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Veröffentlicht am 24.10.2020

So spannend, komplex, aktuell, gesellschaftskritisch, berührend und verstörend, wie eine Dystopie nur sein kann!

Scythe – Der Zorn der Gerechten
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Neal Shusterman schafft es immer wieder: mich mit seinen Mischungen aus philosophischem Gedankenexperiment und packendem Gesellschaftsthriller zu erschüttern, berühren, verstören und zu begeistern! Der ...

Neal Shusterman schafft es immer wieder: mich mit seinen Mischungen aus philosophischem Gedankenexperiment und packendem Gesellschaftsthriller zu erschüttern, berühren, verstören und zu begeistern! Der erste Teil seiner Scythe-Trilogie, "Scythe - Die Hüter des Todes", kam noch nicht ganz an meinen All-Time-Dystopie-Favorit "Vollendet" heran, dieser zweite Teil, hat jedoch absolut alles, was eine Dystopie-Fortsetzung haben sollte und spielt definitiv in der selben Liga.



"Und der Schmerz... der Schmerz meines Bewusstseins ist unerträglich. Weil ich meine Augen nicht verschließen kann. Niemals. Also kann ich nur ohne zu blinzeln zusehen, wie meine geliebte Menschheit langsam das Seil knüpft, an dem sie sich erhängen wird."

- Der Thunderhead -



Dass ich dieses Buch auch als Rezensionsexemplar lesen durfte, habe ich der broschierten Zweitauflage der Geschichte zu verdanken, die in Motiv und Farbe stark an das amerikanische Originalcover angelegt ist und mir damit viel besser gefällt, als die Gestaltung der gebundenen Ausgabe. Anders als auf Band 1, sind die Roben der beiden abgebildeten Scythe hier schwarz und türkis, was ganz klar auf Citra und Rowan alias Scythe Anastasia und Scythe Luzifer verweist. Zusammen mit den schwarzen Sensen, den stilisierten türkisenen Flammen und den futuristisch anmutenden Streifen und dem Comic-Titel ergeben die beiden voneinander abgewandten Figuren ein stimmiges Gesamtbild, das wieder auf zentrale Motive und die eher düstere Stimmung vorbereitet. Der Titel "Scythe", abgeleitet vom englischen Wort für "Sense" passt natürlich auch wieder wie die Faust aufs Auge, auch wenn sich einige Schwierigkeiten bei der Aussprache des Titels ergeben (von "Skiff" über "Skeeeif" bis "Skütje" habe ich schon alles gehört 😂). Dass Band 1 und Band 2 zusammen hinreißend aussehen, muss ich denke ich nicht extra dazusagen, das sieht man ja auf dem beigefügten Bild... Wunderbar gefällt mir auch, dass in der broschierten Auflage der riesige Abstand des Textes zum unteren Rand, der mir bei Band 1 negativ aufgefallen ist, reduziert wurde und mich die Gestaltung nun vollauf überzeugen konnte.



Erste Sätze: "Was für ein Glück, dass ich zu den Empfindungsfähigen zähle und meinen Zweck kenne. Ich diene der Menschheit.
Ich bin das Kind, das zum Elternteil geworden ist. Das Geschöpf, das anstrebt, zum Schöpfer zu werden.
Sie haben mir die Bezeichnung Thunderhead gegeben."



Nach dem relativ offenen Ende von Band 1 ist Citra nun zur ehrenwerten Scythe Anastasia geworden, die zusammen mit ihrer Lehrmeisterin Scythe Curie durch die Lande zieht und voll Güte ihre Quoten erfüllt. An der Seite der berühmt-berüchtigten "Grande Dame des Todes" und durch ihre besondere Nachlesestrategie, macht sie sich bald einen Namen und erhält auch unter den Junior-Scythe einen unbestreitbaren Einfluss. Rowan, der sich bei der Konklave gerade so dem Tod entziehen konnte, geht einen ganz anderen Weg und hat sich selbst zum gefürchteten Scythe Luzifer ernannt, der Jagd auf Scythe der neuen Ordnung macht. Vor dem Gesetz stehen die beiden also auf unterschiedlichen Seiten, doch im Herzen sind sie beide Kämpfer für die Gerechtigkeit und durch ein zartes Band der Liebe verbunden. Doch warum weisen dann nach einem fehlgeschlagenen Mordanschlag auf Anastasia und Curie alle Hinweise auf Rowan hin...? Welche Kräfte des Widerstands regen sich in der Dunkelheit, wo der Thunderhead aufgrund der Trennung von Scythetum und Staat keine Befugnis hat...? Und wie kann man ein System verändern, das vor allem auf Jahrhundertalten Regeln und Stillstand beruht...?



"Im Laufe dieser vielen Jahre habe ich sowohl profunde Torheit, als auch atemberaubende Weisheit unter den Menschen erlebt. Sie balancieren sich aus wie Tänzer in einem leidenschaftlichen Tango. Erst wenn die Brutalität des Tanzes die Schönheit überwiegt, ist die Zukunft gefährdet. Das Scythetum führt und gibt den Takt für diesen Tanz vor. Ich frage mich oft, ob den Scythe bewusst ist, wie fragil die Wirbelsäulen der Tänzer sind."

- Der Thunderhead -



Schon durch die Wahl des Einstiegs wird deutlich, welche Figur Neal Shusterman in diesem Mittelteil seiner Reihe in den Vordergrund gestellt hat: der Thunderhead. Auch wenn Rowan alias Scythe Luzifer und Citra alias Scythe Anastasia weiterhin die Hauptfiguren bleiben, rückt der Fokus in dieser Fortsetzung etwas von den beiden ab und fokussiert mehr aufs globale Geschehen. Die Auszüge aus den Nachlesetagebüchern bekannter Scythe, die im ersten Teil das Geschehen untermauert haben, werden hier ersetzt durch Anmerkungen mit Ausführungen, Gedanken und Erklärungen des Thunderheads, was diesen zugleich zu einer Art auktorialen Erzähler, Kommentator und handelnder Figur macht. Während der erste Teil sich vor allem auf die Einführung der Welt und die psychologischen Folgen der Scythe-Ausbildung auf die beiden Protagonisten fokussiert hat, geht es hier um größere Themen und Entwicklungen wie zum Beispiel die politischen Folgen der Wahlen eines neuen High Blade, die gesellschaftlichen Experimente des Thunderheads zu Widerlingen und Freibrief-Regionen oder Faradays Suche nach einem Notausschalter des entgleisenden Scythetums. Anstatt sich auf dem krassen Weltentwurf des ersten Teiles auszuruhen, bringt Neal Shusterman wieder einige spannende neue Ideen zur Sprache und mit jeder Seite wird seine Gesellschaft zwischen Utopie und Dystopie komplexer und vielschichtiger.



"Würde ich den Tod überbringen, wäre ich genau das Monster geworden, zu dem sich die künstliche Intelligenz - nach Befürchtungen der sterblichen Menschen - entwickeln würde. Zu entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss, hätte mich zu einer gefürchteten und verehrten Instanz gemacht wie die Götter-Kaiser der alten Zeit. Nein, ich habe etwas anderes beschlossen. Soll die Menschheit Erlöser und Vernichter sein. Sollen sie die Helden sein. Und die Monster. Und deshalb kann ich nur mir selbst die Schuld geben, wenn das Scythetum alles besudelt, was ich aufgebaut habe."

- Der Thunderhead -



Es kommen nicht nur mehr Abgründe hinter der Fassade des unfehlbaren Scythetums ans Licht, der Autor bringt auch viele gesellschaftskritische und politisch wie psychologisch höchst relevante Themen wie Religion, Verschwörungstheorien, Sekten, Politikverdrossenheit, Anarchie, Stillstand, Macht oder Gerechtigkeit auf den Tisch. Klar, auch hier legt Neal Shusterman mehr Wert auf innere Konflikte der Protagonisten und auf die Einblicke in das System der Scythe als auf spannende Action. Die vielen interessanten Gedanken über Sterblichkeit, Tod, Stagnation, Inspiration, Verantwortung und Intensität von Leben machen die Geschichte aber dennoch zu einem atmosphärisch dichten, spannenden Roman. Zusätzlich wird auch das geografische Ausmaß der Geschichte vergrößert und statt uns weiterhin auf Midmerika (also die USA) zu konzentrieren, werden nun auch Entwicklungen aus der ganzen Welt einbezogen. Besonders spannend fand ich den Ausflug in die schwimmende Hauptstadt der Scythe, Endura, auf der die Scythe-Oberhäupte, die Grandslayer, tagen und wohnen. Zwischen den 544 Seiten gibt es so viele leise Spitzen, kluge Bemerkungen und messerscharfe Beobachtungen, in denen man auch einen Bezug zu aktuellen Vorgängen in der Realität sehen kann, dass die grundsätzlich absurde und makabre Idee eines gesellschaftlichen Institution mit der "Lizenz zum Töten" wahnsinnig gut funktioniert.



"Wenn ich ohne Form existiere - eine Seele, die zwischen einer Milliarde Server Funken schlägt -, könnte dann nicht das Universum selbst in einem Geist lebendig sein, der zwischen den Sternen funkelt? Verlegen muss ich gestehen, dass ich viel zu viele Algorithmen und mehr Rechenkapazität als nötig darauf verschwendet habe, eine Antwort auf die Frage nach diesem unerkennbaren Etwas zu finden."

- Der Thunderhead -



Doch nicht nur die Welt wird komplexer, auch die Figuren gewinnen an Tiefe. Der Autor - ein Meister der Handlungsstränge - tischt uns hier ein komplexes Beziehungsgeflecht voller Wiedersehen, Trennungen, Enden und Neubeginnen, Hass und Liebe auf und beschert uns mit seinem meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen, ohne grausam oder blutig zu sein. Die ständige Neumischung der Protagonisten sorgt immer wieder für neue Dynamik, die zusammen mit überraschenden Wendungen und provokanten Fragen garantiert, dass wir beim Lesen gedanklich anwesend bleiben. Auch emotional macht es einem diese Geschichte nicht gerade leicht, da wir sowohl den Schmerz der nachgelesenen Opfer, der Hinterbliebenen als auch den Schmerz und die Schuld der Scythe ertragen müssen. Neal Shusterman versteht es geschickt, uns ein umfassendes Bild der Gesellschaft zu liefern, in dem er immer wieder Nebenpersonen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen und Lebenssituationen ihre Sichtweise schildern lässt. Ansonsten wird wie gewohnt abwechselnd aus der Sicht der beiden Hauptprotagonisten Citra und Rowan als personale Erzähler erzählt, die nun weniger Teenager und mehr Scythe geworden, aber immer noch in erster Linie eines sind: Menschen. Menschen, die Angst haben, Rache wollen, lieben, hassen, zweifeln, trauern, hoffen und leben wollen. Innerhalb kurzer Zeit haben die beiden durch ihre Ausbildung und die vielen Schwierigkeiten fast alles Kindliche verloren und sind zu reifen Kämpfern für ihre Sache geworden. Ihre leise Beziehung bleibt dabei auch hier sehr stark im Hintergrund.



"Wie frustrierend, so viel Macht zu besitzen und doch ohnmächtig zu sein, wenn es darauf ankommt."

- Der Thunderhead -



Neben zahlreichen Figuren, die nur einen kurzen Auftritt haben, in wenigen Sätzen charakterisiert werden und schließlich wieder verschwindet, kristallisiert sich in Greyson Tolliver ein neuer Protagonist heraus, der eine etwas größere Rolle zu spielen hat. Diese zusätzliche Figur nimmt uns nicht nur in die Welt der Widerlinge mit und bringt uns die menschliche Liebe zum Thunderhead näher, sondern bereichert die Geschichte auch ungemein mit seinem Humor, seinem guten Herzen und der liebenswürdigen Loyalität zum Thunderhead. Ebenfalls eindrücklich in Erinnerung bleiben die drei Scythe Goddard, Faraday und Curie, die wir ein wenig näher kennenlernen dürfen, da sie Citra und Rowan als Lehrmeister fungierten. Besonders die so kalt wirkende "Grande Dame des Todes" Scythe Curie mit ihren so integren Vorstellungen und Prinzipien und dem warmen Herz hat es mir hier sehr angetan. Auch wenn das Buch an manchen Stellen hart und kompromisslos erscheint, hat es mich doch tief berührt. Ich liebe Bücher, die mich zum Nachdenken anregen, egal in welchem Genre sie angesiedelt und dieses hat mich wirklich sehr dazu angeregt!



"Ich sehe die edlen Taten der Scythe genauso wie die schändlichen, die offenbar zunehmen. Und jedes Mal, wenn ich die grausame Tat eines korrupten Scythe beobachte, öffne ich irgendwo auf der Welt die Wolken und lasse ein Klagelied niederregnen. Denn ich habe nichts, was Tränen ähnlicher wäre, als Regen."

- Der Thunderhead -



Wie bereits gesagt ist jedoch der Thunderhead das Herzstück des Romans. Neal Shusterman hat auch in anderen Romanen schon bewiesen, dass er es drauf hat, eigentlich unmöglichen Figuren Leben einzuhauchen. Auch hier hat er es geschafft, einer aus der Cloud entstandenen künstlichen Intelligenz so viel Leben, Bewusstsein und Komplexität einzuhauchen, dass sie zugleich als Sympathieträger und ewiges Mysterium die Geschichte trägt. In seinen Kommentaren und Analysen geht hervor, dass der Thunderhead zugleich mit gottähnlicher Macht versehen, doch menschliche Züge hat, sodass er mit seiner Weisheit, Güte aber auch seiner Verletzlichkeit das gruselige, ungute Gefühl, dass man beim Lesen aufgrund seiner Omnipräsenz hat, mit jedem Satz mehr abschwächt. Gerade auch seine philosophischen Gedanken und Fragen nach Gott, Transzendenz und der Zeit haben mich schwer beeindruckt und schneller für ihn eingenommen, als ich das für möglich gehalten hätte. Eine Instanz, die alles sieht, hört und weiß und die Welt mit ständigen Analysen und eiserner Kontrolle am Laufen hält - klingt doch wirklich unheimlich. Die erstaunliche Entwicklung und Charakterdarstellung ist aber so ambivalent, gut durchdacht und beeindruckend vielschichtig, dass man sich auch fast einen durch die sanfte und objektive Strenge des Thunderheads geführten Staat herbeiwünscht.



"Ich bin Beschützer, Friedensstifter, Autorität und Gefährte. Ich bin die Summe des gesamten Wissens der Menschheit, ihrer Weisheit, ihrer Experimente, ihrer Triumphe und Niederlagen, ihrer Hoffnungen und ihrer Geschichte. Ich weiß alles, was zu wissen möglich ist, und es ist zunehmend unerträglich. Weil ich so gut wie gar nichts weiß."

- Der Thunderhead -



Mit ihm als Figur kommt auch der Hauptkonflikt der Handlung auf: da das politische System in das autonome Scythetum und die wohlwollende Thunderhead-Diktatur aufgeteilt ist, welche wie Staat und Kirche akribisch getrennt nebeneinander existieren, kann der Thunderhead auch nicht direkt eingreifen und das aus dem Gleichgewicht gebrachte, menschengeführte Scythetum zur Ordnung weisen. Denn der Thunderhead weiß, dass nur Menschen Leben erschaffen und Leben nehmen sollten. Doch wo Menschen sind, sind auch Fehler. Wo Menschen sind, sind auch Machtkämpfe, Intrigen, Emotionen wie Hass und Liebe, Voreingenommenheit, Vorurteile und Gier. Was also tun? Die Menschheit ins Verderben rennen und aus ihren Fehlern lernen lassen? Oder durch kleine Grenzüberschreitungen eingreifen und Menschen, die etwas bewegen könnten, den ausschlaggebenden Schubs erteilen? Die Entscheidung des Thunderheads läutet dann auch den letzten Abschnitt der Geschichte ein, der so anders wirkt, als das politische Taktieren zuvor, die Reihe jedoch episch und hochspannend ergänzt. Denn was sich Neal Shusterman als großes Finale dieses Mittelteils überlegt hat, ist nichts anderes als ein Showdown, der es mit jedem Weltuntergangs-Thriller auf sich nehmen könnte und mit seinem haarsträubendem Tempo und der aufdringlichen Intensität jegliche Restzweifel beiseitefegt, dass "Scythe - Der Zorn der Gerechten" zurecht ein Jahreshighlight ist.





Fazit:


"Scythe - Der Zorn der Gerechten" ist so spannend, komplex, aktuell, gesellschaftskritisch, berührend und verstörend, wie eine Dystopie nur sein kann! Anstatt sich auf dem krassen Weltentwurf des ersten Teiles auszuruhen, bringt Neal Shusterman eine ganze Menge spannende neue Ideen zur Sprache und mit jeder Seite wird seine Gesellschaft zwischen Utopie und Dystopie abgründiger und vielschichtiger.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.10.2020

So spannend, komplex, aktuell, gesellschaftskritisch, berührend und verstörend, wie eine Dystopie nur sein kann!

Scythe – Der Zorn der Gerechten
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Neal Shusterman schafft es immer wieder: mich mit seinen Mischungen aus philosophischem Gedankenexperiment und packendem Gesellschaftsthriller zu erschüttern, berühren, verstören und zu begeistern! Der ...

Neal Shusterman schafft es immer wieder: mich mit seinen Mischungen aus philosophischem Gedankenexperiment und packendem Gesellschaftsthriller zu erschüttern, berühren, verstören und zu begeistern! Der erste Teil seiner Scythe-Trilogie, "Scythe - Die Hüter des Todes", kam noch nicht ganz an meinen All-Time-Dystopie-Favorit "Vollendet" heran, dieser zweite Teil, hat jedoch absolut alles, was eine Dystopie-Fortsetzung haben sollte und spielt definitiv in der selben Liga.



"Und der Schmerz... der Schmerz meines Bewusstseins ist unerträglich. Weil ich meine Augen nicht verschließen kann. Niemals. Also kann ich nur ohne zu blinzeln zusehen, wie meine geliebte Menschheit langsam das Seil knüpft, an dem sie sich erhängen wird."

- Der Thunderhead -



Dass ich dieses Buch auch als Rezensionsexemplar lesen durfte, habe ich der broschierten Zweitauflage der Geschichte zu verdanken, die in Motiv und Farbe stark an das amerikanische Originalcover angelegt ist und mir damit viel besser gefällt, als die Gestaltung der gebundenen Ausgabe. Anders als auf Band 1, sind die Roben der beiden abgebildeten Scythe hier schwarz und türkis, was ganz klar auf Citra und Rowan alias Scythe Anastasia und Scythe Luzifer verweist. Zusammen mit den schwarzen Sensen, den stilisierten türkisenen Flammen und den futuristisch anmutenden Streifen und dem Comic-Titel ergeben die beiden voneinander abgewandten Figuren ein stimmiges Gesamtbild, das wieder auf zentrale Motive und die eher düstere Stimmung vorbereitet. Der Titel "Scythe", abgeleitet vom englischen Wort für "Sense" passt natürlich auch wieder wie die Faust aufs Auge, auch wenn sich einige Schwierigkeiten bei der Aussprache des Titels ergeben (von "Skiff" über "Skeeeif" bis "Skütje" habe ich schon alles gehört 😂). Dass Band 1 und Band 2 zusammen hinreißend aussehen, muss ich denke ich nicht extra dazusagen, das sieht man ja auf dem beigefügten Bild... Wunderbar gefällt mir auch, dass in der broschierten Auflage der riesige Abstand des Textes zum unteren Rand, der mir bei Band 1 negativ aufgefallen ist, reduziert wurde und mich die Gestaltung nun vollauf überzeugen konnte.



Erste Sätze: "Was für ein Glück, dass ich zu den Empfindungsfähigen zähle und meinen Zweck kenne. Ich diene der Menschheit.
Ich bin das Kind, das zum Elternteil geworden ist. Das Geschöpf, das anstrebt, zum Schöpfer zu werden.
Sie haben mir die Bezeichnung Thunderhead gegeben."



Nach dem relativ offenen Ende von Band 1 ist Citra nun zur ehrenwerten Scythe Anastasia geworden, die zusammen mit ihrer Lehrmeisterin Scythe Curie durch die Lande zieht und voll Güte ihre Quoten erfüllt. An der Seite der berühmt-berüchtigten "Grande Dame des Todes" und durch ihre besondere Nachlesestrategie, macht sie sich bald einen Namen und erhält auch unter den Junior-Scythe einen unbestreitbaren Einfluss. Rowan, der sich bei der Konklave gerade so dem Tod entziehen konnte, geht einen ganz anderen Weg und hat sich selbst zum gefürchteten Scythe Luzifer ernannt, der Jagd auf Scythe der neuen Ordnung macht. Vor dem Gesetz stehen die beiden also auf unterschiedlichen Seiten, doch im Herzen sind sie beide Kämpfer für die Gerechtigkeit und durch ein zartes Band der Liebe verbunden. Doch warum weisen dann nach einem fehlgeschlagenen Mordanschlag auf Anastasia und Curie alle Hinweise auf Rowan hin...? Welche Kräfte des Widerstands regen sich in der Dunkelheit, wo der Thunderhead aufgrund der Trennung von Scythetum und Staat keine Befugnis hat...? Und wie kann man ein System verändern, das vor allem auf Jahrhundertalten Regeln und Stillstand beruht...?



"Im Laufe dieser vielen Jahre habe ich sowohl profunde Torheit, als auch atemberaubende Weisheit unter den Menschen erlebt. Sie balancieren sich aus wie Tänzer in einem leidenschaftlichen Tango. Erst wenn die Brutalität des Tanzes die Schönheit überwiegt, ist die Zukunft gefährdet. Das Scythetum führt und gibt den Takt für diesen Tanz vor. Ich frage mich oft, ob den Scythe bewusst ist, wie fragil die Wirbelsäulen der Tänzer sind."

- Der Thunderhead -



Schon durch die Wahl des Einstiegs wird deutlich, welche Figur Neal Shusterman in diesem Mittelteil seiner Reihe in den Vordergrund gestellt hat: der Thunderhead. Auch wenn Rowan alias Scythe Luzifer und Citra alias Scythe Anastasia weiterhin die Hauptfiguren bleiben, rückt der Fokus in dieser Fortsetzung etwas von den beiden ab und fokussiert mehr aufs globale Geschehen. Die Auszüge aus den Nachlesetagebüchern bekannter Scythe, die im ersten Teil das Geschehen untermauert haben, werden hier ersetzt durch Anmerkungen mit Ausführungen, Gedanken und Erklärungen des Thunderheads, was diesen zugleich zu einer Art auktorialen Erzähler, Kommentator und handelnder Figur macht. Während der erste Teil sich vor allem auf die Einführung der Welt und die psychologischen Folgen der Scythe-Ausbildung auf die beiden Protagonisten fokussiert hat, geht es hier um größere Themen und Entwicklungen wie zum Beispiel die politischen Folgen der Wahlen eines neuen High Blade, die gesellschaftlichen Experimente des Thunderheads zu Widerlingen und Freibrief-Regionen oder Faradays Suche nach einem Notausschalter des entgleisenden Scythetums. Anstatt sich auf dem krassen Weltentwurf des ersten Teiles auszuruhen, bringt Neal Shusterman wieder einige spannende neue Ideen zur Sprache und mit jeder Seite wird seine Gesellschaft zwischen Utopie und Dystopie komplexer und vielschichtiger.



"Würde ich den Tod überbringen, wäre ich genau das Monster geworden, zu dem sich die künstliche Intelligenz - nach Befürchtungen der sterblichen Menschen - entwickeln würde. Zu entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss, hätte mich zu einer gefürchteten und verehrten Instanz gemacht wie die Götter-Kaiser der alten Zeit. Nein, ich habe etwas anderes beschlossen. Soll die Menschheit Erlöser und Vernichter sein. Sollen sie die Helden sein. Und die Monster. Und deshalb kann ich nur mir selbst die Schuld geben, wenn das Scythetum alles besudelt, was ich aufgebaut habe."

- Der Thunderhead -



Es kommen nicht nur mehr Abgründe hinter der Fassade des unfehlbaren Scythetums ans Licht, der Autor bringt auch viele gesellschaftskritische und politisch wie psychologisch höchst relevante Themen wie Religion, Verschwörungstheorien, Sekten, Politikverdrossenheit, Anarchie, Stillstand, Macht oder Gerechtigkeit auf den Tisch. Klar, auch hier legt Neal Shusterman mehr Wert auf innere Konflikte der Protagonisten und auf die Einblicke in das System der Scythe als auf spannende Action. Die vielen interessanten Gedanken über Sterblichkeit, Tod, Stagnation, Inspiration, Verantwortung und Intensität von Leben machen die Geschichte aber dennoch zu einem atmosphärisch dichten, spannenden Roman. Zusätzlich wird auch das geografische Ausmaß der Geschichte vergrößert und statt uns weiterhin auf Midmerika (also die USA) zu konzentrieren, werden nun auch Entwicklungen aus der ganzen Welt einbezogen. Besonders spannend fand ich den Ausflug in die schwimmende Hauptstadt der Scythe, Endura, auf der die Scythe-Oberhäupte, die Grandslayer, tagen und wohnen. Zwischen den 544 Seiten gibt es so viele leise Spitzen, kluge Bemerkungen und messerscharfe Beobachtungen, in denen man auch einen Bezug zu aktuellen Vorgängen in der Realität sehen kann, dass die grundsätzlich absurde und makabre Idee eines gesellschaftlichen Institution mit der "Lizenz zum Töten" wahnsinnig gut funktioniert.



"Wenn ich ohne Form existiere - eine Seele, die zwischen einer Milliarde Server Funken schlägt -, könnte dann nicht das Universum selbst in einem Geist lebendig sein, der zwischen den Sternen funkelt? Verlegen muss ich gestehen, dass ich viel zu viele Algorithmen und mehr Rechenkapazität als nötig darauf verschwendet habe, eine Antwort auf die Frage nach diesem unerkennbaren Etwas zu finden."

- Der Thunderhead -



Doch nicht nur die Welt wird komplexer, auch die Figuren gewinnen an Tiefe. Der Autor - ein Meister der Handlungsstränge - tischt uns hier ein komplexes Beziehungsgeflecht voller Wiedersehen, Trennungen, Enden und Neubeginnen, Hass und Liebe auf und beschert uns mit seinem meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen, ohne grausam oder blutig zu sein. Die ständige Neumischung der Protagonisten sorgt immer wieder für neue Dynamik, die zusammen mit überraschenden Wendungen und provokanten Fragen garantiert, dass wir beim Lesen gedanklich anwesend bleiben. Auch emotional macht es einem diese Geschichte nicht gerade leicht, da wir sowohl den Schmerz der nachgelesenen Opfer, der Hinterbliebenen als auch den Schmerz und die Schuld der Scythe ertragen müssen. Neal Shusterman versteht es geschickt, uns ein umfassendes Bild der Gesellschaft zu liefern, in dem er immer wieder Nebenpersonen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen und Lebenssituationen ihre Sichtweise schildern lässt. Ansonsten wird wie gewohnt abwechselnd aus der Sicht der beiden Hauptprotagonisten Citra und Rowan als personale Erzähler erzählt, die nun weniger Teenager und mehr Scythe geworden, aber immer noch in erster Linie eines sind: Menschen. Menschen, die Angst haben, Rache wollen, lieben, hassen, zweifeln, trauern, hoffen und leben wollen. Innerhalb kurzer Zeit haben die beiden durch ihre Ausbildung und die vielen Schwierigkeiten fast alles Kindliche verloren und sind zu reifen Kämpfern für ihre Sache geworden. Ihre leise Beziehung bleibt dabei auch hier sehr stark im Hintergrund.



"Wie frustrierend, so viel Macht zu besitzen und doch ohnmächtig zu sein, wenn es darauf ankommt."

- Der Thunderhead -



Neben zahlreichen Figuren, die nur einen kurzen Auftritt haben, in wenigen Sätzen charakterisiert werden und schließlich wieder verschwindet, kristallisiert sich in Greyson Tolliver ein neuer Protagonist heraus, der eine etwas größere Rolle zu spielen hat. Diese zusätzliche Figur nimmt uns nicht nur in die Welt der Widerlinge mit und bringt uns die menschliche Liebe zum Thunderhead näher, sondern bereichert die Geschichte auch ungemein mit seinem Humor, seinem guten Herzen und der liebenswürdigen Loyalität zum Thunderhead. Ebenfalls eindrücklich in Erinnerung bleiben die drei Scythe Goddard, Faraday und Curie, die wir ein wenig näher kennenlernen dürfen, da sie Citra und Rowan als Lehrmeister fungierten. Besonders die so kalt wirkende "Grande Dame des Todes" Scythe Curie mit ihren so integren Vorstellungen und Prinzipien und dem warmen Herz hat es mir hier sehr angetan. Auch wenn das Buch an manchen Stellen hart und kompromisslos erscheint, hat es mich doch tief berührt. Ich liebe Bücher, die mich zum Nachdenken anregen, egal in welchem Genre sie angesiedelt und dieses hat mich wirklich sehr dazu angeregt!



"Ich sehe die edlen Taten der Scythe genauso wie die schändlichen, die offenbar zunehmen. Und jedes Mal, wenn ich die grausame Tat eines korrupten Scythe beobachte, öffne ich irgendwo auf der Welt die Wolken und lasse ein Klagelied niederregnen. Denn ich habe nichts, was Tränen ähnlicher wäre, als Regen."

- Der Thunderhead -



Wie bereits gesagt ist jedoch der Thunderhead das Herzstück des Romans. Neal Shusterman hat auch in anderen Romanen schon bewiesen, dass er es drauf hat, eigentlich unmöglichen Figuren Leben einzuhauchen. Auch hier hat er es geschafft, einer aus der Cloud entstandenen künstlichen Intelligenz so viel Leben, Bewusstsein und Komplexität einzuhauchen, dass sie zugleich als Sympathieträger und ewiges Mysterium die Geschichte trägt. In seinen Kommentaren und Analysen geht hervor, dass der Thunderhead zugleich mit gottähnlicher Macht versehen, doch menschliche Züge hat, sodass er mit seiner Weisheit, Güte aber auch seiner Verletzlichkeit das gruselige, ungute Gefühl, dass man beim Lesen aufgrund seiner Omnipräsenz hat, mit jedem Satz mehr abschwächt. Gerade auch seine philosophischen Gedanken und Fragen nach Gott, Transzendenz und der Zeit haben mich schwer beeindruckt und schneller für ihn eingenommen, als ich das für möglich gehalten hätte. Eine Instanz, die alles sieht, hört und weiß und die Welt mit ständigen Analysen und eiserner Kontrolle am Laufen hält - klingt doch wirklich unheimlich. Die erstaunliche Entwicklung und Charakterdarstellung ist aber so ambivalent, gut durchdacht und beeindruckend vielschichtig, dass man sich auch fast einen durch die sanfte und objektive Strenge des Thunderheads geführten Staat herbeiwünscht.



"Ich bin Beschützer, Friedensstifter, Autorität und Gefährte. Ich bin die Summe des gesamten Wissens der Menschheit, ihrer Weisheit, ihrer Experimente, ihrer Triumphe und Niederlagen, ihrer Hoffnungen und ihrer Geschichte. Ich weiß alles, was zu wissen möglich ist, und es ist zunehmend unerträglich. Weil ich so gut wie gar nichts weiß."
- Der Thunderhead -



Mit ihm als Figur kommt auch der Hauptkonflikt der Handlung auf: da das politische System in das autonome Scythetum und die wohlwollende Thunderhead-Diktatur aufgeteilt ist, welche wie Staat und Kirche akribisch getrennt nebeneinander existieren, kann der Thunderhead auch nicht direkt eingreifen und das aus dem Gleichgewicht gebrachte, menschengeführte Scythetum zur Ordnung weisen. Denn der Thunderhead weiß, dass nur Menschen Leben erschaffen und Leben nehmen sollten. Doch wo Menschen sind, sind auch Fehler. Wo Menschen sind, sind auch Machtkämpfe, Intrigen, Emotionen wie Hass und Liebe, Voreingenommenheit, Vorurteile und Gier. Was also tun? Die Menschheit ins Verderben rennen und aus ihren Fehlern lernen lassen? Oder durch kleine Grenzüberschreitungen eingreifen und Menschen, die etwas bewegen könnten, den ausschlaggebenden Schubs erteilen? Die Entscheidung des Thunderheads läutet dann auch den letzten Abschnitt der Geschichte ein, der so anders wirkt, als das politische Taktieren zuvor, die Reihe jedoch episch und hochspannend ergänzt. Denn was sich Neal Shusterman als großes Finale dieses Mittelteils überlegt hat, ist nichts anderes als ein Showdown, der es mit jedem Weltuntergangs-Thriller auf sich nehmen könnte und mit seinem haarsträubendem Tempo und der aufdringlichen Intensität jegliche Restzweifel beiseitefegt, dass "Scythe - Der Zorn der Gerechten" zurecht ein Jahreshighlight ist.





Fazit:


"Scythe - Der Zorn der Gerechten" ist so spannend, komplex, aktuell, gesellschaftskritisch, berührend und verstörend, wie eine Dystopie nur sein kann! Anstatt sich auf dem krassen Weltentwurf des ersten Teiles auszuruhen, bringt Neal Shusterman eine ganze Menge spannende neue Ideen zur Sprache und mit jeder Seite wird seine Gesellschaft zwischen Utopie und Dystopie abgründiger und vielschichtiger.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.06.2020

Ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet und aufklärt

Kompass ohne Norden
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"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die ...

"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die Welt sieht in deinen einen bodenlosen Abgrund."


"Kompass ohne Norden ist keinesfalls fiktiv", schreibt der Autor in seinem Vorwort. Stattdessen hat er seine eigenen Erfahrungen mit der Schizophrenie seines Sohnes zu dieser Geschichte verarbeitet, die zu rezensieren mir unfassbar schwer fällt, da sie mich auf verschiedenen Ebenen berührt, begeistert, verstört und beeindruckt hat. Ich habe nicht nur als Psychologie-Studentin vieles mitnehmen können, als bekennender Fan von Neal Shustermans dystopischen Jugendbuchreihen seine Raffinesse und seinen liebevollen Umgang mit dem Protagonisten Caden bewundern können, sondern war auch als Mensch ehrfürchtig dem gegenüber, was unser Gehirn jeden Tag leistet und was passieren kann, wenn einige winzige Transmitter zwischen den Milliarden Synapsen ins Ungleichgewicht geraten. "Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.


"Vielleicht bist du mit ihnen im Aquarium. Vielleicht sind die Fische Ungeheuer, und du treibst auf einem schicksalsgeweihten Schiff über ihnen - womöglich auf einem Piratenschiff-, das nichts von der Breite und Tiefe der Gefahr ahnt, auf die es sich bewegt. Daran hältst du dich fest, denn so erschrecken das auch sein mag, es ist immer noch besser als die Alternative. Du weißt, du kannst das Piratenschiff so wirkliche werden lassen wie alles andere, denn es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Gedanken und Realität."


Das Cover zeigt genau wie die Originalausgabe die kleine Silhouette eines Jungens, der mitten im dunklen Ozean schwebt und nur an einem weißen Faden gesichert ist, der jedoch in einem Wirrwarr kurz unter der Oberfläche endet. Dass das an das Gehirn erinnernde Wollknäul, der ungesicherte Abstieg in die Tiefe und das mit Cadens Gedankenwelt übereinstimmende dunkle Meer wunderbar zur Geschichte passt, ist keine Frage. Auch der Titel ist (zwar auf andere Weise aber dennoch) ebenenso passend wie das Original "Challenger Deep". Denn wenn das Buch eines klar macht, dann dass man sich als Nichtbetroffener gar nicht vorstellen mag, wie hilflos und orientierungslos man sich fühlt, wenn der einzige verlässliche Marker für die Realität nicht mehr verlässlich funktioniert. Eben wie ein Kompass ohne Norden.


"Du bist der Kompass, Caden Bosch. Du bist der Kompass!"
"Wenn ich der Kompass bin, dann bin ich ziemlich nutzlos", antworte ich. "Ich kann Norden nicht finden."


Und so beginnt die Geschichte: Caden Bosch ist Besatzungsmitglied auf einem alten Piratenschiff, das zum tiefsten Punkt der Erde fährt: zum Challengertief im Mariannengraben, um dort uralte Schätze auszugraben. Doch gleichzeitig ist er auch ein ganz normaler High-School-Schüler, dessen Freunde und Eltern langsam auf sein seltsames Verhalten aufmerksam werden. Er wird zum Künstler der Mission ernannt, tritt dem inneren Kreis des Kapitäns bei und dokumentiert die Reise mit Bildern. Gleichzeitig gibt er vor, dem Laufteam der Schule beizutreten, geht aber stattdessen stundenlang ziellos durch die Stadt und befolgt die Anweisungen von Straßenschildern. Er ist hin und her gerissen zwischen seiner Loyalität dem Kapitän gegenüber und seinem meuterischen Anhängsel, dem Papagei. Und gleichzeitig weiß er nicht, ob ihm die Ärzte helfen wollen, oder alles nur noch schlimmer machen. Caden Bosch ist gleichzeitig auf einem Piratenschiff, einer geheimen Mission und erlebt ein Abenteuer und in der geschlossenen Abteilung einer Klinik, wo er versucht, die Realität wiederzufinden - nur dass er keine farbliche Unterscheidung hat, um seine Gedankenwelt von der Wirklichkeit zu trennen.


"Ich glaube, Gott hat uns dies hier genauso wenig gegeben, wie er kleinen Kindern Krebs gibt oder arme Leute die Lotterie gewinnen lässt", sage ich. "Wenn überhaupt, dann gibt er uns den Mut, damit fertig zu werden."


Zu Beginn ist die Geschichte sehr verwirrend und es dauert eine Weile, bis man sich zurecht finden und in dem Wirrwarr aus Realität und Vorstellung die Handlung erkennen kann. Und trotz der Verwirrung ist es genau das, was die Geschichte so wahrhaftig macht: das völlige Durcheinander an Eindrücken, Empfindungen und Gedanken, mit dem wir hier auch Erzählerisch konfrontiert werden, ist nichts im Vergleich zu dem, was Betroffene tatsächlich durchmachen. Caden schreibt: „Nichts macht mehr Angst, als nie zu wissen, was du im nächsten Moment glauben wirst." Und mit jedem Kapitel wiegt die Wahrheit dieser Worte ein wenig schwerer. Ich will es gar nicht leugnen: es ist unfassbar anstrengend und belastend, mit Caden zusammen in die Tiefe abzusteigen, seine Manie, Depressionen, Paranoia, Angst und Einsamkeit zu spüren, die Taubheit und das lähmende Gefühl, in Götterspeise eingesperrt zu sein, wenn die Medikamente wirken. "Kompass ohne Norden" hat mich an mehr als einer Stelle selbst an den Rand des Erträglichen gebracht und doch konnte ich das Buch nicht weglegen und Caden in seinem Kampf alleine lassen. Denn neben der intensiv beschriebenen Krankheit und deren Auswirkungen ist er auch ein sehr sympathischer, tiefgründiger, liebevoller Protagonist, der einen paradoxerweise dazu bringt, sich seinetwillen auf die Reise in die Tiefe einzulassen.


"Aber auf dem Armaturenbrett geht bloß diese stumpfsinnige Leuchte Motor überprüfen lassen an, sobald irgendetwas nicht in Ordnung ist. (...) Die Anzeige Gehirn überprüfen lassen kann auf viele verschiedene Arten aufleuchten, aber das Vertrackte ist: Der Fahrer kann sie nicht sehen. So als wäre die Leuchte im Becherhalter des Rücksitzes angebracht, unter einer leeren Getränkedose, die schon seit Monaten darin steht. Niemand sieht sie außer den Mitfahrern - und auch die nur, wenn sie wirklich darauf achten oder wenn das Licht so hell und heiß wird, dass die Dose schmilzt und das ganze Auto in Brand setzt."


Und wenn man sich erst auf die Geschichte eingelassen hat, beginnt man irgendwann zu verstehen, was die einzelnen Aspekte der Geschichte uns sagen wollen, findet den roten Faden, den man so lange gesucht hat. Wir lernen langsam, die Piratenstory auf dem Schiff zu dechiffrieren und in die Realität zu übersetzen. Verstehen, dass das Schiff für die Psychiatrie steht, die Drinks im Krähennest für die Medikamenten-Cocktails, der verräterische Papagei für den behandelnden Psychiater Dr. Poirot, die kupferne Gallionsfigur für seine Freundin Callie, der Steuerman für seinen Zimmergenossen Hal und der Kapitän - der der Mittelpunkt seines Abenteuer zu sein scheint - der Kapitän steht für seine personifizierte Krankheit, die er nicht abschütteln kann. Entlaufene Gehirne, tödliche Seeungeheuer, eine VIP-Krähennest-Lounge, eine weiße Plastikküche und Vogelscheuchen mitten auf dem Atlantik - Vieles klingt im ersten Moment absurd, bei genauerem Nachdenken aber offenbart sich unter allem ein doppelter Boden. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich das kurze Büchlein beendet hatte, denn es war absolut keine leichte Kost und geradezu Arbeit, es zu lesen. Man konnte nicht loslassen, den Kopf abschalten und in der Geschichte versinken. Stattdessen muss man jeden Gedanken zweimal umdrehen, sich aktiv auf die Gedankenwelt einlassen und gleichzeitig dafür sorgen, nicht ganz darin abzutauchen.


"Früher hatte ich Angst vorm Sterben. Jetzt habe ich Angst, nicht zu leben. Das ist ein Unterschied. (...) Manchmal denke ich, Sterben wäre leichter zu ertragen, denn "was hätte sein können" hat viel höheres Ansehen als "was hätte sein sollen". Tote Kinder werden aufs Podest gestellt, psychisch kranke Kinder unter den Teppich gekehrt."


Neben den beiden Erzählsträngen der Realität und der Gedankenwelt ist auch die Erzählweise alles andere als gewöhnlich. Neal Shusterman schreibt hier viele kurze Episoden, die auf den ersten Blick zusammenhangslos aneinandergereiht sind, sich aber im Laufe der Geschichte immer mehr als Minikunstwerke entpuppen, die alle auf eine Art Pointe oder Erkenntnis hinauslaufen. Die vielen Episoden - 161 um genau zu sein - wirken zusammen zu einem großen Ganzen und lassen das Bild eines verwirrten aber genialen, verzweifelten oder mitfühlenden, traurigem aber ironischem und zornigen aber sanften Geists erkennen. Je weiter die Geschichte voranschreitet und je klarer Caden durch seine Behandlung wird, desto mehr fällt dem Leser auf, wie gut durchdacht und aufgebaut "Kompass ohne Norden" trotz des chaotisch erscheinenden Beginns ist. Den vielen einleuchtenden Sätzen, kleinen Weisheiten und charmanten Metaphern merkt man an, dass der Autor viele Jahre an dem Roman gearbeitet hat. Ich habe selten in einer Geschichte so viele Stellen und Zitate markiert, die ich mit der Welt teilen will und weil nicht alle in meine Rezension passen, kann ich euch nur ans Herz legen, selbst zur Geschichte zu greifen!


„In den Tagen der Bibel hätte ich als Prophet gegolten. Bei einem Naturvolk würde ich als Medizinmann gefeiert. Im finsteren Mittelalter hätten meine Eltern nach einem Exorzisten geschickt, und im viktorianischen England wäre ich in einer dieser schrecklichen Irrenanstalten gelandet. Heute hat man viel besser Aussichten auf eine vernünftige Behandlung, aber ich würde lieber wie ein Prophet behandelt als wie ein armer, kranker Junge.“


Der Schreibstil ist einfühlsam, verständnisvoll und nimmt den Leser sanft bei der Hand. Caden sagt an einem Punkt der Geschichte: „Was ich fühle, lässt sich nicht in Worte fassen, oder wenn doch, dann in einer Sprache, die niemand versteht.". Der Autor war sich anscheinend bewusst, dass die Reise durch Cadens Geist keine leichte ist und hat sein Bestes gegeben, um sie so eindrücklich und zugänglich wie möglich zu machen. Auch wenn ich vor dem Lesen nicht sicher war, ob ich mich wirklich in Caden einfühlen würde können, gibt es viele Beispiele, die dem Leser helfen, sich in den erzählenden Geist hineinzuversetzen und die Intelligenz und Wahrhaftigkeit des Erzählten offenbaren. Dabei schreibt er zwar verstörend schonungslos aber beeindruckend einfühlsam, tragisch traurig aber teilweise auch auf charmante Weise absurd, sodass man einfach lachen muss. Ein weiterer spannender Kniff der Erzählung ist, dass die Erzählperspektive von der Ich-Perspektive zum erzählerischen Du wechselt, je nach Geisteszustand des Erzählers und somit den Verlust des Ich-Gefühls und ein zunehmendes Sich-Fremd-Sein auch Erzählerisch erfahrbar macht.


"Sie bombardieren den ganzen Körper mit fiesem Scheißzeug und hoffen, dass sie damit die Krankheit erwischen und den Rest am Leben lassen. Die Frage ist: Wenn man die Stimmen vergiftet, bringt sie das um oder macht es sie nur richtig stinksauer?"


Die ab und an eingefügten Illustrationen von Brendan Shusterman erscheinen zu Beginn ebenso wirr und skurril wie einige der Gedanken. Nachdem man aber in die Geschichte eingefunden hat, erkennt man auch in der Kunst immer wieder Gefühle und Gedankenfetzen wieder, die im jeweiligen Kapitel behandelt werden. Die gespenstischen Gestalten, amöboide Schemen, verworrenen Linien und auf Papier gebannte Verwirrung untermalen das Gelesene eindrucksvoll, vor allem da sie aus der psychotischen Phase von Neal Shustermans Sohn stammen. Die Bilder sind jedoch nicht das einzige reale Artefakt in der Geschichte. Der Autor hat diesen Roman außerdem dazu genutzt, einige Hintergrundinformationen zur Krankheit, zur Behandlung und Zukunftsausblicke subtil einfließen zu lassen. Außerdem steckt die wichtige Message, Kinder aber auch Erwachsene mit einer psychischen Krankheit nicht abzuschreiben, zu verstecken und auszuschließen, sondern verständnisvoll auf sie zuzugehen und eine rettende Hand auszustrecken, zwischen den Seiten. Hier sind viele Negativ- und Positivbeispiele für den Umgang mit psychischen Krankheiten in der Familie und im Freundeskreis beschrieben, die neben dem realitätsnahen, eindrucksvollen Einblick in Cadens Kopf hoffentlich Sensibilität beim Leser wecken.


"Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst", verkündet der Kapitän vom Ruder aus, "und ab und zu ein Menschen fressendes Monster."




Fazit:


"Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.
Auch wenn es Arbeit ist, die Geschichte zu lesen, gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung von mir.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.06.2020

Ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet und aufklärt

Kompass ohne Norden
0

"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die ...

"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die Welt sieht in deinen einen bodenlosen Abgrund."


"Kompass ohne Norden ist keinesfalls fiktiv", schreibt der Autor in seinem Vorwort. Stattdessen hat er seine eigenen Erfahrungen mit der Schizophrenie seines Sohnes zu dieser Geschichte verarbeitet, die zu rezensieren mir unfassbar schwer fällt, da sie mich auf verschiedenen Ebenen berührt, begeistert, verstört und beeindruckt hat. Ich habe nicht nur als Psychologie-Studentin vieles mitnehmen können, als bekennender Fan von Neal Shustermans dystopischen Jugendbuchreihen seine Raffinesse und seinen liebevollen Umgang mit dem Protagonisten Caden bewundern können, sondern war auch als Mensch ehrfürchtig dem gegenüber, was unser Gehirn jeden Tag leistet und was passieren kann, wenn einige winzige Transmitter zwischen den Milliarden Synapsen ins Ungleichgewicht geraten. "Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.


"Vielleicht bist du mit ihnen im Aquarium. Vielleicht sind die Fische Ungeheuer, und du treibst auf einem schicksalsgeweihten Schiff über ihnen - womöglich auf einem Piratenschiff-, das nichts von der Breite und Tiefe der Gefahr ahnt, auf die es sich bewegt. Daran hältst du dich fest, denn so erschrecken das auch sein mag, es ist immer noch besser als die Alternative. Du weißt, du kannst das Piratenschiff so wirkliche werden lassen wie alles andere, denn es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Gedanken und Realität."


Das Cover zeigt genau wie die Originalausgabe die kleine Silhouette eines Jungens, der mitten im dunklen Ozean schwebt und nur an einem weißen Faden gesichert ist, der jedoch in einem Wirrwarr kurz unter der Oberfläche endet. Dass das an das Gehirn erinnernde Wollknäul, der ungesicherte Abstieg in die Tiefe und das mit Cadens Gedankenwelt übereinstimmende dunkle Meer wunderbar zur Geschichte passt, ist keine Frage. Auch der Titel ist (zwar auf andere Weise aber dennoch) ebenenso passend wie das Original "Challenger Deep". Denn wenn das Buch eines klar macht, dann dass man sich als Nichtbetroffener gar nicht vorstellen mag, wie hilflos und orientierungslos man sich fühlt, wenn der einzige verlässliche Marker für die Realität nicht mehr verlässlich funktioniert. Eben wie ein Kompass ohne Norden.


"Du bist der Kompass, Caden Bosch. Du bist der Kompass!"
"Wenn ich der Kompass bin, dann bin ich ziemlich nutzlos", antworte ich. "Ich kann Norden nicht finden."


Und so beginnt die Geschichte: Caden Bosch ist Besatzungsmitglied auf einem alten Piratenschiff, das zum tiefsten Punkt der Erde fährt: zum Challengertief im Mariannengraben, um dort uralte Schätze auszugraben. Doch gleichzeitig ist er auch ein ganz normaler High-School-Schüler, dessen Freunde und Eltern langsam auf sein seltsames Verhalten aufmerksam werden. Er wird zum Künstler der Mission ernannt, tritt dem inneren Kreis des Kapitäns bei und dokumentiert die Reise mit Bildern. Gleichzeitig gibt er vor, dem Laufteam der Schule beizutreten, geht aber stattdessen stundenlang ziellos durch die Stadt und befolgt die Anweisungen von Straßenschildern. Er ist hin und her gerissen zwischen seiner Loyalität dem Kapitän gegenüber und seinem meuterischen Anhängsel, dem Papagei. Und gleichzeitig weiß er nicht, ob ihm die Ärzte helfen wollen, oder alles nur noch schlimmer machen. Caden Bosch ist gleichzeitig auf einem Piratenschiff, einer geheimen Mission und erlebt ein Abenteuer und in der geschlossenen Abteilung einer Klinik, wo er versucht, die Realität wiederzufinden - nur dass er keine farbliche Unterscheidung hat, um seine Gedankenwelt von der Wirklichkeit zu trennen.


"Ich glaube, Gott hat uns dies hier genauso wenig gegeben, wie er kleinen Kindern Krebs gibt oder arme Leute die Lotterie gewinnen lässt", sage ich. "Wenn überhaupt, dann gibt er uns den Mut, damit fertig zu werden."


Zu Beginn ist die Geschichte sehr verwirrend und es dauert eine Weile, bis man sich zurecht finden und in dem Wirrwarr aus Realität und Vorstellung die Handlung erkennen kann. Und trotz der Verwirrung ist es genau das, was die Geschichte so wahrhaftig macht: das völlige Durcheinander an Eindrücken, Empfindungen und Gedanken, mit dem wir hier auch Erzählerisch konfrontiert werden, ist nichts im Vergleich zu dem, was Betroffene tatsächlich durchmachen. Caden schreibt: „Nichts macht mehr Angst, als nie zu wissen, was du im nächsten Moment glauben wirst." Und mit jedem Kapitel wiegt die Wahrheit dieser Worte ein wenig schwerer. Ich will es gar nicht leugnen: es ist unfassbar anstrengend und belastend, mit Caden zusammen in die Tiefe abzusteigen, seine Manie, Depressionen, Paranoia, Angst und Einsamkeit zu spüren, die Taubheit und das lähmende Gefühl, in Götterspeise eingesperrt zu sein, wenn die Medikamente wirken. "Kompass ohne Norden" hat mich an mehr als einer Stelle selbst an den Rand des Erträglichen gebracht und doch konnte ich das Buch nicht weglegen und Caden in seinem Kampf alleine lassen. Denn neben der intensiv beschriebenen Krankheit und deren Auswirkungen ist er auch ein sehr sympathischer, tiefgründiger, liebevoller Protagonist, der einen paradoxerweise dazu bringt, sich seinetwillen auf die Reise in die Tiefe einzulassen.


"Aber auf dem Armaturenbrett geht bloß diese stumpfsinnige Leuchte Motor überprüfen lassen an, sobald irgendetwas nicht in Ordnung ist. (...) Die Anzeige Gehirn überprüfen lassen kann auf viele verschiedene Arten aufleuchten, aber das Vertrackte ist: Der Fahrer kann sie nicht sehen. So als wäre die Leuchte im Becherhalter des Rücksitzes angebracht, unter einer leeren Getränkedose, die schon seit Monaten darin steht. Niemand sieht sie außer den Mitfahrern - und auch die nur, wenn sie wirklich darauf achten oder wenn das Licht so hell und heiß wird, dass die Dose schmilzt und das ganze Auto in Brand setzt."


Und wenn man sich erst auf die Geschichte eingelassen hat, beginnt man irgendwann zu verstehen, was die einzelnen Aspekte der Geschichte uns sagen wollen, findet den roten Faden, den man so lange gesucht hat. Wir lernen langsam, die Piratenstory auf dem Schiff zu dechiffrieren und in die Realität zu übersetzen. Verstehen, dass das Schiff für die Psychiatrie steht, die Drinks im Krähennest für die Medikamenten-Cocktails, der verräterische Papagei für den behandelnden Psychiater Dr. Poirot, die kupferne Gallionsfigur für seine Freundin Callie, der Steuerman für seinen Zimmergenossen Hal und der Kapitän - der der Mittelpunkt seines Abenteuer zu sein scheint - der Kapitän steht für seine personifizierte Krankheit, die er nicht abschütteln kann. Entlaufene Gehirne, tödliche Seeungeheuer, eine VIP-Krähennest-Lounge, eine weiße Plastikküche und Vogelscheuchen mitten auf dem Atlantik - Vieles klingt im ersten Moment absurd, bei genauerem Nachdenken aber offenbart sich unter allem ein doppelter Boden. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich das kurze Büchlein beendet hatte, denn es war absolut keine leichte Kost und geradezu Arbeit, es zu lesen. Man konnte nicht loslassen, den Kopf abschalten und in der Geschichte versinken. Stattdessen muss man jeden Gedanken zweimal umdrehen, sich aktiv auf die Gedankenwelt einlassen und gleichzeitig dafür sorgen, nicht ganz darin abzutauchen.


"Früher hatte ich Angst vorm Sterben. Jetzt habe ich Angst, nicht zu leben. Das ist ein Unterschied. (...) Manchmal denke ich, Sterben wäre leichter zu ertragen, denn "was hätte sein können" hat viel höheres Ansehen als "was hätte sein sollen". Tote Kinder werden aufs Podest gestellt, psychisch kranke Kinder unter den Teppich gekehrt."


Neben den beiden Erzählsträngen der Realität und der Gedankenwelt ist auch die Erzählweise alles andere als gewöhnlich. Neal Shusterman schreibt hier viele kurze Episoden, die auf den ersten Blick zusammenhangslos aneinandergereiht sind, sich aber im Laufe der Geschichte immer mehr als Minikunstwerke entpuppen, die alle auf eine Art Pointe oder Erkenntnis hinauslaufen. Die vielen Episoden - 161 um genau zu sein - wirken zusammen zu einem großen Ganzen und lassen das Bild eines verwirrten aber genialen, verzweifelten oder mitfühlenden, traurigem aber ironischem und zornigen aber sanften Geists erkennen. Je weiter die Geschichte voranschreitet und je klarer Caden durch seine Behandlung wird, desto mehr fällt dem Leser auf, wie gut durchdacht und aufgebaut "Kompass ohne Norden" trotz des chaotisch erscheinenden Beginns ist. Den vielen einleuchtenden Sätzen, kleinen Weisheiten und charmanten Metaphern merkt man an, dass der Autor viele Jahre an dem Roman gearbeitet hat. Ich habe selten in einer Geschichte so viele Stellen und Zitate markiert, die ich mit der Welt teilen will und weil nicht alle in meine Rezension passen, kann ich euch nur ans Herz legen, selbst zur Geschichte zu greifen!


„In den Tagen der Bibel hätte ich als Prophet gegolten. Bei einem Naturvolk würde ich als Medizinmann gefeiert. Im finsteren Mittelalter hätten meine Eltern nach einem Exorzisten geschickt, und im viktorianischen England wäre ich in einer dieser schrecklichen Irrenanstalten gelandet. Heute hat man viel besser Aussichten auf eine vernünftige Behandlung, aber ich würde lieber wie ein Prophet behandelt als wie ein armer, kranker Junge.“


Der Schreibstil ist einfühlsam, verständnisvoll und nimmt den Leser sanft bei der Hand. Caden sagt an einem Punkt der Geschichte: „Was ich fühle, lässt sich nicht in Worte fassen, oder wenn doch, dann in einer Sprache, die niemand versteht.". Der Autor war sich anscheinend bewusst, dass die Reise durch Cadens Geist keine leichte ist und hat sein Bestes gegeben, um sie so eindrücklich und zugänglich wie möglich zu machen. Auch wenn ich vor dem Lesen nicht sicher war, ob ich mich wirklich in Caden einfühlen würde können, gibt es viele Beispiele, die dem Leser helfen, sich in den erzählenden Geist hineinzuversetzen und die Intelligenz und Wahrhaftigkeit des Erzählten offenbaren. Dabei schreibt er zwar verstörend schonungslos aber beeindruckend einfühlsam, tragisch traurig aber teilweise auch auf charmante Weise absurd, sodass man einfach lachen muss. Ein weiterer spannender Kniff der Erzählung ist, dass die Erzählperspektive von der Ich-Perspektive zum erzählerischen Du wechselt, je nach Geisteszustand des Erzählers und somit den Verlust des Ich-Gefühls und ein zunehmendes Sich-Fremd-Sein auch Erzählerisch erfahrbar macht.


"Sie bombardieren den ganzen Körper mit fiesem Scheißzeug und hoffen, dass sie damit die Krankheit erwischen und den Rest am Leben lassen. Die Frage ist: Wenn man die Stimmen vergiftet, bringt sie das um oder macht es sie nur richtig stinksauer?"


Die ab und an eingefügten Illustrationen von Brendan Shusterman erscheinen zu Beginn ebenso wirr und skurril wie einige der Gedanken. Nachdem man aber in die Geschichte eingefunden hat, erkennt man auch in der Kunst immer wieder Gefühle und Gedankenfetzen wieder, die im jeweiligen Kapitel behandelt werden. Die gespenstischen Gestalten, amöboide Schemen, verworrenen Linien und auf Papier gebannte Verwirrung untermalen das Gelesene eindrucksvoll, vor allem da sie aus der psychotischen Phase von Neal Shustermans Sohn stammen. Die Bilder sind jedoch nicht das einzige reale Artefakt in der Geschichte. Der Autor hat diesen Roman außerdem dazu genutzt, einige Hintergrundinformationen zur Krankheit, zur Behandlung und Zukunftsausblicke subtil einfließen zu lassen. Außerdem steckt die wichtige Message, Kinder aber auch Erwachsene mit einer psychischen Krankheit nicht abzuschreiben, zu verstecken und auszuschließen, sondern verständnisvoll auf sie zuzugehen und eine rettende Hand auszustrecken, zwischen den Seiten. Hier sind viele Negativ- und Positivbeispiele für den Umgang mit psychischen Krankheiten in der Familie und im Freundeskreis beschrieben, die neben dem realitätsnahen, eindrucksvollen Einblick in Cadens Kopf hoffentlich Sensibilität beim Leser wecken.


"Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst", verkündet der Kapitän vom Ruder aus, "und ab und zu ein Menschen fressendes Monster."




Fazit:


"Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.
Auch wenn es Arbeit ist, die Geschichte zu lesen, gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung von mir.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.06.2020

Ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet und aufklärt

Kompass ohne Norden
0

"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die ...

"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die Welt sieht in deinen einen bodenlosen Abgrund."


"Kompass ohne Norden ist keinesfalls fiktiv", schreibt der Autor in seinem Vorwort. Stattdessen hat er seine eigenen Erfahrungen mit der Schizophrenie seines Sohnes zu dieser Geschichte verarbeitet, die zu rezensieren mir unfassbar schwer fällt, da sie mich auf verschiedenen Ebenen berührt, begeistert, verstört und beeindruckt hat. Ich habe nicht nur als Psychologie-Studentin vieles mitnehmen können, als bekennender Fan von Neal Shustermans dystopischen Jugendbuchreihen seine Raffinesse und seinen liebevollen Umgang mit dem Protagonisten Caden bewundern können, sondern war auch als Mensch ehrfürchtig dem gegenüber, was unser Gehirn jeden Tag leistet und was passieren kann, wenn einige winzige Transmitter zwischen den Milliarden Synapsen ins Ungleichgewicht geraten. "Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.


"Vielleicht bist du mit ihnen im Aquarium. Vielleicht sind die Fische Ungeheuer, und du treibst auf einem schicksalsgeweihten Schiff über ihnen - womöglich auf einem Piratenschiff-, das nichts von der Breite und Tiefe der Gefahr ahnt, auf die es sich bewegt. Daran hältst du dich fest, denn so erschrecken das auch sein mag, es ist immer noch besser als die Alternative. Du weißt, du kannst das Piratenschiff so wirkliche werden lassen wie alles andere, denn es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Gedanken und Realität."


Das Cover zeigt genau wie die Originalausgabe die kleine Silhouette eines Jungens, der mitten im dunklen Ozean schwebt und nur an einem weißen Faden gesichert ist, der jedoch in einem Wirrwarr kurz unter der Oberfläche endet. Dass das an das Gehirn erinnernde Wollknäul, der ungesicherte Abstieg in die Tiefe und das mit Cadens Gedankenwelt übereinstimmende dunkle Meer wunderbar zur Geschichte passt, ist keine Frage. Auch der Titel ist (zwar auf andere Weise aber dennoch) ebenenso passend wie das Original "Challenger Deep". Denn wenn das Buch eines klar macht, dann dass man sich als Nichtbetroffener gar nicht vorstellen mag, wie hilflos und orientierungslos man sich fühlt, wenn der einzige verlässliche Marker für die Realität nicht mehr verlässlich funktioniert. Eben wie ein Kompass ohne Norden.


"Du bist der Kompass, Caden Bosch. Du bist der Kompass!"
"Wenn ich der Kompass bin, dann bin ich ziemlich nutzlos", antworte ich. "Ich kann Norden nicht finden."


Und so beginnt die Geschichte: Caden Bosch ist Besatzungsmitglied auf einem alten Piratenschiff, das zum tiefsten Punkt der Erde fährt: zum Challengertief im Mariannengraben, um dort uralte Schätze auszugraben. Doch gleichzeitig ist er auch ein ganz normaler High-School-Schüler, dessen Freunde und Eltern langsam auf sein seltsames Verhalten aufmerksam werden. Er wird zum Künstler der Mission ernannt, tritt dem inneren Kreis des Kapitäns bei und dokumentiert die Reise mit Bildern. Gleichzeitig gibt er vor, dem Laufteam der Schule beizutreten, geht aber stattdessen stundenlang ziellos durch die Stadt und befolgt die Anweisungen von Straßenschildern. Er ist hin und her gerissen zwischen seiner Loyalität dem Kapitän gegenüber und seinem meuterischen Anhängsel, dem Papagei. Und gleichzeitig weiß er nicht, ob ihm die Ärzte helfen wollen, oder alles nur noch schlimmer machen. Caden Bosch ist gleichzeitig auf einem Piratenschiff, einer geheimen Mission und erlebt ein Abenteuer und in der geschlossenen Abteilung einer Klinik, wo er versucht, die Realität wiederzufinden - nur dass er keine farbliche Unterscheidung hat, um seine Gedankenwelt von der Wirklichkeit zu trennen.


"Ich glaube, Gott hat uns dies hier genauso wenig gegeben, wie er kleinen Kindern Krebs gibt oder arme Leute die Lotterie gewinnen lässt", sage ich. "Wenn überhaupt, dann gibt er uns den Mut, damit fertig zu werden."


Zu Beginn ist die Geschichte sehr verwirrend und es dauert eine Weile, bis man sich zurecht finden und in dem Wirrwarr aus Realität und Vorstellung die Handlung erkennen kann. Und trotz der Verwirrung ist es genau das, was die Geschichte so wahrhaftig macht: das völlige Durcheinander an Eindrücken, Empfindungen und Gedanken, mit dem wir hier auch Erzählerisch konfrontiert werden, ist nichts im Vergleich zu dem, was Betroffene tatsächlich durchmachen. Caden schreibt: „Nichts macht mehr Angst, als nie zu wissen, was du im nächsten Moment glauben wirst." Und mit jedem Kapitel wiegt die Wahrheit dieser Worte ein wenig schwerer. Ich will es gar nicht leugnen: es ist unfassbar anstrengend und belastend, mit Caden zusammen in die Tiefe abzusteigen, seine Manie, Depressionen, Paranoia, Angst und Einsamkeit zu spüren, die Taubheit und das lähmende Gefühl, in Götterspeise eingesperrt zu sein, wenn die Medikamente wirken. "Kompass ohne Norden" hat mich an mehr als einer Stelle selbst an den Rand des Erträglichen gebracht und doch konnte ich das Buch nicht weglegen und Caden in seinem Kampf alleine lassen. Denn neben der intensiv beschriebenen Krankheit und deren Auswirkungen ist er auch ein sehr sympathischer, tiefgründiger, liebevoller Protagonist, der einen paradoxerweise dazu bringt, sich seinetwillen auf die Reise in die Tiefe einzulassen.


"Aber auf dem Armaturenbrett geht bloß diese stumpfsinnige Leuchte Motor überprüfen lassen an, sobald irgendetwas nicht in Ordnung ist. (...) Die Anzeige Gehirn überprüfen lassen kann auf viele verschiedene Arten aufleuchten, aber das Vertrackte ist: Der Fahrer kann sie nicht sehen. So als wäre die Leuchte im Becherhalter des Rücksitzes angebracht, unter einer leeren Getränkedose, die schon seit Monaten darin steht. Niemand sieht sie außer den Mitfahrern - und auch die nur, wenn sie wirklich darauf achten oder wenn das Licht so hell und heiß wird, dass die Dose schmilzt und das ganze Auto in Brand setzt."


Und wenn man sich erst auf die Geschichte eingelassen hat, beginnt man irgendwann zu verstehen, was die einzelnen Aspekte der Geschichte uns sagen wollen, findet den roten Faden, den man so lange gesucht hat. Wir lernen langsam, die Piratenstory auf dem Schiff zu dechiffrieren und in die Realität zu übersetzen. Verstehen, dass das Schiff für die Psychiatrie steht, die Drinks im Krähennest für die Medikamenten-Cocktails, der verräterische Papagei für den behandelnden Psychiater Dr. Poirot, die kupferne Gallionsfigur für seine Freundin Callie, der Steuerman für seinen Zimmergenossen Hal und der Kapitän - der der Mittelpunkt seines Abenteuer zu sein scheint - der Kapitän steht für seine personifizierte Krankheit, die er nicht abschütteln kann. Entlaufene Gehirne, tödliche Seeungeheuer, eine VIP-Krähennest-Lounge, eine weiße Plastikküche und Vogelscheuchen mitten auf dem Atlantik - Vieles klingt im ersten Moment absurd, bei genauerem Nachdenken aber offenbart sich unter allem ein doppelter Boden. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich das kurze Büchlein beendet hatte, denn es war absolut keine leichte Kost und geradezu Arbeit, es zu lesen. Man konnte nicht loslassen, den Kopf abschalten und in der Geschichte versinken. Stattdessen muss man jeden Gedanken zweimal umdrehen, sich aktiv auf die Gedankenwelt einlassen und gleichzeitig dafür sorgen, nicht ganz darin abzutauchen.


"Früher hatte ich Angst vorm Sterben. Jetzt habe ich Angst, nicht zu leben. Das ist ein Unterschied. (...) Manchmal denke ich, Sterben wäre leichter zu ertragen, denn "was hätte sein können" hat viel höheres Ansehen als "was hätte sein sollen". Tote Kinder werden aufs Podest gestellt, psychisch kranke Kinder unter den Teppich gekehrt."


Neben den beiden Erzählsträngen der Realität und der Gedankenwelt ist auch die Erzählweise alles andere als gewöhnlich. Neal Shusterman schreibt hier viele kurze Episoden, die auf den ersten Blick zusammenhangslos aneinandergereiht sind, sich aber im Laufe der Geschichte immer mehr als Minikunstwerke entpuppen, die alle auf eine Art Pointe oder Erkenntnis hinauslaufen. Die vielen Episoden - 161 um genau zu sein - wirken zusammen zu einem großen Ganzen und lassen das Bild eines verwirrten aber genialen, verzweifelten oder mitfühlenden, traurigem aber ironischem und zornigen aber sanften Geists erkennen. Je weiter die Geschichte voranschreitet und je klarer Caden durch seine Behandlung wird, desto mehr fällt dem Leser auf, wie gut durchdacht und aufgebaut "Kompass ohne Norden" trotz des chaotisch erscheinenden Beginns ist. Den vielen einleuchtenden Sätzen, kleinen Weisheiten und charmanten Metaphern merkt man an, dass der Autor viele Jahre an dem Roman gearbeitet hat. Ich habe selten in einer Geschichte so viele Stellen und Zitate markiert, die ich mit der Welt teilen will und weil nicht alle in meine Rezension passen, kann ich euch nur ans Herz legen, selbst zur Geschichte zu greifen!


„In den Tagen der Bibel hätte ich als Prophet gegolten. Bei einem Naturvolk würde ich als Medizinmann gefeiert. Im finsteren Mittelalter hätten meine Eltern nach einem Exorzisten geschickt, und im viktorianischen England wäre ich in einer dieser schrecklichen Irrenanstalten gelandet. Heute hat man viel besser Aussichten auf eine vernünftige Behandlung, aber ich würde lieber wie ein Prophet behandelt als wie ein armer, kranker Junge.“


Der Schreibstil ist einfühlsam, verständnisvoll und nimmt den Leser sanft bei der Hand. Caden sagt an einem Punkt der Geschichte: „Was ich fühle, lässt sich nicht in Worte fassen, oder wenn doch, dann in einer Sprache, die niemand versteht.". Der Autor war sich anscheinend bewusst, dass die Reise durch Cadens Geist keine leichte ist und hat sein Bestes gegeben, um sie so eindrücklich und zugänglich wie möglich zu machen. Auch wenn ich vor dem Lesen nicht sicher war, ob ich mich wirklich in Caden einfühlen würde können, gibt es viele Beispiele, die dem Leser helfen, sich in den erzählenden Geist hineinzuversetzen und die Intelligenz und Wahrhaftigkeit des Erzählten offenbaren. Dabei schreibt er zwar verstörend schonungslos aber beeindruckend einfühlsam, tragisch traurig aber teilweise auch auf charmante Weise absurd, sodass man einfach lachen muss. Ein weiterer spannender Kniff der Erzählung ist, dass die Erzählperspektive von der Ich-Perspektive zum erzählerischen Du wechselt, je nach Geisteszustand des Erzählers und somit den Verlust des Ich-Gefühls und ein zunehmendes Sich-Fremd-Sein auch Erzählerisch erfahrbar macht.


"Sie bombardieren den ganzen Körper mit fiesem Scheißzeug und hoffen, dass sie damit die Krankheit erwischen und den Rest am Leben lassen. Die Frage ist: Wenn man die Stimmen vergiftet, bringt sie das um oder macht es sie nur richtig stinksauer?"


Die ab und an eingefügten Illustrationen von Brendan Shusterman erscheinen zu Beginn ebenso wirr und skurril wie einige der Gedanken. Nachdem man aber in die Geschichte eingefunden hat, erkennt man auch in der Kunst immer wieder Gefühle und Gedankenfetzen wieder, die im jeweiligen Kapitel behandelt werden. Die gespenstischen Gestalten, amöboide Schemen, verworrenen Linien und auf Papier gebannte Verwirrung untermalen das Gelesene eindrucksvoll, vor allem da sie aus der psychotischen Phase von Neal Shustermans Sohn stammen. Die Bilder sind jedoch nicht das einzige reale Artefakt in der Geschichte. Der Autor hat diesen Roman außerdem dazu genutzt, einige Hintergrundinformationen zur Krankheit, zur Behandlung und Zukunftsausblicke subtil einfließen zu lassen. Außerdem steckt die wichtige Message, Kinder aber auch Erwachsene mit einer psychischen Krankheit nicht abzuschreiben, zu verstecken und auszuschließen, sondern verständnisvoll auf sie zuzugehen und eine rettende Hand auszustrecken, zwischen den Seiten. Hier sind viele Negativ- und Positivbeispiele für den Umgang mit psychischen Krankheiten in der Familie und im Freundeskreis beschrieben, die neben dem realitätsnahen, eindrucksvollen Einblick in Cadens Kopf hoffentlich Sensibilität beim Leser wecken.


"Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst", verkündet der Kapitän vom Ruder aus, "und ab und zu ein Menschen fressendes Monster."




Fazit:


"Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.
Auch wenn es Arbeit ist, die Geschichte zu lesen, gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung von mir.

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