Profilbild von StefanieFreigericht

StefanieFreigericht

Lesejury Star
offline

StefanieFreigericht ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit StefanieFreigericht über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 22.01.2017

„Nationalismus ist ein dünnes Gewand"

Im Land der Männer
0

„Nationalismus ist ein dünnes Gewand, weshalb vielleicht auch so viele glauben, man müsse ihn besonders schützen.“ S. 239

Libyen? Gaddafi, Lockerbie, die Diskothek La Belle, bulgarische Krankenschwestern. ...

„Nationalismus ist ein dünnes Gewand, weshalb vielleicht auch so viele glauben, man müsse ihn besonders schützen.“ S. 239

Libyen? Gaddafi, Lockerbie, die Diskothek La Belle, bulgarische Krankenschwestern. Gaddafis Ende, der Bürgerkrieg. Dann eine Empfehlung für dieses Buch.

1997 Sommer in der Hauptstadt Tripolis, Ich-Erzähler Suleiman ist neun und berichtet rückblickend. Oft ist er allein mit seiner Mama, die ihn 15jährig bekam, Vater „Baba“ ist dann auf Auslandsreise. Die Mutter fährt in dem islamisch geprägten Land Auto, es gibt Fernseher, moderne Musik, die Familie lebt in einer mit westlichem Luxus ausgestatteten Wohnung, der Vater ist Geschäftsmann. Dann sieht Suleiman beim Einkauf am Märtyrerplatz seinen Vater, der doch im Ausland sein soll. Der Nachbar wird abgeholt vom Revolutionskomitee. Suleiman reagiert verängstigt.

Der Blick eines Erwachsenen wertet fast zwingend, somit ist die Sicht des Kindes als Ich-Erzähler eine geniale Idee. Der Autor, Sohn libyschstämmiger Eltern, der seine Kindheit in Libyen verbracht hat, muss bestimmte Zusammenhänge nicht nennen, sie erschließen sich subtil aus der kindlichen Wahrnehmung: So erkrankt, wenn der Vater auf Geschäftsreise ist, die Mutter und benötigt Medizin. „Die Medizin veränderte ihre Augen und ließ sie das Gleichgewicht verlieren.“ S. 19 Die Medizin wird unter der Theke in der Bäckerei verkauft, wenn es dort längst kein frisches Brot mehr gibt.

Neben dem Libyen Gaddafis beschreibt der Autor über die Situation der Frauen. So erzählt die Mutter von dem weißen Taschentuch auf dem Bett, auf dem die damals 14jährige die Ehe vollziehen musste mit dem von der Familie ausgesuchten Mann, den sie vorher noch nie gesehen hatte. „Es war die Pflicht eines jeden Mannes zu beweisen, dass seine Frau noch Jungfrau war.“ S. 18. Die Großmutter hält später glücklich das Taschentuch mit dem Blut darauf.

„Im Land der Männer“ bietet nicht nur Gesellschaftskritik, sondern auch eine Geschichte über das Erwachsenwerden, über Trauer, Verlust, Liebe, Angst, Verrat und mehr, transportiert in schönen, poetischen Worten. „Mamas Gesicht veränderte sich. Kurz bevor man weint, versucht sich das Gesicht wegzufalten, sich vor der Welt zu verstecken.“ S. 142 Die Hitze, typisch für die subtropische Küstenregion Libyens, spürt man geradezu selbst. Ja, ich habe wieder einmal vorab kurz durch den Wikipedia-Text zu Libyen gescrollt, was für die allgemeine Einordnung wirklich nicht schadet, besonders der Abschnitt zur Geschichte https://de.wikipedia.org/wiki/Libyen

Ich habe das Buch gerne gelesen, die Sprache genossen und das Eintauchen in die Kultur samt genanntem Kunstgriff. Die Schwäche von letzterem: er erklärt nicht. Der über Libyen hinaus durchaus verbreitete Brauch mit dem Taschentuch, dass über Ehen die Familien entscheiden. Hingegen war, ungeachtet sonstiger Auswüchse, Gaddafis Libyen ein Land mit durchaus untypischer Koedukation, einem Wehrdienst für Frauen, einem hohen Sozialstandard für alle – solange man nicht vom Geheimdienst Mokhabarat „hinter die Sonne geschickt“ wurde oder Konventionen die Freiheit beschränkten. Auch die Beschneidung, die weiße Kleidung, das Küssen der Hand, die Ansprache der Mutter als „Umm Name-des-ältesten- Sohns“, des Vaters als „Bu Name-des-ältesten-Sohns“ könnten verwirren. Jetzt sind Literatur und Wörterbücher verschiedene Genres, aber einige extra Anmerkungen kämen nicht falsch, zu fern dürfte die Kultur den meisten sein.

Veröffentlicht am 20.01.2017

Zefix! Sehr unterhaltsamer klassischer Krimi mit Humor und viel Lokalkolorit

Fastenopfer
1

Wenn der Verwalter des Tilly-Benefiziums direkt vorm Tilly-Gemälde in der Kapelladministration von Altötting ermordet wird, dann muss ich da erst einmal ein wenig nachschlagen. Tilly geht ja noch, aber ...

Wenn der Verwalter des Tilly-Benefiziums direkt vorm Tilly-Gemälde in der Kapelladministration von Altötting ermordet wird, dann muss ich da erst einmal ein wenig nachschlagen. Tilly geht ja noch, aber so im Detail…

Der Beginn des Buches verweist auf das Tilly-Benefizium. Max Kramer und Fritz Fäustl von der Mordkommission Altötting kommen bei ihren Ermittlungen nicht voran. Da gibt es Nepomuk, der zu Beginn ordentlich verprügelt und bedroht wird, seinen Spezi, der angstvoll schweigt, eine Witwe mit einem schlimmen Verdacht, eine Staatsanwältin, die im falschen Bett erwacht, eine Jugendliebe, die dummerweise kurzzeitig Nonne werden will – und noch so einiges mehr. Ich habe mitgerätselt bei diesem durchaus klassischen Whodunnit ohne großartiges Blutvergießen oder viel Brutalität und ich fühlte mich gut unterhalten - dafür sorgen auch diverse Nebenhandlungen, die teils einen spöttisch-humorigen Unterton mit in die Handlung tragen. Erst die Ungeschicklichkeit eines neuen Mitarbeiters in der Spurensicherung beim Sichern eines Bluttropfens bringt die Ermittlungen voran.

Die Charaktere sind aber auch einfach herrlich verschroben, vor allem die Haushälterin Fräulein Schosi des Monsignore Hirlinger, die diesen auf Biegen und Brechen (sic!) zur kohlenhydratfreien Ernährung bekehren will. Da lässt sie sich schon einmal vom Apotheker mit Medizin versorgen, der hochprozentigen, Bio natürlich. „Der Monsignore war entsetzt. Kaum, dass Fräulein Schosi irgendetwas nicht in den Kram passte, reagierte sie wie ein pubertierendes Mädchen. Um nicht ausfällig zu werden, begann er in seinem Kopf wieder eine beruhigende Zahlenreihe aufzusagen. Unterdessen erwachte Fräulein Schosi aus ihrer Starre und setzte zeitlupenartig das Glas ab, aus dem sie gerade hatte trinken wollen.
»Das sin alles Arzneien, mein Magen braucht des jetzt«, erklärte sie mit einem schiefen Lächeln und glasigen Augen.
»… neun, zehn.« S. 111f. Hicks!

„Fastenopfer“ ist handelt nicht nur in Altötting, der Autor Anton Leiss-Huber stammt von dort. Und auch wenn ich sonst mit dem Genre des Regionalkrimis ein wenig hadere, wenn zum Beispiel Deutsche unter teils falschem Namen Provence-Krimis schreiben mit großzügigem Streuen von Orten, Gerüchen und Weinen, passt der Begriff kaum besser als hier, selbst das Thema wirkt auf mich Nordlicht bayrisch. Des g'hört so und ich hielt das Buch gern und meist mit einem Schmunzeln in der Hand.

Wer gerade nicht alles zu Tilly parat hat - https://de.wikipedia.org/wiki/JohannT%E2%80%99Serclaesvon_Tilly
der Part zu Altötting findet sich recht weit unten (Stand 19.01.2017): „Bis zum Januar 2009 wurde in der Stiftskirche von Altötting täglich um 7:00 Uhr eine Messe für Tilly gelesen. Ein jeweils eigens dafür eingesetzter Geistlicher tat dies auf Bitten Tillys, der 1632 einen Betrag von 6300 Gulden für dieses Benefizium gespendet hatte, auf dass die Messe „bis in alle Ewigkeit“ für sein Seelenheil gelesen werden sollte. Nach 380 Jahren wurde das Tilly-Benefizium vom Passauer Bischof Wilhelm Schraml abgeschafft, da das von Tilly gespendete Stiftungsvermögen trotz Zinsenerlösen längst aufgebraucht sei.[15]“ Und weiter: Ein Benefizium bezeichnet ebenfalls lt. Wikipedia das mit Einkommen verbundene Kirchenamt, siehe Pfründe.

Veröffentlicht am 10.01.2017

„Ein Idiot, der davon träumte, unbehelligt zu bleiben…“

Die Witwen
0

Gefällig beginnt der Roman und gefällig ist auch das Leben der vier Frauen, Freundinnen seit der Einschulung, gefällig ist auch die Sprache der Autorin. Gefällig - so etwas wie nett.
Die „Witwen“, das ...

Gefällig beginnt der Roman und gefällig ist auch das Leben der vier Frauen, Freundinnen seit der Einschulung, gefällig ist auch die Sprache der Autorin. Gefällig - so etwas wie nett.
Die „Witwen“, das sind vier Frauen, Freundinnen seit der gemeinsamen Einschulung in Berlin, die jetzt in Steinbronn leben, zwischen zwei Moselarmen:
„In einem solchen buchstäblich von allen Seiten umfassten Ort einsam zu sein, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit – und doch gelang es vier Frauen, nicht mehr jung, aber längst nicht alt. Nur ratlos. Und irgendwie übrig.“ S. 1 „Lasst uns etwas erleben!“ („Witwe“ Laura) S. 4 wird beschlossen, man sucht per Annonce einen Chauffeur, findet Bendix und fährt los, über Trier die Mosel entlang bis zur Moselquelle.

Aus dem Roadmovie wird kapitelweise Lebensbeichte, als das Leihfahrzeug beim Hartmannswillerkopf, der Gedenkstätte zum Ersten Weltkrieg, symbolträchtig den Dienst verweigert. Keine der Frauen ist wirklich Witwe. Der von seiner Freundin verlassene Bendix, eigentlich studierter Philosoph und Geschichtswissenschaftler, definiert es so: „Er [Bendix] hatte keinerlei Wissen über ihren zivilen Status und nannte sie auch keineswegs Witwen, weil er annahm, ihren wären die Männer weggestorben. Aber es schwang etwas bei ihnen mit, das ihm zu benennen schwerfiel, außer mit: verwitwet. Als hinge allen eine zarte Schleppe aus Trauer und Abgelebtem an. Aus seiner Sicht war er auch Witwer. … Witwenschaft als Abwesenheit von Zukunft, Witwenschaft als Zustand der Abhandenheit.“ S. 36 „Nicht Männer waren ihnen abhandengekommen, sondern die Zuversicht oder die Verwegenheit oder die Fantasie.“ S. 20

Jeder der fünf Protagonisten, ja, auch Bendix gehört irgendwann dazu, erzählt. Das geschieht milieugerecht gebildet, eloquent – man findet für sich kleine Sätze zum Herausschreiben wie „Witwe“ Pennys „Im Traum sind wir nicht die Summe unserer Jahre, sondern die Fülle unserer Erfahrung.“ S. 130; das geschieht versöhnlich (wobei mir der Schluss etwas zu viel rosarot andeutete); das geschieht vor allem voller Sprachmeisterschaft, wie dem Namen des Hundes, Zwiebel, er ist so vielschichtig“ S. 7; „In ‚Spanisch‘ steckte ‚panisch‘ “ S. 111 oder weiteren Wortspielen wie Pennys „Man kann Verwobenes auch wieder auftrennen, aufrebbeln, rebellieren.“ S. 42 Ich mag so etwas, aber es wird mir hier gelegentlich zu viel des Guten. Wer das ebook hat, möge z.B. nach „Erstreckung“ suchen im Text.

Ein Buch, das wohl eher Frauen gefallen wird, das auch eher nicht bei jüngeren Lesern Anklang finden wird – das mich aber, obwohl ich mich unbestimmt deutlich zu jung fühlte für die Witwen, mit seiner Thematik der Freundschaft und der Geheimnisse und Verletzungen, die wir mit uns herumtragen, dann doch ganz gut gefiel – besonders mit Blick auf die Milde, mit der man miteinander umgehen kann, sollte. Gefällig - so etwas wie nett, aber doch so meisterhaft in der Sprache.

Veröffentlicht am 27.12.2016

Erwartungshaltung: lange eher Krimi denn Thriller – vor ungewohnter Kulisse Japans

Blutroter Tod
0

Reiko Himekawa ist Hauptkommissarin und Hauptfigur der in Tokyo angesiedelten Handlung – „Blutroter Tod“ ist der erste Band einer ganzen Reihe und auch der erste, der in deutscher Sprache veröffentlicht ...

Reiko Himekawa ist Hauptkommissarin und Hauptfigur der in Tokyo angesiedelten Handlung – „Blutroter Tod“ ist der erste Band einer ganzen Reihe und auch der erste, der in deutscher Sprache veröffentlicht wurde; die gesamte Reihe ist ein großer Erfolg in Japan, wurde dort auch verfilmt.
Eingewickelt in eine Plastikfolie wird eine Leiche gefunden, wenig verborgen in einem Park. Der Tote kann dank seiner Zahnabdrücke bald identifiziert werden – aber wer hat ihn ermordet? Warum fügt man jemandem, der bereits tot ist, noch einen tiefen Schnitt in der Magengegend zu? Und wie erklärt sich der Ablageort? Und was für ein Termin kann jemanden an jedem zweiten Sonntag im Monat faszinieren? Dazu kommt noch eine Parallelhandlung um eine mysteriöse Person…
Der japanische Autor Tetsuya Honda verwendet eine ungewohnte Konstruktion, um seine Handlung voranzutreiben: der Leser begleitet wechselnde Ermittler-Kombination um Hauptfigur Reiko Himekawa bei der Arbeit, abends kommen alle zum Abliefern der Ergebnisse zusammen auf der Keishi-chō = Polizeibehörde; d.i. die Polizeibehörde im Sinne eines Polizeipräsidiums der japanischen Präfektur Tokio lt. Wikipedia (keine Sorge, sehr viel hatte ich nicht nachzuschlagen für die Lektüre). Der Beginn gewährt damit einen Einblick in die völlig andere Polizeiarbeit in Japan, in der die niederen Ränge „Untergebene“ sind, die „befehligt“ werden – die Struktur ist militärisch. Das Tempo für das Buch entspricht für die ersten 60% eher einem Krimi denn einem Thriller, man ist bei der Fußarbeit dabei, die in Tokyo oft mit öffentlichen Verkehrsmitteln erledigt wird, seltener mit dem Taxi (wohl wegen des allgemeinen Verkehrschaos).
Die Strukturen sind verkrustet: „Am Ende bekamen nutzlose Esel, die nur deshalb keine Fehler machten, weil sie absolut nichts unternahmen, bessere Noten als die Beamten, die sich den Hintern abarbeiteten, dabei aber den einen oder anderen Fehler machten.“ (S. 117) Beziehungen gelten viel für die Karriere bei der Polizei – und Frauen noch nicht sehr viel. Nachdem ich in diesem Jahr mit „Lebensgeister“ von Banana Yoshimoto mein erstes Buch mit Japan als Handlungsort seit „Shogun“ in den achtziger Jahren (!) gelesen hatte, war ich überrascht davon, wie wenig fremd mir Japan erschien. Der Effekt wurde in diesem Buch wieder etwas umgekehrt anhand der (für Deutschland) Fünfziger-Jahre-Geschlechter-Stereotypen: Das einzige, was tröstet, ist, dass das Buch mit einer weiblichen Ermittlerin ein Renner in Japan ist.
Für den Fortschritt der Handlung muss ich dann wieder die übliche Sadisten-Warnung aussprechen für eventuell empfindliche Leser – ab da trägt dann auch der Thriller-Anteil. Mir hat der Einblick in eine für mich fremde Welt gut gefallen,ich hatte eine andere Person im Verdacht gehabt und ich fühlte mich insgesamt gut unterhalten und bin gespannt auf weitere Teile der Reihe! Gute 4 von 5 Sternen!

Kurze Anmerkung:
Es gibt ein Personenverzeichnis zu Beginn – da ich japanische Namen aber überhaupt nicht gewohnt bin, habe ich mir lieber ein eigenes gemalt, das die Beziehungen untereinander und kurze Charakteristika beinhaltete; danach konnte ich mich sehr gut zurechtfinden.

Veröffentlicht am 06.12.2016

Wenn man immer auf ein Hintertürchen hofft und dabei fast das Leben verpasst

Das Nest
0

Leo, Jack, Bea und Melody sind zwar gemeinsam als Kinder einer wenig fürsorglichen Mutter aufgewachsen, dadurch aber nicht zu Erwachsenen geworden, die für sich selbst und füreinander einzustehen gelernt ...

Leo, Jack, Bea und Melody sind zwar gemeinsam als Kinder einer wenig fürsorglichen Mutter aufgewachsen, dadurch aber nicht zu Erwachsenen geworden, die für sich selbst und füreinander einzustehen gelernt haben. Ganz im Gegenteil: im Hinterkopf hatten sie meist das ausstehende Erbe als Lösung und letzte Sicherheit, das vom Vater in einem Fond angelegte Geld, das ihnen zum vierzigsten Geburtstag von Melody, der Jüngsten der Geschwister, zu gleichen Teilen zufallen sollte. Jetzt hat ein Fehltritt Leos dazu geführt, dass die Mutter mit ihrer Vollmacht das Erbe weitgehend geplündert hat, um ihn und ihren eigenen Ruf von einem Skandal freizukaufen. Leider aber haben die anderen Geschwister durchaus länger schon finanzielle Sorgen, die jetzt übermächtig werden:

da ist Jack, der in der Schule nur „Leo light“ war (weniger intelligent, interessant und erfolgreich als der Älteste) und als Erwachsener kaum selbst als Antiquitätenhändler für seinen Unterhalt sorgen kann – heimlich hat er eine Hypothek auf das Wochenendhaus aufgenommen, das er gemeinsam mit seinem Ehemann besitzt. Dann ist da Bea, Beatrice, Leo am nächsten, einst ein aufstrebender Stern unter den jungen Autorinnen mit einem Buch über ein Alter-Ego ihres Bruders Leo, die schon lange nichts mehr geschrieben hat und sich immerhin selbst mit einem Job bei einem Verehrer und in einer schäbigen Mini-Wohnung sparsam über Wasser hält. Und zuletzt gibt es Melody, gefangen in ihren „Upwardly-Mobile“ Träumen für ihre Zwillingstöchter und mit einer erdrückenden Hypothek, die sich umzingelt sieht von anderen Müttern, die im Gegensatz zu ihr meist eine Karriere aufgegeben hatten und über jene Zeit sagen: „Natürlich musste ich ein paar Leuten in den Arsch kriechen […] aber wenigstens musste ich ihn nicht abwischen.“ S. 131

Cynthia D’Aprix Sweeney schreibt in ihrem Debütroman über Fortysomethings – darüber, was aus den Träumen und Zielen geworden ist und womit es weitergehen soll für nicht weniger als den Rest des Lebens. Sie lässt die erzählen, die sich noch auf andere oder die Vergangenheit verlassen, die nicht loslassen wollen – oder sich auf gar keinen Fall festhalten. „Das wäre, als wollte man die Zeit zurückdrehen. Wir hatten ein paar gute Jahre. …. Verdammt gute Jahre.“ S. 217 Die Charaktere sind bis in die Nebenfiguren detailliert ausgearbeitet, das Setting ist New York zwischen den verschiedenen Immobilienkrisen, die für einige den Aufstieg bedeuten, für andere den Untergang – für die meisten von ihnen allen die Verunsicherung und damit durchaus gut auf die entsprechende Generation in Deutschland übertragbar, die sich hier Sorgen um Geldanlagen, Jobs und Rente macht. Es ist eine Geschichte über jene, die nicht mehr damit hadern, erwachsen zu werden – aber damit, was noch ist, was noch kommen soll. Oder wie Leo denkt: „Es war nicht der Luxus, den er vermisste, es war die Überraschung.“ S. 249

Der Roman ist unterhaltsam und gut geschrieben, oft mit einigem Sarkasmus, es werden keine zu glatten Lösungen präsentiert (bis auf einen winzigen etwas stärker rosaroten Einschub in einer Klammer gegen Ende, den man aber verzeihen kann). Geschickt die Überleitungen, zum Beispiel zu Beginn mit den roten Schuhen und den verschiedenen Bars. Ich konnte mitfühlen, mich fast widerstrebend mit einigen Sorgen, Ängsten und Hoffnungen identifizieren, der leichten Melancholie folgen (kein düsteres Schwarz, eher ein versöhnliches Sepia). Die Landung auf dem Boden der Realität ist vielleicht nicht immer sanft, kann aber bedeuten, überhaupt wieder selbigen unten den Füßen zu haben. „Es gab keine Gewissheiten, jede Entscheidung war nur eine wohlbegründete Vermutung oder ein Sprung in einen geheimnisvollen Abgrund.“ S. 282 Leseempfehlung für ein unterhaltsames zeitgenössisches Buch, das eine Generation pointiert und gleichzeitig mitfühlend charakterisiert, nur knapp an 5 Sternen vorbei wegen der starken Konkurrenz dieses Jahr!