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Veröffentlicht am 15.05.2020

Nicht immer alles aufschieben

Der restliche Sommer
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In Max Scharniggs Roman „Der restliche Sommer“ stehen vier Protagonisten im Mittelpunkt, die ihrem Leben eine neue Richtung geben müssen. Paartherapeutin Sonja Wilms hat sich einige Zeit zuvor von ihrem ...

In Max Scharniggs Roman „Der restliche Sommer“ stehen vier Protagonisten im Mittelpunkt, die ihrem Leben eine neue Richtung geben müssen. Paartherapeutin Sonja Wilms hat sich einige Zeit zuvor von ihrem Mann Paul Neulich scheiden lassen und sucht im Schreiben ein neues Betätigungsfeld. Paul Neulich alias August Sternberg hat viele Jahre als Benimmpabst eine Kolumne für eine Zeitung geschrieben, in der er antiquierte Ratschläge für das Binden eines Windsorknotens oder den Gebrauch von Kragenstäbchen gab. Seine Zeit ist jedoch abgelaufen. Der Unmut der Leser über seine als reaktionär empfundenen Ansichten wächst. Zu diesem Zeitpunkt befindet er sich seit fast einem Jahr auf Reisen mit Sara Almeida, seiner neuen Liebe. Sara war als Schülerin eine alles überstrahlende Persönlichkeit, der man eine große Karriere voraussagte. Tatsächlich ist sie als Künstlerin gescheitert und hat lediglich einen enormen Verschleiß an Männern aufzuweisen. Das Paar hält sich an der portugiesischen Atlantikküste auf. Dann wird Paul in Ufernähe von einem giftigen Fisch gebissen, während Sara ohnehin bereits ein neues Leben ohne ihn plant. Der von Sara verlassene Partner Martin Hasenglock genannt Tin liegt derweil im Krankenhaus, wo die bei einem Bombenanschlag in der Abfertigungshalle des Flughafens erlittenen Verletzungen behandelt werden oder auch nicht. Die Ärzte sprechen von einer Darmkrebsoperation und von einer Rettung in letzter Minute. Im Krankenhaus lernt er die 19jährige Tove Boll kennen, die in einer angesagten Bio-Bäckerei bei der Arbeit mit einer veralteten Brotschneidemaschine zwei Finger verloren hat oder auch nicht. Tin, ein Weltmeister im Liegen und einer antriebslosen Lebensführung entwickelt neuen Schwung und trifft noch im Krankenhaus Entscheidungen für sein weiteres Leben.
Scharnigg hat eine ungewöhnliche, auch sprachlich hervorragende Geschichte über Lebensplanung und immer wieder hinausgeschobene Entscheidungen geschrieben. Er zeigt, dass wir nicht davon ausgehen können, dass immer noch genug Zeit bleibt, sondern dass wir hier und jetzt etwas ändern müssen, wenn unser Leben nicht an uns vorbeilaufen soll. Ein fesselnder Roman, der mich positiv überrascht hat.

Veröffentlicht am 07.05.2020

Die Liebe stellt keine Fragen, sie passiert einfach

Wie uns die Liebe fand
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In Claire Stihlés Debütroman „Wie uns die Liebe fand“ blickt die 92jährige Madame Nanon auf ihr Leben im fiktiven Ort Bois-de-Val im Elsass zurück. Nach dem frühen Tod ihres geliebten Mannes Bernard hat ...

In Claire Stihlés Debütroman „Wie uns die Liebe fand“ blickt die 92jährige Madame Nanon auf ihr Leben im fiktiven Ort Bois-de-Val im Elsass zurück. Nach dem frühen Tod ihres geliebten Mannes Bernard hat sie ihre vier Töchter allein aufgezogen. Als Ich-Erzählerin berichtet sie schwerpunktmäßig über eine Phase 40 Jahre zuvor, also über das Jahr 1979, als ihre Töchter Coraline, Chloé, Anne und Marie 10-20 Jahre alt waren. Die Älteste hat in dem Algerier Malou ihre große Liebe gefunden, die jüngere Tochter Anne kommt wenig später mit Jérôme zusammen. Dann passieren große Veränderungen im Leben der Familie. Der Nachbar Monsieur Boberschram überlässt ihnen seinen heruntergekommenen Lebensmittelladen, und Malou stellt mit Marie zusammen Liebesbomben her, die zu einem großen Verkaufserfolg werden und das Leben der Dorfbewohner entscheidend verändern. Madame Nan hat sich in ihren Nachbarn verliebt, der sich ihr gegenüber jedoch sehr distanziert zeigt. Als sie es mit den Liebesbomben versucht, passiert eine Panne. Zwischen ihnen stehen jedoch auch Ereignisse aus der Vergangenheit, die Monsieur Boberschram sein Leben lang belastet haben. Erst als er sich ihr offenbart, kann sich etwas ändern.
Die Autorin erzählt eine interessante, berührende Geschichte, in der sie den Leser immer wieder direkt anspricht (…, „das kann ich Ihnen sagen“ oder „Das hätten Sie mal sehen sollen“). Der Roman besticht durch die Darstellung des familiären Zusammenhalts ebenso wie durch das elsässische Ambiente mit Dialektausdrücken und Rezepten aus der regionalen Küche. Die Autorin lässt aber auch die wechselvolle Geschichte des Elsass nicht aus – gehörte dieser Landstrich doch abwechselnd zu Frankreich und zu Deutschland, erlebte die Besatzungszeit und die nachfolgenden gegen Kollaborateure gerichteten Säuberungsaktionen. Ein schönes, einfühlsam erzähltes Buch.

Veröffentlicht am 03.05.2020

Die Gier nach Geld und Besitz

Die Herren der Zeit
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Mit „Die Herren der Zeit“ legt Eva García Sáenz den dritten Band ihrer Trilogie um Inspector Unai López de Ayala, genannt Kraken und seine Kollegin Inspectora Estíbaliz Ruiz de Gauna, genannt Esti sowie ...

Mit „Die Herren der Zeit“ legt Eva García Sáenz den dritten Band ihrer Trilogie um Inspector Unai López de Ayala, genannt Kraken und seine Kollegin Inspectora Estíbaliz Ruiz de Gauna, genannt Esti sowie ihre Chefin Subcomisaria Alba Díaz de Salvatierra, die zugleich Unais Lebensgefährtin und Mutter ihrer Tochter Deba ist. Genau an dem Abend, an dem der Roman eines unbekannten Autors vorgestellt wird, der den Titel des vorliegenden trägt, geschieht am Veranstaltungsort der erste Mord. Eine Serie wird folgen, ohne dass die Polizei dies verhindern kann. Alle Morde passieren nach dem Muster der Romanvorlage, aber was verbindet die Taten und die Opfer? Der Profiler Kraken und die Viktimologin Esti tappen lange im Dunkeln und geraten während der Ermittlung selbst in Gefahr. Der Inspektor klärt am Ende nicht nur die Morde auf, sondern findet auch heraus, dass er als ein López de Ayala ein Nachfahre eines der erwähnten Adelsgeschlechter ist.
Der gut recherchierte, detailreiche Roman, der zugleich Thriller und historischer Roman ist, macht den Leser mit den Geschehnissen im 12. Jahrhundert bekannt. Er zeigt die Kämpfe zwischen verfeindeten Königshäusern, die Rivalität adliger Familien um vom König verliehene Privilegien und die Lebensbedingungen der kleinen Leute, denen unter der Last der Abgaben kaum genug zum Leben bleibt. Im Mittelpunkt der Ereignisse steht die verlustreiche Belagerung Vitorias. Es zeigt sich, dass das verbindende Element zwischen beiden Handlungssträngen die Gier nach Geld und Besitz ist.
Mir hat auch der dritte Roman gut gefallen, obwohl er sich wegen seiner Detailfülle und der Vielzahl von Personen und Schauplätzen nicht ganz leicht lesen lässt. Die Struktur des Buches ist mit dem Roman im Roman ungewöhnlich raffiniert und gelungen. Einen dermaßen anspruchsvollen Thriller habe ich noch nicht gelesen. Sehr empfehlenswert.

Veröffentlicht am 06.04.2020

Der Verlust der Sprache

Dankbarkeiten
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Michèle Seld, genannt Michka ist zu alt, um noch allein in ihrer Wohnung zu leben. Die junge Marie, um die sich Michka liebevoll gekümmert hat, als sie ein Kind war und unter schwierigen Verhältnissen ...

Michèle Seld, genannt Michka ist zu alt, um noch allein in ihrer Wohnung zu leben. Die junge Marie, um die sich Michka liebevoll gekümmert hat, als sie ein Kind war und unter schwierigen Verhältnissen aufwuchs, beschafft ihr einen Platz in einem Heim. Michka fällt die Umstellung auf den streng reglementierten Heimbetrieb schwer. Ihr größtes Problem ist jedoch der Verlust der Sprache. Immer wieder fällt ihr im entscheidenden Moment das treffende Wort nicht ein und sie benutzt ein ähnlich klingendes, was zu unfreiwilliger Komik führt und oft unverständlich ist. Diese Entwicklung ist besonders schmerzlich für die alte Frau, weil sie ihr Leben lang im Verlagswesen gearbeitet hat und Sprache immer ihr Werkzeug war. Diese Entwicklung kann auch Jérôme, ihr Sprachtherapeut nicht aufhalten. Michka hat noch eine Sache im Leben zu erledigen: Sie sucht nach dem Paar, das ihr in ihrer Kindheit das Leben gerettet hat, als ihre Eltern deportiert wurden. Ihre Suche mit Hilfe von Annoncen war bis dahin erfolglos, weil sie nur die Vornamen kennt. Jérôme, der eine tiefe Beziehung zu dieser Patientin aufgebaut hat, unterstützt sie bei ihrer Suche.
In diesem sehr berührenden Roman zeigt die Autorin, wie wichtig mitmenschliches Verhalten ist. Wir müssen Dankbarkeit und Zuneigung zeigen und dürfen damit nicht warten, bis es zu spät ist.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen, obwohl frühere Werke, z.B. Ich hatte vergessen, dass ich verletzlich bin oder Das Lächeln meiner Mutter mich noch mehr beeindruckt haben.

Veröffentlicht am 05.04.2020

Der Jäger und seine Beute

Das wirkliche Leben
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In Adeline Dieudonnés hochgelobtem und vielfach ausgezeichnetem Debütroman „Das wirkliche Leben“ (“La vraie vie“) geht es um eine besondere Familie, die in einer hässlichen Siedlung in einer belgischen ...

In Adeline Dieudonnés hochgelobtem und vielfach ausgezeichnetem Debütroman „Das wirkliche Leben“ (“La vraie vie“) geht es um eine besondere Familie, die in einer hässlichen Siedlung in einer belgischen Vorstadt lebt. Ein Haus gleicht dem anderen, und dennoch ist dieses eine Haus anders als alle anderen. Die 10jährige Erzählerin und ihr Bruder Gilles, 6, haben einen gewalttätigen Vater, der drei Dinge im Leben liebt: die Großwildjagd, Fernsehen und Whiskey. Die Mutter der Kinder, von der Tochter als Amöbe bezeichnet, wird von ihrem Mann immer wieder schwer misshandelt und verletzt. Sie wehrt sich nicht, hat nur noch Angst. Die Kinder verstecken sich in ihren Zimmern, machen sich unsichtbar. Das Verhältnis der Geschwister ist sehr eng. Sie spielen im verbotenen Zimmer mit den ausgestopften Tierkadavern oder in kaputten Autos auf einem Schrottplatz. Eines Tages passiert etwas Schreckliches, und Gilles verändert sich völlig. Er verliert sein Lachen und wendet sich von seiner Schwester ab. Sein Vater bildet ihn zum Schützen aus, und der kleine Junge droht genau so blutrünstig und gewalttätig zu werden wie sein Vater. Seine Schwester versucht, eine Zeitmaschine aus einem kaputten Auto zu bauen, um in der Zeit zurückzugehen, das furchtbare Ereignis ungeschehen zu machen, damit ihr Bruder das wirkliche Leben führen kann und das Böse - symbolisch dargestellt von einer Hyäne im Kadaverzimmer - nicht völlig von ihm Besitz ergreift. Auch das Mädchen ändert sich, weil sie zur Kämpferin wird. Als sich herausstellt, dass sie überdurchschnittlich begabt im naturwissenschaftlichen Bereich ist, nimmt sie Privatstunden bei einem Physikprofessor, wodurch sie schnell ein erstaunliches Niveau erreicht. Sie gerät allerdings durch ihren überragenden Intellekt in den Fokus ihres Vaters und muss sich vor seiner Aufmerksamkeit schützen. Ihr Vater hat eines Tages die perfide Idee, sie bei einem nächtlichen Jagdspiel mit zwei weiteren Männern und drei Jungen, darunter Gilles, zur Beute zu machen. Bei der gnadenlosen Jagd durch den dunklen Wald wird sie erheblich verletzt, wodurch sie zum ersten Mal so etwas wie Liebe und Fürsorge von ihrer Mutter erfährt. Die Dinge eskalieren und steuern unausweichlich auf eine Katastrophe zu.
Die Handlung erstreckt sich über fünf Jahre. Das Mädchen ist 15, verliebt sich und hat ihr erstes sexuelles Erlebnis. Sie verliert keinen Augenblick ihre Ziele aus den Augen: dem Bruder das Lächeln zurückzugeben, sich nicht zur wehrlosen Beute machen zu lassen, nicht das Leben ihrer mutlosen Mutter zu wiederholen. Der kurze Roman über dieses besondere Erwachsenwerden ist packend erzählt, aber überwiegend sehr düster und ziemlich grausam. Die Geschichte aus dem Horrorhaus erinnert an die grausamsten Märchen der Gebrüder Grimm. Der Tod ist allgegenwärtig. Dennoch verdient dieses Buch die Beachtung, die es bekommen hat, auch weil es überzeugend häusliche Gewalt gegen Frauen thematisiert.