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Veröffentlicht am 16.01.2021

Mit der Erinnerung gewinnt unser Leben ein Gesicht

Der Apfelbaum
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„War die Erinnerung an glückliche Zeiten das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden konnte, drohte sie jetzt zur Hölle zu werden, der kaum einer entkam.“

Inhalt

Otto und Sala, zwei junge ...

„War die Erinnerung an glückliche Zeiten das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden konnte, drohte sie jetzt zur Hölle zu werden, der kaum einer entkam.“

Inhalt

Otto und Sala, zwei junge Menschen lernen sich 1932 in Berlin kennen, er ist einer der Einbrecher, der von ihr überrascht wird, wie er sich nicht nach Wertgegenständen im gutbetuchten Hause Nohl umsieht, sondern seine Nase lieber in ein Buch steckt und sie ist die Frau, die ihn nicht an die Polizei verpfeift. Anfangs ist ihnen das Glück noch hold, denn obwohl Otto aus der Arbeiterklasse stammt und Sala aus einem intellektuellen Elternhaus kommt, steht für beide fest, dass sie füreinander bestimmt sind, egal, wie groß die Kluft zwischen ihren sozialen Hintergründen auch sein mag. Doch dann kommt der Krieg dazwischen und Sala muss Deutschland verlassen, denn als Tochter einer jüdischen Mutter, wird es für sie immer gefährlicher. Und Otto bleibt in Deutschland, wird Sanitätsarzt der Wehrmacht und gerät erst gegen Ende des Krieges in russische Gefangenschaft. Zwischen diesen Punkten bewegt sich ihre Liebesgeschichte, überschattet von den historischen Ereignissen, zerrissen von räumlicher Distanz und überfrachtet von unerfüllten Hoffnungen. Jeder beschreitet seinen Weg und trotz anderer Partner bleibt diese alles überdauernde Verbindung zwischen ihnen bestehen. Nach Kriegsende kehrt Sala zurück nach Deutschland, mittlerweile ist sie Mutter einer Tochter doch im Herzen hat sie nie aufgehört, an den Tag zu glauben, an dem sie mit Otto glücklich werden kann …

Meinung

Dies ist in weiten Teilen der persönliche Familienroman des als Schauspieler bekannt gewordenen Christian Berkels, der hier seinen Wurzeln nachspürt. Obwohl die handelnden Personen Vorbilder in der Realität haben, so sind es Kunstfiguren, deren Interaktion miteinander zu fiktiven Ereignissen und Situationen führt, wie der Autor selbst im Vorwort festhält. Und das merkt man der Erzählung auch an, denn sie wahrt immer einen gewissen Abstand zwischen einer deutlich emotionalen Beteiligung und einer objektiven Sicht der Dinge. Sie schwankt zwischen großer Nähe und sachlicher Abgrenzung, so dass alles auch reine Fiktion sein könnte und keinerlei biografische Bezüge aufweisen müsste. Dieser Umstand ist für mich ein ganz großes Plus der Geschichte, denn der Autor konzentriert sich mehr auf die Schilderung zweier Liebender, ihr jeweiliges Leben in Anbetracht der politischen Hintergründe und die Zuneigung zueinander, die sie immer wieder zusammenkommen lässt, selbst wenn es der Beziehung an Beständigkeit und Absolution fehlt. Und ganz nebenbei entwirft er damit ein Gesellschaftsporträt mit zahlreichen Nebenprotagonisten, Wegbereitern, Freunden, Zufallsbekanntschaften und mehr oder weniger glücklichen Zufällen.

Bereits vergangenes Jahr habe ich „Ada“, den Folgeroman gelesen, in dem sich die hier begonnene Geschichte aus einer anderen Perspektive fortsetzt. Umgekehrt wäre das Leseerlebnis sicherlich noch beeindruckender, weil man dann die ein oder andere Wende besser versteht und die Figuren gewissenmaßen schon eine Vergangenheit haben, doch auch so funktioniert das Modell des Romans und lässt mich als zufriedenen Leser zurück.

Der Schreibstil des Autors entspricht absolut meiner Wellenlänge, nicht nur weil er schöne literarische Formulierungen verwendet und zahlreiche Parallelen zieht, sondern vor allem, weil er es schafft, tatsächlich mehr Geschichte zu vermitteln als persönliche Nähe entstehen zu lassen. Gerade für mich, als sehr emotionalen Leser, der sich lieber mit den Protagonisten identifiziert, ist das faszinierend, wie man so viel sagen und ausdrücken kann, ohne tatsächlich Sympathien zu wecken. Trotz persönlicher Einfärbung wirkt alles sehr neutral und gerade dadurch aussagekräftig und wahrhaftig. Ein zweiter Punkt, den ich normalerweise auch nur bedingt mag, ist das Wechseln der Erzählperspektive, das Springen der Handlung zwischen den Zeiten, mal in die Vergangenheit, dann wieder in die Gegenwart. Sehr oft wirken die Geschichten dadurch unruhig und unausgeglichen. Ganz anders hier – ich hatte niemals das Gefühl, dass es nicht passt, dass es zu bunt und wild durcheinander gewürfelt wurde. Einfach perfekt, genau im richtigen Maße und das schon von Anfang an.

Hinzu kommen viele Sätze, die ich gerne zweimal gelesen habe, weil sie so viel Aussagen über die Menschen, die Bedeutung der Familie, den Wert menschlicher Beziehungen bieten – ein weiterer Pluspunkt auf meiner imaginären Anspruchsliste an gute Belletristik (ein Beispiel aus dem Buch: „Erdrückender als das Schicksal, das man mit vielen teilte, war das Schicksal, das einen ganz allein betraf, der Moment, in dem sie für immer zu erkennen glaubte, wer sie war: ein Mensch, eine Tochter, die es nicht wert war, von ihrer Mutter geliebt zu werden.“)

Fazit

Für diesen objektiven und gleichzeitig biografisch inspirierten Familienroman, der mehrere Jahrzehnte, viele Generationen und einige Kontinente umspannt, vergebe ich gerne 5 Lesesterne. Es ist eine eher stille Erzählung, deren Tragik zwar klar auf der Hand liegt aber niemals auf dem Präsentierteller dargereicht wird. Es bleibt viel Raum zum Nachdenken, zum Nachspüren und Erwägen der verschiedenen Optionen. Manchmal bleibt nur das Fügen in das Schicksal, manchmal hilft das Aufbegehren, manchmal die Flucht nach vorn und dann wieder der Rückzug aus dem Schlachtgetümmel. Außerdem finde ich es sehr lobenswert, wenn sich Menschen mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, wenn sie ihren vielleicht schon verstorbenen Familienmitgliedern ein Denkmal setzen und sich durch die vielen verstreichenden Jahre zwischen damals und heute kämpfen, um sich selbst im Kreislauf des Lebens zu sehen – die Großeltern, die Eltern, die Kinder, die Enkel, die Urenkel – jede Generation hat ihre Berechtigung, ihren Wert und eine weitreichende Bedeutung, wenn das eigene Leben ein Gesicht bekommen soll.

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Veröffentlicht am 18.12.2020

Der Wolkenkutscher und sein Goldschürfer

Hexensaat
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„Es trifft ihn wie eine Welle: Er hat sich in seinem Sturm geirrt, zwölf Jahre lang. In der Schlussphase seiner Besessenheit ging es nicht darum, Miranda wieder zum Leben zu erwecken. Es ging ihm um etwas ...

„Es trifft ihn wie eine Welle: Er hat sich in seinem Sturm geirrt, zwölf Jahre lang. In der Schlussphase seiner Besessenheit ging es nicht darum, Miranda wieder zum Leben zu erwecken. Es ging ihm um etwas ganz anderes.“

Inhalt

Felix Philips ist mit Leib und Seele Theaterregisseur, seine ganze Aufmerksamkeit gilt dem Schauspiel, vor allem nachdem seine Frau verstorben ist und wenig später seine dreijährige Tochter Miranda einer Hirnhautentzündung erliegt. Vom Leben gebeutelt versucht er in den Aufführungen all das umzusetzen, was ihm wichtig ist. Damit er möglichst frei und ohne ständige Querelen agieren kann, überträgt er einen Großteil der Verantwortung seinem Mitarbeiter Tony, der sich als sehr hilfreich erweist. Doch Felix sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht und ist tief getroffen, als ihm Tony schließlich mitteilt, dass seine Tage am Theater gezählt sind, weil die Verantwortlichen nicht länger die Unterstützer von Felix sind, sondern fortan Tony selbst die Produktionen leiten wird.

Voller Gram zieht sich der entlassene Künstler in eine alte, heruntergekommene Hütte zurück und plant seine Rache. Wenigstens seine Shakespeare Adoption des Stückes „Der Sturm“ muss noch aufgeführt werden, geht es doch gerade in dieser Inszenierung um einen Vater, dessen halbwüchsige Tochter in Gefahr gerät. Und so wartet er auf einen günstigen Moment, der zwölf Jahre später tatsächlich gekommen ist. Als Lehrmeister eines Projektes für Verbrecher agiert Felix nun schon mehrere Jahre in der Gefängnisanstalt Fletcher und versucht den Insassen diverse Theaterstücke mittels Schauspielerei näherzubringen. Und diesmal werden seine Kontrahenten im Publikum sitzen und auf der Bühne tobt „Der Sturm“.

Meinung

Dies ist mein drittes Buch aus der Feder der weltberühmten Autorin, die mich bereits mit ihren Klassikern „Der Report der Magd“ und dem Fortsetzungsroman „Die Zeuginnen“ begeistern konnte. Beides absolute Lieblingsbücher und dieses hier setzt die Reihe munter fort, so dass ich mich nun verstärkt auch den zahlreichen anderen Werken von Frau Atwood widmen werde.

Zunächst einmal ist die Idee hinter dieser Geschichte einfach nur toll und absolut lebensnah, denn das Handlungsmotiv der Rache für ein jahrelanges Hintergehen durch einen Vertrauten spricht mich direkt und unmittelbar an, eben weil es so glaubhaft und lebensecht daherkommt. Dabei legt sie Autorin großen Wert darauf, das man im Hauptprotagonisten nicht den Rächer an sich wahrnimmt, sondern seinen ganzen familiären Background kennt und ihm deshalb emotional sehr nahe kommt. Ich liebe es, wenn ich mich in irgendeiner Weise mit den Personen eines Buches identifizieren kann und das schafft dieses Buch schon von der ersten Seite an.

Besonders gut gelungen ist das Zusammenspiel zwischen einer an sich traurigen, bemitleidenswerten Geschichte, die zwischendurch immer mal wieder leise Töne anschlägt und der Freudigkeit des Schauspiels und der Verwirklichung menschlicher Emotionen auf der Bühne. Bei diesem Buch geht beides: lautes Lachen und leises Weinen – demnach eine ganze Gefühlspalette auf den 300 Seiten und das in einem lebendigen Wechsel. Darüber hinaus kann man sich hervorragend in das Theaterstück von Shakespeare hineindenken, weil ganze Szenen geprobt werden und diverse Diskussionsrunden mit den vermeintlichen Akteuren geführt werden, die selbst als Gefangene die neun verschiedenen Gefängnisse des Stückes finden und interpretieren sollen.

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne, für diesen unterhaltsamen, berührenden, faszinierenden Roman der nicht nur Freud und Leid Einzelner aufgreift, sondern ein eigenes Universum schafft, in dem Menschen Platz finden, denen das Leben übel mitgespielt hat, die sich aber nicht ohne weiteres von ihrem Schicksal lösen können und erst durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren eine Wandlung erfahren.

Dies ist ein Buch, welches man ganz oft lesen kann und in dem man immer wieder neues entdecken wird. Vielleicht ergibt sich schon ein ganz anderes Bild, wenn man die literarische Vorlage von Shakespeare kennt, dann kann man sicher noch mehr Nuancen und Seitenhiebe wahrnehmen. Für mich ein absolutes Highlight und auch ein tolles Buch für den Deutschunterricht oder eine Leserunde – es gibt so viele Ansätze, die ganz verschiedenartig ausgebaut werden können – also auch noch eine Aufgabe für die Phantasie und Vorstellungskraft der Leser.

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Veröffentlicht am 08.11.2020

Lebenslinien eines Idealisten

Die Erfindung des Countdowns
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„Es war paradox. Wie konnte etwas, das die Wissenschaft, die pure Vernunft, erschaffen hatte, solch eine barbarische Wirkung entfalten? Mit einem Bein ging man einen Schritt vorwärts, mit dem anderen einen ...

„Es war paradox. Wie konnte etwas, das die Wissenschaft, die pure Vernunft, erschaffen hatte, solch eine barbarische Wirkung entfalten? Mit einem Bein ging man einen Schritt vorwärts, mit dem anderen einen Schritt zurück. Ein Spagat, der die Menschen zerrissen hatte.“

Inhalt

Seit Kindesbeinen an hat der in Siebenbürgen geborene Hermann Oberth nur einen Wunsch, er möchte eine Rakete bauen, die bis zum Mond fliegt. Sein Vater unterstützt den Jungen nicht, hält er dessen Interesse für Physik und Raumfahrt doch für eine irrwitzige Idee, viel lieber wäre es ihm, Hermann würde wie er selbst Arzt werden und dafür Sorge tragen, das der Ruf der Familie entsprechend bliebe. Ein Bruch ist unvermeidbar und Hermann heiratet nicht nur sehr jung die Bardame Tilla, er zieht auch nach Deutschland, um dort zu studieren und seinen Lebenstraum zu verwirklichen. Seine Passion treibt ihn mehrfach an den Rand der Verzweiflung, denn wem er auch seine Ideen verkaufen will, keiner zeigt wirklich Interesse an seinen Berechnungen und technischen Vorstellungen. Und während ihn Tilla in den vielen gemeinsamen Ehejahren nur selten zu Gesicht bekommt, obwohl sie die 4 gemeinsamen Kinder großzieht, vergeht Hermanns Lebenszeit und mit ihr die Aussicht auf Erfolg. Erst als er die Bekanntschaft mit Wernher von Braun macht, der für die Nationalsozialisten Forschungen über Vernichtungswaffen leitet, gibt es erstmals die Möglichkeit der wissenschaftlichen Anerkennung. Doch während sich nun die Mächtigen dieser Welt für ihn interessieren, muss Hermann einsehen, dass seine Entwürfe nur ausgeschlachtet und missbraucht werden, denn keiner der Geldgeber ist wirklich so ein Idealist wie er selbst und zum Mond werden andere fliegen …

Meinung

Der deutsche Autor Daniel Mellem, der für dieses Buch bereits den Hamburger Literaturförderpreis erhielt, hat selbst Physik studiert und widmet sich in diesem Roman der Ethik der Wissenschaft, symbolisiert durch die Figur des Hermann Oberth, der zwar keinerlei politische Überzeugungen hegte, aber letztlich doch zwischen den Mühlen seiner Zeit zerrieben wurde. Mit Leichtigkeit und Feingefühl führt der Autor den Leser nicht nur durch viele Jahrzehnte Deutscher Geschichte, sondern er fährt die Lebenslinien eines Idealisten und Träumers nach, der immer an den Erfolg der Sache glaubte und sich dennoch mit dem Scheitern seiner persönlichen Grundsätze konfrontiert sah.

Das Buch lebt einerseits von einer überaus ansprechenden Geschichte, die stellenweise autobiografisch und dann wieder rein fiktiv ist und andererseits von der großen Frage hinter dem vordergründigen Aktionismus. Im Zeitraffer gelingt es Daniel Mellem diesen Roman auf das Wichtigste zu beschränken und dennoch neben der Lebensgeschichte eines Wissenschaftlers, auch noch die berührende Erzählung über eine schwierige Ehe und die Verblendungen einer historischen Epoche einzuflechten. Vom Stil her erinnert mich dieser Text an die Werke von John Boyne, der ganz ähnlich verfährt und sich ein kleines Körnchen aus der Weltgeschichte herauspickt, um dieses in einen persönlichen Kontext zu setzen und dadurch viel mehr zu erreichen als nur die Benennung diverser Tatsachen. Besonders eindrucksvoll ist dem Autor dabei der Lebenslauf von Hermann Oberth gelungen, dessen Leben voller Sehnsüchte geblieben ist, der oftmals falsche Entscheidungen getroffen hat, der im Krieg zwei seiner Kinder verlor, der letztlich nie die Rakete gebaut hat, von der er träumte und der doch den Start der Saturn V. in Cape Canaveral erlebte. Die Tragik eines ganzen Lebens offenbart sich hier auf gut 200 Seiten und zeigt ein menschliches, bewegtes Porträt eines Mannes als Kind seiner Zeit.

Fazit

Ich vergebe glatte 5 Lesesterne für diesen eindrucksvollen Roman der während des Lesens für gute Unterhaltung sorgt und ganz nebenbei für die Belange eines Menschenlebens sensibilisiert. Der Raketenbau ist nur der Hintergrund, vor dem sich eine bewegende, vielschichtige Erzählung aufbaut, die sehr viel Raum für eigene Gedanken lässt und allerlei Verfehlungen thematisiert. So viel wird hier benannt und ebenso erklärt, die Nebenfiguren wirken authentisch und geben der Geschichte ein ganz besonderes Flair, gleichzeitig wird die Motivation und Begeisterung des Hauptprotagonisten deutlich und auch die aller anderen Berührungspunkte. Ein wirklich großes Buch angesiedelt zwischen Biografie, Historie und Roman – ein Lebenswerk in Anlehnung an eine kindliche Vorstellung, ein Ereignis was die Welt verändert hat und ein Mann, der ergriffen die Hand seiner Frau nimmt, die ihm bedingungslos den Rücken freigehalten hat, obwohl sie für ihn und die gemeinsame Familie stets nur Entbehrungen leisten musste. Ganz große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 27.09.2020

Viel zu beschäftigt für die andere

Jägerin und Sammlerin
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„Ich weiß nicht mehr, was real ist. Alles ist irreal. Alles ist real. Ich verstehe die Welt überhaupt nicht, oder ich bin ganz nah dran, sie voll und ganz zu verstehen. Ich schwanke zwischen diesen Zuständen.“

Inhalt

Alisa ...

„Ich weiß nicht mehr, was real ist. Alles ist irreal. Alles ist real. Ich verstehe die Welt überhaupt nicht, oder ich bin ganz nah dran, sie voll und ganz zu verstehen. Ich schwanke zwischen diesen Zuständen.“

Inhalt

Alisa ist intelligent, obwohl sie die Schule schwänzt, Alisa ist jung, obwohl sie die Last eines ganzen Lebens auf ihren Schultern trägt, Alisa ist verzweifelt, weil ihre Krankheit ihr den letzten Nerv raubt und sie sich den Fressattacken mit anschließendem Erbrechen doch nicht widersetzen kann. Alisa hat Bulimie und versucht irgendwie durch ihr Leben zu kommen, eine begonnene Therapie soll ihr helfen, sich und die Welt besser und echter wahrzunehmen, doch dabei muss sie leider feststellen, dass sie immer auf sich gestellt sein wird, wenn sie der Abwärtsspirale entkommen möchte.

Tanya, Alisas Mutter ist eine Kämpferin, sie hat sich in ihrem Leben nicht von widrigen Umständen abhalten lassen, ist durchaus den Weg mit Widerstand gegangen, immer auf der Suche nach dem Lebensglück und einem Partner, der ihr Halt bietet, den sie in sich selbst nicht findet. Die große Lücke, die bleibt, als sie einsehen muss, dass sie ihre einzige Tochter verloren hat, füllt sie zunächst mit Alkohol und später mit einer Innenschau, die zeigt, wie labil auch ihr eigenes Nervenkostüm ist. Wer kann Urvertrauen bieten, wenn er selbst keins besitzt? Beide sind viel zu beschäftigt für die Sorgen und Nöte der anderen und so schleicht sich immer mehr Distanz in eine traurige Mutter-Tochter-Beziehung ein, die letztlich zwei Menschen alleine dastehen lässt, obwohl sie sich irgendwo im Inneren doch wichtig sind …

Meinung

Bereits im Jahr 2017 habe ich den Debütroman „Kukolka“ von der ukrainischen Autorin Lana Lux mit viel Lesefreude und nachhaltiger Begeisterung gelesen, so dass ich ihr neuestes Werk natürlich auch kennenlernen musste.

Gerade die Thematik einer Essstörung, mit der ich persönliche Erfahrungen im Bekanntenkreis habe, lag mir dabei am Herzen, aber auch die Ausführung, warum Menschen, denen es eigentlich gar nicht so schlecht geht, an einer so zerstörerischen, nachhaltigen und lebensverändernden Erkrankung leiden und wie sie dort überhaupt hineingeraten sind. Und beide Punkte werden ausführlich, intensiv und ganz konkret in diesem Roman beleuchtet, so dass mir gerade im ersten Teil des Buches die körperlichen Befindlichkeiten der Kranken so deutlich vor Augen standen, dass ich hin und wieder eine kleine Lesepause einlegen musste.

Ich bin von dieser Erzählung nachhaltig beeindruckt, weil sie ohne irgendwelche Anklagen auskommt und sehr emotional aber dennoch sachlich die Eckpunkte einer absolut verkorksten Mutter-Tochter-Beziehung aufzeigt. Während Alisa sich einzig nach Anerkennung und Liebe sehnt, versucht Tanya das beste aus der Tochter herauszuholen, weil sie selbst niemanden hatte, der sie gefördert hat und tatsächlich glaubte, dass irgendwann mal etwas aus ihr werden könnte. Doch Alisa ist nicht wie Tanya – egal wie stark sie sich um Anerkennung bemüht, ihre Mutter sieht nur die Unzulänglichkeiten und Defizite, die es zu verbessern gilt, im Zentrum steht nicht die Liebe zu ihrer Tochter, sondern die Erziehung eines patenten, starken Menschen, der sehr genau um seine Schwächen weiß.

Die Verstrickungen, die beide miteinander teilen, geben niemanden Genugtuung, immer bleibt zu wenig übrig, zu wenig Liebe, zu wenig Stolz, zu wenig Zuversicht, zu wenig Anerkennung. Erst eine Trennung der beiden Lebenspunkte Mutter und Tochter beruhigt die Lage, allerdings sind damit auch alle Möglichkeiten, die in einer intakten Beziehung stecken, versiegt.

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen intensiven, empathischen Roman über eine labile bis nachteilig wirkende enge Bindung, die trotz einiger Möglichkeiten nie den gewünschten Erfolg erreicht. Die Schilderung der Umstände ist gleichermaßen akribisch wie generalistisch angelegt, durch die vielen Textpassagen in wörtlicher Rede, ist der Leser immer ganz nah dran an der jeweiligen Protagonistin und kann sowohl Verständnis für die eine als auch für die andere entwickeln.

Es wird mit verschiedenen Zeitsprüngen gearbeitet, so dass einerseits die Verfehlungen der Vergangenheit sichtbar werden, andererseits auch die Sorgen der Gegenwart und die Ängste bezüglich der Zukunft. Gerade diese umfassende Betrachtung eines Sachverhalts, hat mir ausgesprochen gut gefallen. Wer persönliche Erfahrungen mit Essstörungen hat, muss hier manchmal innehalten und tief durchatmen, allerdings fördert der Text auch das Miterleben der Krankheit, die manchmal sogar als Freundin betrachtet wird (für psychisch gesunde Menschen eine absolut unglaubliche Vorstellung).

Wer Romane mit Tiefgang und Unterhaltungswert schätzt und sich für die vielen Facetten menschlicher Belange interessiert, sollte unbedingt dieses Buch lesen. Für mich steht fest: Wenn Lana Lux den nächsten Roman veröffentlicht, greife ich ganz bewusst danach, weil ich mich von ihrer schriftstellerischen Sorgfalt und Intensität nun schon zweimal überzeugen konnte.

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Veröffentlicht am 23.06.2020

Nichts bleibt, von dem was wir waren

Ich bleibe hier
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„Wörter konnten nichts ausrichten gegen die Mauern, die das Schweigen errichtet hatte. Sie sprachen nur von dem, was es nicht mehr gab. Also war es besser, wenn keine Spur davon blieb.“

Inhalt

Trina ...


„Wörter konnten nichts ausrichten gegen die Mauern, die das Schweigen errichtet hatte. Sie sprachen nur von dem, was es nicht mehr gab. Also war es besser, wenn keine Spur davon blieb.“

Inhalt

Trina und Erich Hauser leben in Graun, in Südtirol gemeinsam mit ihren beiden Kindern Michael und Marica. Während Trina als Lehrerin arbeitet kümmert sich Erich um den Bauernhof. Doch die Zeiten werden immer düsterer, viele Menschen verlassen den Ort, weil der Faschismus Einzug hält und die Lage des Ortes dafür verantwortlich ist, das sich sowohl Italien als auch Deutschland in dieser Region etablieren möchten und die Politik immer mehr Einfluss auf das ganz normale Leben der Menschen gewinnt. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg scheint es für die Bevölkerung keine Wahl mehr zu geben, entweder man entscheidet sich für die eine oder die andere Seite.

In den Vorkriegswirren bricht plötzlich über Familie Hauser das Schicksal herein - denn Marica, für eine kurze Zeit in die Obhut von Onkel und Tante gegeben, verschwindet über Nacht mit ihren Verwandten und lässt Vater, Mutter und Bruder allein zurück, nur mit einer kurzen Nachricht, dass sie weggehen wollte aus dem Ort, um wieder freier zu sein. Für Trina ist das Anlass ihrer verloren gegangenen Tochter über viele Jahre hinweg zu erzählen, was aus der verlassenen Familie geworden ist, wie der Krieg sich ihrer bemächtigte und sie wieder entließ, wie der Ort sich verändert hat, warum es die alten Bauernhöfe nicht mehr gibt, wieso ihr Elternhaus dem Staudammbau weichen musste und was sie selbst erlebte und gern mit Marica geteilt hätte, obwohl diese nie mehr zurückgekommen ist.

Meinung

Der in Mailand geborene Autor Marco Balzano, Jahrgang 1978 arbeitet als Lehrer und folgt mit dem Schreiben seiner eigenen Passion - für sein literarisches Werk wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet und gilt als eine wichtige Stimme der italienischen Gegenwartsliteratur. „Ich bleibe hier“ ist bereits mein zweites gelesenes Buch von ihm, nachdem ich „Das Leben wartet nicht“ mit viel Begeisterung konsumiert habe.

Die Thematik des vorliegenden Romans widmet sich einerseits der Geschichte und der Veränderung einer Region, die zunächst durch den Krieg, später durch den Bau eines Staudamms nachhaltig verändert wurde und heute für viele ein lohnenswertes Ausflugsziel ist, zum anderen erzählt es eine sehr persönliche Geschichte über den mehrmaligen Verlust im Leben, über erzwungenes Loslassen an Dingen und Menschen, die man doch lieber für immer festgehalten hätte. Und so wird das Schicksal der Orte Graun und Reschen im Vinschgau mit all den Repressalien der damaligen Bevölkerung zur Hintergrundszene in einer emotional kraftvollen Erzählung über Unglück, Vertreibung, Flucht und dem Versuch sich den inneren und äußeren Mächten langfristig zu widersetzen.

Der Text richtet sich an die Tochter der Erzählerin und wirkt trotz der unfassbaren Ereignisse und den schicksalhaften Entwicklungen unaufgeregt und authentisch. In drei Teilen erzählt die Mutter vom Leben ohne das geliebte Kind, vom Leben im Krieg verbunden mit Flucht und späterer Rückkehr und letztlich vom Versuch sich die Heimat zurückzuerobern mit der Einsicht, dass es nie mehr so sein wird, wie es einmal war. In jeder Zeile wird die Bedrückung und das Bedauern über die Zustände greifbar, aber ebenso das hoffnungsvolle Voranschreiten. Die Hauptprotagonistin ist zwar gefangen in den historischen Entwicklungen, sie kann dieser Zeit nur stellenweise entfliehen und richtet ihre Lebenskraft dennoch auf die Zukunft, auf ein besseres Leben, auf eine Entspannung in all den anstrengenden, lebensbedrohlichen Momenten, mit denen sie sich im Krieg konfrontiert sieht.

Besonders eindrucksvoll erscheint mir die Gesamtwirkung dieses Romans, der Fakten und Fiktion spannend verbindet, reale Ereignisse als Hintergrund spiegelt und doch vielmehr von den Menschen erzählt, die Rücksichtslosigkeit, Kriegshandlungen und politische Willkür erleiden müssen, ohne ihnen nennenswerten Widerstand bieten zu können. In Anbetracht der Erzählung wird man sehr nachdenklich, sie lässt darüber hinaus den heutigen Frieden und die politische Entwicklung als eine Errungenschaft erscheinen, die den Machtmissbrauch vergangener Tage als umso verachtenswerter wirken lässt.

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen wunderbaren Roman über eine starke Frau, eine schwere Lebenszeit, die ständige Herausforderung des Neubeginns, die Trauer, die einhergeht mit dem Verlust des liebgewonnenen Alltags und die Kraft, trotz jedweder denkbarer Rückschläge immer wieder aufzustehen und den nächsten Tag, die nächsten Jahre zu überstehen. Ganz klassisch und elementar steht hier nicht nur eine Person im Mittelpunkt, sondern übergreifend eine ganze Generation, deren Leben so oder ganz ähnlich verlief. Die Aussage des Textes ist tiefgreifend und bewegend, denn obwohl nichts so bleibt, wie es einmal war, gibt es doch immer einen inneren Frieden, den man finden muss und sich bewahren kann, um ohne Groll durchs Leben zu gehen.
„Wörter konnten nichts ausrichten gegen die Mauern, die das Schweigen errichtet hatte. Sie sprachen nur von dem, was es nicht mehr gab. Also war es besser, wenn keine Spur davon blieb.“

Inhalt

Trina und Erich Hauser leben in Graun, in Südtirol gemeinsam mit ihren beiden Kindern Michael und Marica. Während Trina als Lehrerin arbeitet kümmert sich Erich um den Bauernhof. Doch die Zeiten werden immer düsterer, viele Menschen verlassen den Ort, weil der Faschismus Einzug hält und die Lage des Ortes dafür verantwortlich ist, das sich sowohl Italien als auch Deutschland in dieser Region etablieren möchten und die Politik immer mehr Einfluss auf das ganz normale Leben der Menschen gewinnt. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg scheint es für die Bevölkerung keine Wahl mehr zu geben, entweder man entscheidet sich für die eine oder die andere Seite.

In den Vorkriegswirren bricht plötzlich über Familie Hauser das Schicksal herein - denn Marica, für eine kurze Zeit in die Obhut von Onkel und Tante gegeben, verschwindet über Nacht mit ihren Verwandten und lässt Vater, Mutter und Bruder allein zurück, nur mit einer kurzen Nachricht, dass sie weggehen wollte aus dem Ort, um wieder freier zu sein. Für Trina ist das Anlass ihrer verloren gegangenen Tochter über viele Jahre hinweg zu erzählen, was aus der verlassenen Familie geworden ist, wie der Krieg sich ihrer bemächtigte und sie wieder entließ, wie der Ort sich verändert hat, warum es die alten Bauernhöfe nicht mehr gibt, wieso ihr Elternhaus dem Staudammbau weichen musste und was sie selbst erlebte und gern mit Marica geteilt hätte, obwohl diese nie mehr zurückgekommen ist.

Meinung

Der in Mailand geborene Autor Marco Balzano, Jahrgang 1978 arbeitet als Lehrer und folgt mit dem Schreiben seiner eigenen Passion - für sein literarisches Werk wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet und gilt als eine wichtige Stimme der italienischen Gegenwartsliteratur. „Ich bleibe hier“ ist bereits mein zweites gelesenes Buch von ihm, nachdem ich „Das Leben wartet nicht“ mit viel Begeisterung konsumiert habe.

Die Thematik des vorliegenden Romans widmet sich einerseits der Geschichte und der Veränderung einer Region, die zunächst durch den Krieg, später durch den Bau eines Staudamms nachhaltig verändert wurde und heute für viele ein lohnenswertes Ausflugsziel ist, zum anderen erzählt es eine sehr persönliche Geschichte über den mehrmaligen Verlust im Leben, über erzwungenes Loslassen an Dingen und Menschen, die man doch lieber für immer festgehalten hätte. Und so wird das Schicksal der Orte Graun und Reschen im Vinschgau mit all den Repressalien der damaligen Bevölkerung zur Hintergrundszene in einer emotional kraftvollen Erzählung über Unglück, Vertreibung, Flucht und dem Versuch sich den inneren und äußeren Mächten langfristig zu widersetzen.

Der Text richtet sich an die Tochter der Erzählerin und wirkt trotz der unfassbaren Ereignisse und den schicksalhaften Entwicklungen unaufgeregt und authentisch. In drei Teilen erzählt die Mutter vom Leben ohne das geliebte Kind, vom Leben im Krieg verbunden mit Flucht und späterer Rückkehr und letztlich vom Versuch sich die Heimat zurückzuerobern mit der Einsicht, dass es nie mehr so sein wird, wie es einmal war. In jeder Zeile wird die Bedrückung und das Bedauern über die Zustände greifbar, aber ebenso das hoffnungsvolle Voranschreiten. Die Hauptprotagonistin ist zwar gefangen in den historischen Entwicklungen, sie kann dieser Zeit nur stellenweise entfliehen und richtet ihre Lebenskraft dennoch auf die Zukunft, auf ein besseres Leben, auf eine Entspannung in all den anstrengenden, lebensbedrohlichen Momenten, mit denen sie sich im Krieg konfrontiert sieht.

Besonders eindrucksvoll erscheint mir die Gesamtwirkung dieses Romans, der Fakten und Fiktion spannend verbindet, reale Ereignisse als Hintergrund spiegelt und doch vielmehr von den Menschen erzählt, die Rücksichtslosigkeit, Kriegshandlungen und politische Willkür erleiden müssen, ohne ihnen nennenswerten Widerstand bieten zu können. In Anbetracht der Erzählung wird man sehr nachdenklich, sie lässt darüber hinaus den heutigen Frieden und die politische Entwicklung als eine Errungenschaft erscheinen, die den Machtmissbrauch vergangener Tage als umso verachtenswerter wirken lässt.

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen wunderbaren Roman über eine starke Frau, eine schwere Lebenszeit, die ständige Herausforderung des Neubeginns, die Trauer, die einhergeht mit dem Verlust des liebgewonnenen Alltags und die Kraft, trotz jedweder denkbarer Rückschläge immer wieder aufzustehen und den nächsten Tag, die nächsten Jahre zu überstehen. Ganz klassisch und elementar steht hier nicht nur eine Person im Mittelpunkt, sondern übergreifend eine ganze Generation, deren Leben so oder ganz ähnlich verlief. Die Aussage des Textes ist tiefgreifend und bewegend, denn obwohl nichts so bleibt, wie es einmal war, gibt es doch immer einen inneren Frieden, den man finden muss und sich bewahren kann, um ohne Groll durchs Leben zu gehen.

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