Sakari hatte seine ein Jahr jüngere Freundin Emma aus dem Nachbarhaus unerlaubt auf eine Spritztour mitgenommen, bei der diese zu Tode kam – als auch der aktuelle Todesfall am Brunnen in einer Zeitungsmeldung nur wenige Zeilen in nüchternem Wortlaut ausmachen würden, lässt Wagner in seinem Roman den Kommissar tief in die Träume und Albträume seiner Protagonisten eintauchen und zeigt voller Dramatik, Melancholie und Mitgefühl, wie die Hinterbliebenen beider Familien noch Jahre nach dem Motorradunfall mit der aller Leben verändernden Tragödie umgehen, sie aus dem Bewusstsein verdrängen, um weiterleben zu können, oder haltlos am Schicksal zerbrechen.
Jan Costin Wagners sechster Kimmo-Joentaa-Roman ist wieder kein typischer Kriminalroman. Nicht die Ermittlungsarbeit nach einem Todesfall steht im Vordergrund, sondern die alleingelassenen Menschen, ihre Stimmungen, ihre Verzweiflung, ihre Hoffnung. Wagner schreibt voller Poesie und malerisch in Farben. Blau ist die Farbe der Sehnsucht, des Himmels und der Engel, Gelb steht für Sonne und Leben. Während Sakari als Unfallverursacher auf der Suche nach Emma, seinem Engel, in den Wahnsinn abgleitet und, als Patient ins betreute Wohnen abgeschoben, in seinem Appartement großflächige Landschaftsbilder mit blauem Himmel und gelben Feldern malt und „durch Wände zu gehen“ lernt, wollten seine Eltern Auna und Magnus vergessen und haben mit dem nachgeborenen Sohn Valtteri ein neues Leben begonnen. Leena, die Mutter des damaligen Unfallopfers Emma, kann dagegen nicht loslassen, „tanzt mit dem Tod“, indem sie nachts die Gedenkseite im Internet pflegt. Ihr Ehemann Stefan hat die Familie verlassen und fliegt als Pilot in ein anderes Leben, während der erst elfjährige Sohn David als „Mann im Haus“ für die Mutter und seinen kleinen Bruder Erik sorgen muss. Niemand spürt, dass er auf Dauer damit völlig überfordert ist, unmerklich daran zerbricht und schließlich „die Sonne auslöscht“. Wagners Roman „Sakari lernt, durch Wände zu gehen“ ist kein Krimi, sondern ein psychologisch tiefgreifender, ein ergreifender Roman, der auch nach der letzten Seite noch lange Zeit nachwirkt.