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Veröffentlicht am 15.03.2020

Ein einmaliges, stellenweise aber auch ermüdendes Leseerlebnis!

Schöner als überall
0

"Schöner als überall" ist ein Debüt einer Jungautorin, das es wirklich in sich hat! Diese herrlich schräge, wahrhaftige Geschichte aus dem letzten Jahr habe ich beim Lovelybooks-Adventskalender 2019 gewonnen ...

"Schöner als überall" ist ein Debüt einer Jungautorin, das es wirklich in sich hat! Diese herrlich schräge, wahrhaftige Geschichte aus dem letzten Jahr habe ich beim Lovelybooks-Adventskalender 2019 gewonnen und wurde positiv überrascht. Bestückt mit vielen kleinen Weisheiten, viel Liebe zum Detail und einem scharfen Blick, liest sich die Geschichte sehr klug, an manchen Stellen aber etwas ermüdend und anstrengend. Wer auf der Suche nach einem sehr intensiven Jugendroman über Heimat, Freundschaft, Erwachsenwerden und Aufbruch sucht, wird mit großartiger Tiefe belohnt werden. Wer jedoch auf Romane steht, die von ihrer Handlung getragen werden, wird mit diesem eher verkopften Roman nur wenig anfangen können.


"Mugo kann das gut: Wenn ein Moment feierlich wird, so wichtig eben, dass Musik eingespielt würde, wären wir im Fernsehen, dann sagt sie etwas wie, super filmig, und macht den Moment kaputt."


Die Gestaltung ist mit dem grob gezeichneten, schwarzen Fenchel auf grauem Grund sehr schlicht. Die Autorin erklärt in einem Interview, dass sie genau dieses Motiv ausgewählt hat, weil die Fenchelfelder der Provinz in der Geschichte häufig als Kulisse dienen und sie den Geruch sehr mag. Ich werde von den nach oben abgehenden Strünken, den feinen, haarförmigen Blättern immer an ein anatomisches Herz erinnert und finde die Knolle sehr ästhetisch, auch wenn ich ihren Geschmack nicht besonders mag. Aber zurück zum Thema: neben dem grauen, kartonierten Einband setzen Titel und Autorenname in Blau die einzigen Farbtupfer. Der Titel geht auf ein Zitat von Mugo zurück, die von einem Aussichtspunkt am Regionalbahnhof behauptete: "Hier ist schöner als überall".


Erster Satz: "Unten vor der Tür steht ein Transporter."


Wir beginnen mit der überstürzten Flucht der Freunde Martin und Noah aus München, die nach einer besoffenen Aktion, bei der der Speer der Athene-Statue dran glauben musste, zurück in ihre Heimat fahren. Auch wenn der Klapptext den Begriff "Roadmovie" einwirft, hat die Geschichte außer der Autofahrt zu Beginn wenig mit einer abenteuerlichen Fahrt ins Blaue gemein. Nicht nur dass der Aufbruch der Beiden von Beginn an ein Ziel hat, auch spielt ein Großteil der Handlung in ihrer Heimatprovinz. Nach zwei Jahren wieder zurück zu sein ist für Martin aber nicht ganz so einfach wie für Noah und als er seine Jugendliebe Mugo wieder trifft, beginnt er sein Zuhause mit neuen Augen zu sehen und muss überdenken, was Heimat für ihn wirklich bedeutet...


"Mein Herz schlägt hart gegen den Boden, und ich stelle mir vor, wie daraus ein Erdbeben wird auf der anderen Seite der Welt, und darum drehe ich mich schnell auf den Rücken. So liegen wir da nebeneinander, liegen zusammen in der Hitze, wie wir das jeden Sommer getan haben, und ich sehe uns von oben in diesem Moment und denke, dass das gestern Nacht schon eine dumme Idee war, aber irgendwie auch das genaue Gegenteil davon, weil wir hier einfach wieder wie früher sind. "


Wie ich im kurzen Einleitungstext schon vorgewarnt habe, passiert auf der reinen Handlungsebene original NICHTS. Am See sitzen mit Freunden, mit der Familie Mittagessen, durch die Felder streifen, ein kleines Grillfest - für die spannendste Action wird die Autorin sicher keinen Preis gewinnen. Das bedeutet aber nicht, dass die Geschichte langweilig wäre, das Hauptgeschehen, spielt sich im Kopf des Protagonisten Martin ab. Jede kleinste emotionale Regung wird in Worte gefasst und mit Sprachbildern ausgestaltet, sodass wir auch häufig in sehr zeitdehnenden Szenenbeschreibungen viele kleine Details erleben können.


"Draußen hängt der Himmel tief. Es ist plötzlich viel weniger Platz auf der Erde, weil nach oben so schnell Schluss ist. Alles ist grau, es weht ein schwacher Wind, und die Schwalben schießen durch die Häuserreihen wie Pfeile. So möchte ich auch sein: völlig furchtlos und unaufhaltbar in eine Richtung zielen, aber nie damit scheitern und an einer Hauswand zerbersten."


Ihre Erzählkunst sticht dabei natürlich besonders hervor. Neben den originellen Sprachbildern, beeindruckt die Autorin immer wieder mit ihren scharfen Beobachtungen, die manchmal melancholisch, manchmal tröstlich wie eine Umarmung, manchmal schmerzhaft bissig und manchmal einfach nur unverständlich und seltsam sind. Es waren viele seltsame Regungen dabei, die ich nicht nachvollziehen konnte, aber auch viele Szenen, in denen man sich wiedererkennt. Durch anschauliche Vergleiche finden wir immer wieder Gedanken wieder, die man selbst auch schon hatte, kleine Gefühle, Ideen oder Gedankenblitze, die man nie in Worte hat fassen können, werden hier niedergeschrieben, sodass neben vielen absurden Gedanken auch einige kostbare Weisheiten zu finden sind. Kristin Höller erzählt hier lang und breit von der Schönheit des Banalen und demonstriert, dass auch aus dem Nichts eine atmosphärische, spannende Geschichte entstehen kann.


"Und dann versuche ich es mit einem letzten freundlichen Blick, nur kurz, nur vorsichtig, ein Lächeln ohne Zähne, und dieses Mal ist da dieses Schimmern in ihren Augen, rund um die Iris, und dann rund um den Mund, und das ist ein Gefühl, wie wenn der Himmel aufbricht nach einem Sturmtief, als wäre das Schlimmste vorbei, mehr noch: als könnte nie wieder etwas Schlimmes passieren."


Sehr gewöhnungsbedürftig ist dabei, dass der Roman keine erkennbare wörtliche Rede enthält. Nein im Ernst, ich frage mich das immer wieder: was ist das mit hippen Jugendromanen und der wörtlichen Rede, seufz? Dass Gesprochenes ohne Anführungszeichen oder gestalterische Abhebung in den Fließtext mit eingebettet wird trägt nicht unbedingt zum flüssigen Lesen bei und auch die sehr langen Kapitel ohne erkennbare Abschnitte, steigern den Lese-Comfort nicht gerade. Diese teilweise fast schon Gedankenstrom-artige Erzählweise sorgt jedoch dafür, dass der Leser aufmerksamer lesen und sich intensiver eindenken muss und hat somit auch etwas Gutes: etwas mal nicht in leicht konsumierbaren Häppchen serviert zu bekommen kann man auch als erfrischend anspruchsvoll betrachten.


"Ich stand am Straßenrand, die Füße still, überall das Hämmern des Pulses, mit dem Wissen: Es ist etwas passiert. Ich konnte nicht sagen, was, es war mehr ein Gefühl dafür, eine Linie, fast überschritten, allgegenwärtig in jeder Faser."


Am spannendsten sind jedoch die Charaktere, vor allem die Erzählstimme des 20jährigen Martins hat es mir sehr angetan. Zwischen einem dominanten oder manchmal sogar bis zum Egoismus ignoranten besten Freund und einer von ihm auf ein Podest gestellten Rebellin, die ihre Wut pflegt wie ein Garten, hat Martin sein Leben, Fühlen und Denken immer an anderen ausgerichtet. Als er jedoch beginnt, Noahs Egoismus und Mugos Heuchelei zu sehen, verliert er die Orientierung und muss selbst herausfinden, was ihn ausmacht und er will.


"Mugo findet überall Regeln (…) zum Beispiel dass es zwei Varianten von Liebe gibt, und die sind wie zwei Leuchtmittel: Glühbirnen, die hübsch sind und gleich zu Anfang ganz hell, und Energiesparlampen, die sind hässlich und erst schummrig, aber nach einer Zeit leuchten sie immer mehr und halten ewig. Mugo ist die schlauste Frau, die ich je getroffen habe."


Trotz der als männlich definierten Erzählstimme sind seine Gedanken, Gefühle und sein Verhalten nicht "typisch" männlich oder was wir manchmal dafür halten. Hier erzählt kein Mann, hier erzählt keine Ansammlung an gesellschaftlichen Stereotypen, da erzählt einfach ein sensibler, empfindsamer und orientierungsloser Mensch und genau das verleiht der Erzählstimme ihre Tiefe. Zwischen Enden und Neuanfängen, zwischen Kindlichkeit und Ernsthaftigkeit, zwischen Naivität und Eigenverantwortung, zwischen Einsamkeit und Unabhängigkeit, zwischen Scheitern und Träumen, zwischen Wut und Liebe, zwischen Flucht und Wurzeln - Martin bewegt sich innerhalb der wenigen Seiten in einem Spannungsfeld, dem man dem Überbegriff "Erwachsenwerden" geben könnte und erzählt somit eine ganz besondere Coming-of-Age-Geschichte.


"Das hat sie mir auch mal erklärt: Es gibt Wörter, die nehmen Frauen ihre Bedeutung weg, Wörter wie zickig, schnippisch, hysterisch; bei Männern heißt das immer einfach nur Wut und das klingt nach einem ehrlichen, starken Gefühl."


Auch die anderen Figuren wie seine spießigen aber liebevollen Eltern, der ebenfalls verwirrte Noah, die wütende Mugo, der zierlichen Josef zeigen sich von so unterschiedlichen Seiten, erleben, äußern und rufen in Martin so widersprüchliche Gedanken und Erkenntnisse hervor, dass es schwer ist, sich ein genaues Bild von ihnen zu machen. Doch genau das ist es, wodurch uns Martins Unentschlossenheit und Orientierungslosigkeit verdeutlicht wird: es gibt keine klaren Linien, keine Lager wie "gut und schlecht" und alles besteht aus viel mehr Facetten, als dass man es einfach erklären oder mit wenigen Worten darüber urteilen kann. Der Vorgang des Begreifens, dass selbst im einfachen Kleinstadtleben eine komplexe Schönheit verborgen liegt, wird schmerzhaft und wunderschön geschildert. Ein ganz besonderes Plus sind noch die vielen feministischen Gedanken und kritischen Anspielungen, die manchmal in Nebensätzen versteckt sind. Insgesamt war mir für meinen Geschmack der Erkenntnisprozess aber doch ein wenig zu langgezogen und trotz tiefsinniger Sprache und Figurennäher blieb vieles für mich nicht greifbar, sodass gemischte Gefühle zurückbleiben, in denen aber Bewunderung für die Autorin dominiert.


"Noahs Schwester ist Anwältin in einer großen Firma (…) und alle sprechen davon, wie erfolgreich sie ist, vor allem seit sie ein Kind bekommen hat und dann direkt noch ein zweites. Bei Frauen ist das so, die müssen beides gleichzeitig machen und dabei am besten noch ihre Haare zurückwerfen aus Leichtigkeit, erst dann ist es beeindruckend, weil eins von beidem ist immer irgendwem zu wenig."




Fazit:

Viele kleine Weisheiten, eine beeindruckende Erzählstimme, tiefsinnige Sprache, ein Gedankenstromartiger Aufbau und scharfe Beobachtungen machen diese kluge Geschichte zu einem einmaligen, stellenweise aber auch ermüdenden Leseerlebnis! Diese Coming-of-Age-Geschichte über Heimat, Scheitern, Wut, Freundschaft, Liebe, Aufbruch und Neuanfänge schwankt zwischen "großartig" und "langweilig."

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.03.2020

Ein einmaliges, stellenweise aber auch ermüdendes Leseerlebnis!

Schöner als überall
0

"Schöner als überall" ist ein Debüt einer Jungautorin, das es wirklich in sich hat! Diese herrlich schräge, wahrhaftige Geschichte aus dem letzten Jahr habe ich beim Lovelybooks-Adventskalender 2019 gewonnen ...

"Schöner als überall" ist ein Debüt einer Jungautorin, das es wirklich in sich hat! Diese herrlich schräge, wahrhaftige Geschichte aus dem letzten Jahr habe ich beim Lovelybooks-Adventskalender 2019 gewonnen und wurde positiv überrascht. Bestückt mit vielen kleinen Weisheiten, viel Liebe zum Detail und einem scharfen Blick, liest sich die Geschichte sehr klug, an manchen Stellen aber etwas ermüdend und anstrengend. Wer auf der Suche nach einem sehr intensiven Jugendroman über Heimat, Freundschaft, Erwachsenwerden und Aufbruch sucht, wird mit großartiger Tiefe belohnt werden. Wer jedoch auf Romane steht, die von ihrer Handlung getragen werden, wird mit diesem eher verkopften Roman nur wenig anfangen können.


"Mugo kann das gut: Wenn ein Moment feierlich wird, so wichtig eben, dass Musik eingespielt würde, wären wir im Fernsehen, dann sagt sie etwas wie, super filmig, und macht den Moment kaputt."


Die Gestaltung ist mit dem grob gezeichneten, schwarzen Fenchel auf grauem Grund sehr schlicht. Die Autorin erklärt in einem Interview, dass sie genau dieses Motiv ausgewählt hat, weil die Fenchelfelder der Provinz in der Geschichte häufig als Kulisse dienen und sie den Geruch sehr mag. Ich werde von den nach oben abgehenden Strünken, den feinen, haarförmigen Blättern immer an ein anatomisches Herz erinnert und finde die Knolle sehr ästhetisch, auch wenn ich ihren Geschmack nicht besonders mag. Aber zurück zum Thema: neben dem grauen, kartonierten Einband setzen Titel und Autorenname in Blau die einzigen Farbtupfer. Der Titel geht auf ein Zitat von Mugo zurück, die von einem Aussichtspunkt am Regionalbahnhof behauptete: "Hier ist schöner als überall".


Erster Satz: "Unten vor der Tür steht ein Transporter."


Wir beginnen mit der überstürzten Flucht der Freunde Martin und Noah aus München, die nach einer besoffenen Aktion, bei der der Speer der Athene-Statue dran glauben musste, zurück in ihre Heimat fahren. Auch wenn der Klapptext den Begriff "Roadmovie" einwirft, hat die Geschichte außer der Autofahrt zu Beginn wenig mit einer abenteuerlichen Fahrt ins Blaue gemein. Nicht nur dass der Aufbruch der Beiden von Beginn an ein Ziel hat, auch spielt ein Großteil der Handlung in ihrer Heimatprovinz. Nach zwei Jahren wieder zurück zu sein ist für Martin aber nicht ganz so einfach wie für Noah und als er seine Jugendliebe Mugo wieder trifft, beginnt er sein Zuhause mit neuen Augen zu sehen und muss überdenken, was Heimat für ihn wirklich bedeutet...


"Mein Herz schlägt hart gegen den Boden, und ich stelle mir vor, wie daraus ein Erdbeben wird auf der anderen Seite der Welt, und darum drehe ich mich schnell auf den Rücken. So liegen wir da nebeneinander, liegen zusammen in der Hitze, wie wir das jeden Sommer getan haben, und ich sehe uns von oben in diesem Moment und denke, dass das gestern Nacht schon eine dumme Idee war, aber irgendwie auch das genaue Gegenteil davon, weil wir hier einfach wieder wie früher sind. "


Wie ich im kurzen Einleitungstext schon vorgewarnt habe, passiert auf der reinen Handlungsebene original NICHTS. Am See sitzen mit Freunden, mit der Familie Mittagessen, durch die Felder streifen, ein kleines Grillfest - für die spannendste Action wird die Autorin sicher keinen Preis gewinnen. Das bedeutet aber nicht, dass die Geschichte langweilig wäre, das Hauptgeschehen, spielt sich im Kopf des Protagonisten Martin ab. Jede kleinste emotionale Regung wird in Worte gefasst und mit Sprachbildern ausgestaltet, sodass wir auch häufig in sehr zeitdehnenden Szenenbeschreibungen viele kleine Details erleben können.


"Draußen hängt der Himmel tief. Es ist plötzlich viel weniger Platz auf der Erde, weil nach oben so schnell Schluss ist. Alles ist grau, es weht ein schwacher Wind, und die Schwalben schießen durch die Häuserreihen wie Pfeile. So möchte ich auch sein: völlig furchtlos und unaufhaltbar in eine Richtung zielen, aber nie damit scheitern und an einer Hauswand zerbersten."


Ihre Erzählkunst sticht dabei natürlich besonders hervor. Neben den originellen Sprachbildern, beeindruckt die Autorin immer wieder mit ihren scharfen Beobachtungen, die manchmal melancholisch, manchmal tröstlich wie eine Umarmung, manchmal schmerzhaft bissig und manchmal einfach nur unverständlich und seltsam sind. Es waren viele seltsame Regungen dabei, die ich nicht nachvollziehen konnte, aber auch viele Szenen, in denen man sich wiedererkennt. Durch anschauliche Vergleiche finden wir immer wieder Gedanken wieder, die man selbst auch schon hatte, kleine Gefühle, Ideen oder Gedankenblitze, die man nie in Worte hat fassen können, werden hier niedergeschrieben, sodass neben vielen absurden Gedanken auch einige kostbare Weisheiten zu finden sind. Kristin Höller erzählt hier lang und breit von der Schönheit des Banalen und demonstriert, dass auch aus dem Nichts eine atmosphärische, spannende Geschichte entstehen kann.


"Und dann versuche ich es mit einem letzten freundlichen Blick, nur kurz, nur vorsichtig, ein Lächeln ohne Zähne, und dieses Mal ist da dieses Schimmern in ihren Augen, rund um die Iris, und dann rund um den Mund, und das ist ein Gefühl, wie wenn der Himmel aufbricht nach einem Sturmtief, als wäre das Schlimmste vorbei, mehr noch: als könnte nie wieder etwas Schlimmes passieren."


Sehr gewöhnungsbedürftig ist dabei, dass der Roman keine erkennbare wörtliche Rede enthält. Nein im Ernst, ich frage mich das immer wieder: was ist das mit hippen Jugendromanen und der wörtlichen Rede, seufz? Dass Gesprochenes ohne Anführungszeichen oder gestalterische Abhebung in den Fließtext mit eingebettet wird trägt nicht unbedingt zum flüssigen Lesen bei und auch die sehr langen Kapitel ohne erkennbare Abschnitte, steigern den Lese-Comfort nicht gerade. Diese teilweise fast schon Gedankenstrom-artige Erzählweise sorgt jedoch dafür, dass der Leser aufmerksamer lesen und sich intensiver eindenken muss und hat somit auch etwas Gutes: etwas mal nicht in leicht konsumierbaren Häppchen serviert zu bekommen kann man auch als erfrischend anspruchsvoll betrachten.


"Ich stand am Straßenrand, die Füße still, überall das Hämmern des Pulses, mit dem Wissen: Es ist etwas passiert. Ich konnte nicht sagen, was, es war mehr ein Gefühl dafür, eine Linie, fast überschritten, allgegenwärtig in jeder Faser."


Am spannendsten sind jedoch die Charaktere, vor allem die Erzählstimme des 20jährigen Martins hat es mir sehr angetan. Zwischen einem dominanten oder manchmal sogar bis zum Egoismus ignoranten besten Freund und einer von ihm auf ein Podest gestellten Rebellin, die ihre Wut pflegt wie ein Garten, hat Martin sein Leben, Fühlen und Denken immer an anderen ausgerichtet. Als er jedoch beginnt, Noahs Egoismus und Mugos Heuchelei zu sehen, verliert er die Orientierung und muss selbst herausfinden, was ihn ausmacht und er will.


"Mugo findet überall Regeln (…) zum Beispiel dass es zwei Varianten von Liebe gibt, und die sind wie zwei Leuchtmittel: Glühbirnen, die hübsch sind und gleich zu Anfang ganz hell, und Energiesparlampen, die sind hässlich und erst schummrig, aber nach einer Zeit leuchten sie immer mehr und halten ewig. Mugo ist die schlauste Frau, die ich je getroffen habe."


Trotz der als männlich definierten Erzählstimme sind seine Gedanken, Gefühle und sein Verhalten nicht "typisch" männlich oder was wir manchmal dafür halten. Hier erzählt kein Mann, hier erzählt keine Ansammlung an gesellschaftlichen Stereotypen, da erzählt einfach ein sensibler, empfindsamer und orientierungsloser Mensch und genau das verleiht der Erzählstimme ihre Tiefe. Zwischen Enden und Neuanfängen, zwischen Kindlichkeit und Ernsthaftigkeit, zwischen Naivität und Eigenverantwortung, zwischen Einsamkeit und Unabhängigkeit, zwischen Scheitern und Träumen, zwischen Wut und Liebe, zwischen Flucht und Wurzeln - Martin bewegt sich innerhalb der wenigen Seiten in einem Spannungsfeld, dem man dem Überbegriff "Erwachsenwerden" geben könnte und erzählt somit eine ganz besondere Coming-of-Age-Geschichte.


"Das hat sie mir auch mal erklärt: Es gibt Wörter, die nehmen Frauen ihre Bedeutung weg, Wörter wie zickig, schnippisch, hysterisch; bei Männern heißt das immer einfach nur Wut und das klingt nach einem ehrlichen, starken Gefühl."


Auch die anderen Figuren wie seine spießigen aber liebevollen Eltern, der ebenfalls verwirrte Noah, die wütende Mugo, der zierlichen Josef zeigen sich von so unterschiedlichen Seiten, erleben, äußern und rufen in Martin so widersprüchliche Gedanken und Erkenntnisse hervor, dass es schwer ist, sich ein genaues Bild von ihnen zu machen. Doch genau das ist es, wodurch uns Martins Unentschlossenheit und Orientierungslosigkeit verdeutlicht wird: es gibt keine klaren Linien, keine Lager wie "gut und schlecht" und alles besteht aus viel mehr Facetten, als dass man es einfach erklären oder mit wenigen Worten darüber urteilen kann. Der Vorgang des Begreifens, dass selbst im einfachen Kleinstadtleben eine komplexe Schönheit verborgen liegt, wird schmerzhaft und wunderschön geschildert. Ein ganz besonderes Plus sind noch die vielen feministischen Gedanken und kritischen Anspielungen, die manchmal in Nebensätzen versteckt sind. Insgesamt war mir für meinen Geschmack der Erkenntnisprozess aber doch ein wenig zu langgezogen und trotz tiefsinniger Sprache und Figurennäher blieb vieles für mich nicht greifbar, sodass gemischte Gefühle zurückbleiben, in denen aber Bewunderung für die Autorin dominiert.


"Noahs Schwester ist Anwältin in einer großen Firma (…) und alle sprechen davon, wie erfolgreich sie ist, vor allem seit sie ein Kind bekommen hat und dann direkt noch ein zweites. Bei Frauen ist das so, die müssen beides gleichzeitig machen und dabei am besten noch ihre Haare zurückwerfen aus Leichtigkeit, erst dann ist es beeindruckend, weil eins von beidem ist immer irgendwem zu wenig."




Fazit:

Viele kleine Weisheiten, eine beeindruckende Erzählstimme, tiefsinnige Sprache, ein Gedankenstromartiger Aufbau und scharfe Beobachtungen machen diese kluge Geschichte zu einem einmaligen, stellenweise aber auch ermüdenden Leseerlebnis! Diese Coming-of-Age-Geschichte über Heimat, Scheitern, Wut, Freundschaft, Liebe, Aufbruch und Neuanfänge schwankt zwischen "großartig" und "langweilig."

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.03.2020

Eine beeindruckende Geschichte über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...

Das Jahr in der Box
0

Als ich begonnen habe, meine Rezension zu schreiben, war ich total geschockt, dass noch nirgends über dieses Buch geredet wird, noch nicht mal auf Instagram. Keine einzige Rezension auf Amazon, keine Kurzmeinung ...

Als ich begonnen habe, meine Rezension zu schreiben, war ich total geschockt, dass noch nirgends über dieses Buch geredet wird, noch nicht mal auf Instagram. Keine einzige Rezension auf Amazon, keine Kurzmeinung auf Lovelybooks, nicht mal eingetragen auf Goodreads (dank mir jetzt schon, gern geschehen, Carlsen Verlag!) und das obwohl der Roman schon am 5. März erschienen und überall zu kaufen ist. Dass ich mich mittlerweile fühle, als sei ich der einzige Mensch, der diese Geschichte schon gelesen hat macht mich sehr traurig, denn "Das Jahr in der Box" ist ein beeindruckender Jugendroman über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...

Das Cover ist wirklich toll und einfallsreich gestaltet. Unter dem hellen Umschlag ist das relativ dünne Büchlein dunkelblau und auch innerhalb der Buchdeckel ist die Gestaltung eher schlicht und unauffällig. Vorn auf dem Umschlag zusehen sind neben den überdimensionalen, ausfüllenden Buchstaben des Titels einzelne Gegenstände aus Pauls Box, die zusammengenommen eine Geschichte von einem ereignisreichen, prägenden Jahr erzählen, auf das wir nun zusammen mit dem Protagonisten Paul zurückblicken. Deshalb hätten Autor und Verlag auch keinen passenderen Titel für diese Geschichte finden können.


Erster Satz: "Die Box ist ungefähr so groß wie ein Schuhkarton"


Was ein kaputtes IPhone, eine Sonnenbrille, ein Kondom, eine Dose Mentos, ein rotes Armband, ein Stapel Kinokarten, eine Pizza-Speise-Karte, ein Bierdeckel mit einer Strichliste, ein Programmflyer der Theater-AG, eine Superhelden-Kurzgeschichte und ein Springmesser gemeinsam haben, erfahren wir erst nach und nach. Jedem Gegenstand in der Box wird ein Kapitel gewidmet, indem Paul sich an die Szenen erinnert, die er mit dem Gegenstand verbindet. Auf diese Weise ist es dem Autor erlaubt, gezielte Zeitsprünge zu wichtigen Ereignissen zu unternehmen und uns Schritt für Schritt zu erzählen, was im letzten Jahr in Pauls Leben passiert ist. Wir erleben große Entwicklungen, zum Bespiel wie drei Außenseiter (oder auch genannt MoFs) langsam Freunde werden, wie sie sich zusammen den fiesen Attacken und Anfeindungen der sogenannten "Wicker Crew" um Kotzbrocken Wieland und seinen Schlägerfreund Glotz stellen müssen, wie sich Paul zum ersten Mal verliebt. Wir lesen aber auch von ganz normalen Momenten aus dem Leben eines Teenagers wie Computer-Matches unter Freunden, Schulpartys, Mathe-Unterricht, Hausarrest und nächtlichen Abenteuern. Dabei nähern wir uns auf der zeitlichen Ebene immer weiter dem Tag X, an dem einer von ihnen tragisch zu Tode kommen wird. Dass es zu einem solchen Ende kommen wird, wissen wir schon von Beginn an aus den Kapiteln der Jetzt-Ebene, die mit "Heute" betitelt wurden. Auch wenn durch die zweigeteilte Erzählweise viel vorweg genommen wurde, bleibt offen: wer, wann, wie und warum? Und so stellen wir uns zusammen mit Paul den harten aber auch wichtigen Erinnerungen und angestauten Gefühlen, mit denen er sich am Tag des Umzugs endlich befassen muss und finden so heraus, was passiert ist...

Durch die Andeutungen und Vorgriffe, die Michael Sieben gekonnt einstreut, wird gerade so viel Information preisgegeben, um den Leser neugierig zu machen. Dieses geschickte Spielen mit der Zeit ist neben der sich im Verlauf der Geschichte immer mehr herausbildenden dunklen Vorahnung, die einen beschleicht der Hauptgrund, warum die Geschichte immer spannend bleibt. Zu einem späteren Zeitpunkt beginnt auch die Handlung auf der Jetzt-Ebene sich selbstständig zu entwickeln und für Dynamik zu sorgen. Ein weiterer Punkt, der diese Geschichte so reich und spannend macht, ist, dass in diesem dünnen Büchlein so viel an Inhalt enthalten ist. Hier geht es um Freundschaft, Mobbing, Nerdkultur, Kleinstadtleben, Sexismus, Armut, alltägliche Herausforderungen und in erster Linie um die überraschend echten Gedanken und Gefühle eines Teenagers, der vielleicht ein bisschen mehr mitmachen musste, als der Durchschnitt, sonst aber jeder von uns sein könnte. Ständig dachte ich bei einer Szene, bei einem Gefühl "ja genau" und war von der leisen Weisheit beeindruckt, die sich hierin versteckt ohne sich jeweils altklug zu zeigen.

Allgemein hat mir der Schreibstil des Autors sehr gut gefallen, da man hier die angestaute jugendliche Energie der Protagonisten wunderbar nachfühlen kann. Michael Sieben schreibt erfrischend, humorvoll, bildreich - schlicht aber träumerisch schildert er Situationen greifbar real und versteckt auch immer wieder ein wenig Ironie zwischen den traurigen Momenten. Trotz der ernsten Thematik schafft es der Autor ab und zu durch trockenen Humor, wunderschöne philosophische Sätzen und eine ruhige, angedeutete Liebesgeschichte, die sich aber hier eher am Rand abspielt, aufzulockern. Etwas gewöhnungsbedürftig ist nur die fehlende wörtliche Rede in den Gegenwart-Szenen, die durch Halbsätze und Spiegelstriche ersetzt wurden. Ich weiß nicht was das immer ist mit hippen Jugendromanen und wörtlicher Rede (siehe "tschick" oder "Schöner als überall")… Ansonsten trifft der Autor genau den Ton der Jugendlichen und man nimmt den Protagonisten man ihre Jugendsprache, ihre Gefühle und ihre Denkweise ab, was absolut nicht selbstverständlich ist und bei vielen anderen Autoren schon daneben gegangen ist (zum Beispiel bei einem der zuvor genannten Bücher, ich denke ihr findet schnell raus welches ich meine ^^). "Das Jahr in der Box" ist ungezwungen erzählt aber nicht flapsig, teilweise ungewöhnlich aber nicht unrealistisch, auf nette Weise schräg aber nicht konfus und allgemein so voller witziger, glücklicher aber auch trauriger, tragischer Momente, dass man es einfach lieben muss.

Das Kernstück der Geschichte ist hier aber -wie so oft- die Vielfalt an skurriler aber liebenswerter Protagonisten. Natürlich ist da der Protagonist Paul, der das gesamte U-Bahn-Netz von Berlin auswendig weiß, Superhelden-Geschichten schreibt, in denen er die Gedanken anderer lesen und kontrollieren kann, in seiner neuen Klasse aber aufgrund eines misslungenen Nasen-Spruchs auf der Abschussliste steht und jeden Tag Grausamkeiten ertragen muss, die weit über peinliche Spitznamen und Hänseleien hinausgehen. Zu seiner beziehungsunfähigen Oberarzt-Mutter Bille hat er eigentlich ein gutes Verhältnis, er will sie nur nicht noch mehr belasten und behält deshalb vieles für sich. Als er langsam mehr Kontakt zu dem übergewichtigen Mehmet knüpft, der ihn als einziges wie ein Mensch behandelt und auch der kleine, schmächtige Ken mit der großen Klappe für ihn einsteht, beginnt sich seine Lage zu verbessern. Wie aus den drei komplett unterschiedlichen Außenseitern Freunde werden, ist wirklich schön mitanzusehen. Mit Wieland und Glotz und deren Clique haben die drei einen harten Gegner. Gut dass ihnen auch Kens Cousine Mara zur Seite steht, die nachts als "Wicker City Queen" feministische Botschaften auf Hauswänden hinterlässt.

Das Ende kam für mich trotz einiger Andeutungen relativ überraschend und findet einen runden Abschluss für die Geschichte, sodass wir Paul guten Gewissens auf seinem weiteren Weg alleine lassen können.


Fazit:


"Das Jahr in der Box" ist ungezwungen erzählt, aber nicht flapsig, teilweise ungewöhnlich aber nicht unrealistisch, auf nette Weise schräg aber nicht konfus und allgemein so voller witziger, glücklicher aber auch trauriger, tragischer Momente, dass man es einfach lieben muss. Eine beeindruckende Geschichte über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...

Veröffentlicht am 12.03.2020

Eine beeindruckende Geschichte über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...

Das Jahr in der Box
0

Als ich begonnen habe, meine Rezension zu schreiben, war ich total geschockt, dass noch nirgends über dieses Buch geredet wird, noch nicht mal auf Instagram. Keine einzige Rezension auf Amazon, keine Kurzmeinung ...

Als ich begonnen habe, meine Rezension zu schreiben, war ich total geschockt, dass noch nirgends über dieses Buch geredet wird, noch nicht mal auf Instagram. Keine einzige Rezension auf Amazon, keine Kurzmeinung auf Lovelybooks, nicht mal eingetragen auf Goodreads (dank mir jetzt schon, gern geschehen, Carlsen Verlag!) und das obwohl der Roman schon am 5. März erschienen und überall zu kaufen ist. Dass ich mich mittlerweile fühle, als sei ich der einzige Mensch, der diese Geschichte schon gelesen hat macht mich sehr traurig, denn "Das Jahr in der Box" ist ein beeindruckender Jugendroman über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...

Das Cover ist wirklich toll und einfallsreich gestaltet. Unter dem hellen Umschlag ist das relativ dünne Büchlein dunkelblau und auch innerhalb der Buchdeckel ist die Gestaltung eher schlicht und unauffällig. Vorn auf dem Umschlag zusehen sind neben den überdimensionalen, ausfüllenden Buchstaben des Titels einzelne Gegenstände aus Pauls Box, die zusammengenommen eine Geschichte von einem ereignisreichen, prägenden Jahr erzählen, auf das wir nun zusammen mit dem Protagonisten Paul zurückblicken. Deshalb hätten Autor und Verlag auch keinen passenderen Titel für diese Geschichte finden können.


Erster Satz: "Die Box ist ungefähr so groß wie ein Schuhkarton"


Was ein kaputtes IPhone, eine Sonnenbrille, ein Kondom, eine Dose Mentos, ein rotes Armband, ein Stapel Kinokarten, eine Pizza-Speise-Karte, ein Bierdeckel mit einer Strichliste, ein Programmflyer der Theater-AG, eine Superhelden-Kurzgeschichte und ein Springmesser gemeinsam haben, erfahren wir erst nach und nach. Jedem Gegenstand in der Box wird ein Kapitel gewidmet, indem Paul sich an die Szenen erinnert, die er mit dem Gegenstand verbindet. Auf diese Weise ist es dem Autor erlaubt, gezielte Zeitsprünge zu wichtigen Ereignissen zu unternehmen und uns Schritt für Schritt zu erzählen, was im letzten Jahr in Pauls Leben passiert ist. Wir erleben große Entwicklungen, zum Bespiel wie drei Außenseiter (oder auch genannt MoFs) langsam Freunde werden, wie sie sich zusammen den fiesen Attacken und Anfeindungen der sogenannten "Wicker Crew" um Kotzbrocken Wieland und seinen Schlägerfreund Glotz stellen müssen, wie sich Paul zum ersten Mal verliebt. Wir lesen aber auch von ganz normalen Momenten aus dem Leben eines Teenagers wie Computer-Matches unter Freunden, Schulpartys, Mathe-Unterricht, Hausarrest und nächtlichen Abenteuern. Dabei nähern wir uns auf der zeitlichen Ebene immer weiter dem Tag X, an dem einer von ihnen tragisch zu Tode kommen wird. Dass es zu einem solchen Ende kommen wird, wissen wir schon von Beginn an aus den Kapiteln der Jetzt-Ebene, die mit "Heute" betitelt wurden. Auch wenn durch die zweigeteilte Erzählweise viel vorweg genommen wurde, bleibt offen: wer, wann, wie und warum? Und so stellen wir uns zusammen mit Paul den harten aber auch wichtigen Erinnerungen und angestauten Gefühlen, mit denen er sich am Tag des Umzugs endlich befassen muss und finden so heraus, was passiert ist...

Durch die Andeutungen und Vorgriffe, die Michael Sieben gekonnt einstreut, wird gerade so viel Information preisgegeben, um den Leser neugierig zu machen. Dieses geschickte Spielen mit der Zeit ist neben der sich im Verlauf der Geschichte immer mehr herausbildenden dunklen Vorahnung, die einen beschleicht der Hauptgrund, warum die Geschichte immer spannend bleibt. Zu einem späteren Zeitpunkt beginnt auch die Handlung auf der Jetzt-Ebene sich selbstständig zu entwickeln und für Dynamik zu sorgen. Ein weiterer Punkt, der diese Geschichte so reich und spannend macht, ist, dass in diesem dünnen Büchlein so viel an Inhalt enthalten ist. Hier geht es um Freundschaft, Mobbing, Nerdkultur, Kleinstadtleben, Sexismus, Armut, alltägliche Herausforderungen und in erster Linie um die überraschend echten Gedanken und Gefühle eines Teenagers, der vielleicht ein bisschen mehr mitmachen musste, als der Durchschnitt, sonst aber jeder von uns sein könnte. Ständig dachte ich bei einer Szene, bei einem Gefühl "ja genau" und war von der leisen Weisheit beeindruckt, die sich hierin versteckt ohne sich jeweils altklug zu zeigen.

Allgemein hat mir der Schreibstil des Autors sehr gut gefallen, da man hier die angestaute jugendliche Energie der Protagonisten wunderbar nachfühlen kann. Michael Sieben schreibt erfrischend, humorvoll, bildreich - schlicht aber träumerisch schildert er Situationen greifbar real und versteckt auch immer wieder ein wenig Ironie zwischen den traurigen Momenten. Trotz der ernsten Thematik schafft es der Autor ab und zu durch trockenen Humor, wunderschöne philosophische Sätzen und eine ruhige, angedeutete Liebesgeschichte, die sich aber hier eher am Rand abspielt, aufzulockern. Etwas gewöhnungsbedürftig ist nur die fehlende wörtliche Rede in den Gegenwart-Szenen, die durch Halbsätze und Spiegelstriche ersetzt wurden. Ich weiß nicht was das immer ist mit hippen Jugendromanen und wörtlicher Rede (siehe "tschick" oder "Schöner als überall")… Ansonsten trifft der Autor genau den Ton der Jugendlichen und man nimmt den Protagonisten man ihre Jugendsprache, ihre Gefühle und ihre Denkweise ab, was absolut nicht selbstverständlich ist und bei vielen anderen Autoren schon daneben gegangen ist (zum Beispiel bei einem der zuvor genannten Bücher, ich denke ihr findet schnell raus welches ich meine ^^). "Das Jahr in der Box" ist ungezwungen erzählt aber nicht flapsig, teilweise ungewöhnlich aber nicht unrealistisch, auf nette Weise schräg aber nicht konfus und allgemein so voller witziger, glücklicher aber auch trauriger, tragischer Momente, dass man es einfach lieben muss.

Das Kernstück der Geschichte ist hier aber -wie so oft- die Vielfalt an skurriler aber liebenswerter Protagonisten. Natürlich ist da der Protagonist Paul, der das gesamte U-Bahn-Netz von Berlin auswendig weiß, Superhelden-Geschichten schreibt, in denen er die Gedanken anderer lesen und kontrollieren kann, in seiner neuen Klasse aber aufgrund eines misslungenen Nasen-Spruchs auf der Abschussliste steht und jeden Tag Grausamkeiten ertragen muss, die weit über peinliche Spitznamen und Hänseleien hinausgehen. Zu seiner beziehungsunfähigen Oberarzt-Mutter Bille hat er eigentlich ein gutes Verhältnis, er will sie nur nicht noch mehr belasten und behält deshalb vieles für sich. Als er langsam mehr Kontakt zu dem übergewichtigen Mehmet knüpft, der ihn als einziges wie ein Mensch behandelt und auch der kleine, schmächtige Ken mit der großen Klappe für ihn einsteht, beginnt sich seine Lage zu verbessern. Wie aus den drei komplett unterschiedlichen Außenseitern Freunde werden, ist wirklich schön mitanzusehen. Mit Wieland und Glotz und deren Clique haben die drei einen harten Gegner. Gut dass ihnen auch Kens Cousine Mara zur Seite steht, die nachts als "Wicker City Queen" feministische Botschaften auf Hauswänden hinterlässt.

Das Ende kam für mich trotz einiger Andeutungen relativ überraschend und findet einen runden Abschluss für die Geschichte, sodass wir Paul guten Gewissens auf seinem weiteren Weg alleine lassen können.


Fazit:


"Das Jahr in der Box" ist ungezwungen erzählt, aber nicht flapsig, teilweise ungewöhnlich aber nicht unrealistisch, auf nette Weise schräg aber nicht konfus und allgemein so voller witziger, glücklicher aber auch trauriger, tragischer Momente, dass man es einfach lieben muss. Eine beeindruckende Geschichte über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...

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Veröffentlicht am 27.02.2020

Auf nette Weise schräg, einfach zuckersüß und deshalb etwas Besonderes.

Halte mich. Hier (Finde-mich-Reihe 2)
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Dieses Buch habe ich mir von einer bücherbegeisterten Freundin ausgeliehen ohne zu wissen, dass es sich hier eigentlich um den zweiten Teil einer Reihe handelt. Da es bei der Trilogie jedoch um drei verschiedene ...

Dieses Buch habe ich mir von einer bücherbegeisterten Freundin ausgeliehen ohne zu wissen, dass es sich hier eigentlich um den zweiten Teil einer Reihe handelt. Da es bei der Trilogie jedoch um drei verschiedene Pärchen geht und die Geschichten deshalb nur lose zusammenhängen, war das kein großes Problem. Jetzt kenne ich neben Malik und Zelda schon Rhys und Tamsins Happy End, was mich aber nicht davon abhalten wird, ihre Geschichte auch noch zu lesen. Auch die Protagonisten des dritten Teils - Sam und Amy - lernen wir hier schon kennen. Diese Machart der New Adult-Reihe ist ja nicht unbedingt ein Alleinstellungsmerkmal, besonders ist an dieser Reihe jedoch, dass es in allen drei Fällen in erster Linie um einen Neuanfang und die heilende Kraft der Liebe geht, die sich über alle Unterschiede und Hindernisse hinwegsetzt. Passend dazu trägt die Reihe auch den Klangvollen Beinamen "Believe in Seconds Chances".


Zelda:
"Du bist niemand für irgendwelche Arrangements. Du bist jemand für hundert Prozent. Für alles oder nichts. Du musst dir sicher sein." Nach einem kurzen Moment sagt er: "Auch mit mir." (…) "Ich will das Hier und das Jetzt und das Alles."


Die Cover der Reihe sind aufeinander abgestimmt, sodass die drei Bände nebeneinander liegend zusammen ein Unendlichkeitszeichen ergeben. Dazu passend sind auch die Titel so gewählt, dass sie in Kombination zueinander passen und "Finde mich. Halte mich. Liebe mich. Jetzt. Hier. Für immer" ergeben. Wenn man jedoch nur ein Einzelband ohne die anderen Teile betrachtet, wirken Titel und Cover etwas seltsam - eben unvollständig. Ich finde die Idee grundsätzlich wirklich klasse - als Einzelwerk wenn man sich nicht auf den Gesamteindruck konzentriert, sind mir die glitzernde Bögen und der bunte, Wasserfarbenverlauf im Hintergrund aber zu kitschig und nichtssagend. Sehr nett finde ich wiederum die kurzen Steckbriefe zu den zwei Hauptprotagonisten in den Leselaschen und die kleinen Unendlichkeitszeichen inklusive Name an den Kapitelanfängen, welche angeben, aus welcher Perspektive gerade erzählt wird. Interessant ist auch der angefügte "Werkstattbericht" am Ende, der einen kurzen Einblick in Kathinka Engels Leben als Autorin gewährt. Auch wenn ich das Cover an sich also nicht unbedingt umwerfend finde, ist die Gestaltung des Piper Verlags als Ganzes wirklich sehr detailgetreu und liebevoll ausgearbeitet!


Erster Satz: "Eine blonde Perücke überdeckt meine leuchtend pinken Haare."


Mit diesem Satz lernen wir die chaotische, spontane, lebenslustige Zelda kennen, die eine Art Doppelleben führt. Unter der Woche lebt sie in einer gemütlichen WG, studiert verrückt in der Gegend herum, trägt bunte Klamotten, pinke Haare und drückt ihre Laune durch ihren Nagellack aus. Doch am Wochenende zwingt sie sich in ein knappes Designerkleid, trägt eine blonde Perücke, überschminkt ihre kessen Sommersprossen und lässt sich in der Welt der Reichen und Schönen von potentiellen Heiratskandidaten langweilen. Denn die Unterstützung ihrer reichen Eltern bei ihrem Studium hat ihren Preis: sie soll endlich dazugehören und den Namen der Familie durch eine gute Heirat glänzen lassen, wenn sie schon nicht wie ihre Brüder Jura studieren will. Malik hat dagegen ganz andere Probleme. Trotz seiner Vergangenheit im Gefängnis erfährt er von seiner großen Familie Unterstützung und Rückhalt, welche er auch unbedingt notwendig hat, um mit den rassistischen Anfeindungen und Vorurteilen umgehen zu können, mit denen er sich tagtäglich konfrontiert sieht. Als die beiden sich bei einem Wochenende mit Freunden näher kommen, treffen zwei völlig unterschiedliche Welten aufeinander - kann ihre Liebe die Hindernisse überwinden?


Malik:
"Es ist ein absolut authentisches Tanzen, das ich so noch nie von irgendjemandem gesehen habe. In ihren gelben Leggins und den schwarzen Hotpants ist sie so sehr sie selbst, wie man es nur sein kann. Das ist Zelda. Als sich der Song kurz verlangsamt, breitet sie die Arme aus. Es sieht aus, als würde sie fliegen."



So beginnt eine berührende Geschichte über Rassismus, Vorurteile, Träume, Liebe, Freundschaft und den Kampf, der es manchmal darstellt, den eigenen Weg zu finden. Dass die Geschichte mit knapp 400 Seiten nicht besonders lang ist, bemerkt man vor allem am Anfang, als ganz plötzlich wie aus dem Nichts Gefühle in den Beiden aufkommen, die man zu Beginn nicht ganz nachvollziehen kann. Dann geht es jedoch so süß und herzergreifend weiter, dass man der Geschichte diesen Schnitzer gerne verzeiht. Mir hat sehr gut gefallen, dass wir hier viel mehr Gefühl, bunte Lebensfreude und ein viel authentischerer Hintergrund erhalten als in anderen meist oberflächlichen Büchern des Genres. Hier geht es endlich mal nicht nur um heiße Leidenschaft und anziehende Protagonisten mit sexualisierten Gedanken und großem Lebenstraumata, sondern um zwei Protagonisten die einfach unfassbar süß zusammen sind und gut als Paar funktionieren auch wenn ihre Welten scheinbar nicht kompatibel sind. Auch wenn wir weder von bahnbrechend neuen Ideen lesen noch wirklich vom typischen Ablauf abweichen, ist die Story um Zelda und Malik auf nette Weise schräg, einfach zuckersüß und deshalb etwas Besonderes.


Zelda:
"Auf dich", sagt er. "Darauf dass du mir den Atem raubst."
Ich werde rot. Spüre unseren Kuss wieder auf meinen Lippen. "Auf dich", erwidere ich leise. "Und darauf, dass ich dir beibringen werde, ohne Luft zu leben."



In die sympathischen, (wenn auch recht eigenwillige) Protagonisten, die abwechselnd aus ihrer Perspektive erzählen dürfen, habe ich mich sofort verliebt. Malik, der für seinen Traum alles geben würde aber mit zahlreichen Hürden zu kämpfen hat, wuchs mir mit seiner zerbrechlichen und warmherzigen Teddybär-Art sofort ans Herz. Ein weiterer Pluspunkt konnte er dadurch sammeln, dass er trotz seiner Vergangenheit weder ein Bad Boy ist, noch dunkle Geheimnisse verbirgt sondern einfach nett und süß ist - was in diesem Genre zu einer wirklichen Seltenheit geworden ist. Zelda ist der verborgene Star der Geschichte: unangepasst, stur, spontan, kunterbunt-chaotisch und ein wahrer Sonnenschein - solch ein Mädchen will doch jeder als beste Freundin haben Auch wenn sie oft am Rande der Glaubwürdigkeit tanzt, ist sie auf liebenswerte Weise verrückt, dass man sie einfach lieben muss! Einzig Zeldas Familie erscheint an vielen Stellen ein wenig überzogen und bleibt im Gegensatz zu anderen Nebenprotagonisten eindimensional und blass der "Antagonist" der Geschichte. So verbohrt, unsympathisch und gemein kann man doch gar nicht sein, wenn man so eine weltoffene Tochter groß gezogen hat, oder?


Malik:
"Der Rhythmus beruhigt mich, ruft mir in Erinnerung, wer ich bin und wer ich nicht mehr sein will. Nie wieder sein will. Ein Spielball meiner Herkunft. Opfer meiner eigenen Dummheit. Umgeben von einem dunklen Nebel, der mir jede Energie nimmt und mich zu verschlucken droht. Ich habe mir fest vorgenommen, nicht mehr mit mir selbst zu hadern. Meine Familie soll nichts als stolz auf mich sein. Und deswegen bin ich hier. Entschieden."


Das Ende gefiel mir ebenfalls sehr gut da es nicht mit Glitzer um sich geworfen hat, wie man das leider auch viel zu oft liest. Es gibt keine überstürzte Heirat, ein Prolog mit Kindern und Co und auch ansonsten wird alles herrlich offen gelassen. Gefällt mir!
Jetzt bin ich natürlich gespannt auf die anderen Teile der Reihe, die ich definitiv auch lesen will!


Malik:
"Ich...", beginne ich und mache einen Schritt auf sie zu. "Du..." Ich dränge sie gegen die Wand. Das ist eine so dumme Idee. Es ist die dümmste Idee, seit ich angefangen habe, Ideen zu haben. Es ist riskant. Es widerspricht jedem Plan, den ich jemals für mich gefasst habe. Und doch fühlt es sich an, als wäre es das einzig Richtige. Als könnte nur Zelda mich ganz machen. Als wäre ich nur ich selbst, wenn sie in meiner Nähe ist. Als wäre dort, wo sie ist, mein Zuhause."



Fazit:


Auch wenn wir weder von bahnbrechend neuen Ideen lesen, noch wirklich vom typischen Ablauf abweichen, ist die Story um Zelda und Malik auf nette Weise schräg, einfach zuckersüß und deshalb etwas Besonderes.

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