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Carl

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Veröffentlicht am 20.10.2020

Hochzeitsreise nah ans Ende der Welt

Reise nach Orkney
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Beide trennen 40 Jahre, aber sie eint die Liebe zur Literatur. Aber weshalb sie, die namenlos bleibende Protagonistin, die Lieblingsstudentin des Literaturprofessors Richard – der die 60 längst überschritten ...

Beide trennen 40 Jahre, aber sie eint die Liebe zur Literatur. Aber weshalb sie, die namenlos bleibende Protagonistin, die Lieblingsstudentin des Literaturprofessors Richard – der die 60 längst überschritten hat – ihn nun heiratet, bleibt unklar. Klar wird aber, dass seine Liebe zu ihr einer Besessenheit gleich kommt, während die Zuneigung von ihr zu ihm … nunja … Zuneigung ist. Oder vielleicht auch die Faszination seines literarischen Intellekts. Oder die Liebe zu einem Vater, der eines Tages verschwand und sie zurück ließ.

Die Hochzeitsreise des Paares geht nah ans Ende der Welt. Auf eine Orkney-Insel nordöstlich von Schottland. Dort, wo die Nordsee und der Nordatlantik sich vereinen, wo die Sonne das ganze Jahr über kaum die Wolken durchdringt, wo die Winde das Meer beleben und wo Seegeister, Kobolde und Nixen leben. Und eben einer solchen Nixe immer ähnlicher wird die junge Ehefrau, der Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen wachsen, die aber nicht schwimmen kann und dennoch über Stunden am Strand steht, sich dem Wind und den Wellen ausgesetzt und das Meer beobachtet, als sei sie Teil davon. Und dabei durch das Fenster des kleinen Ferienhauses am Strand von ihrem Mann beobachtet wird.

Er empfindet ihre Anwesenheit wie das Rauchen. Beim Rauchen überstieg für ihn das Verlangen die erreichte Befriedigung, und mit ihr kann kein Moment seine Sehnsucht nach ihr stillen. Dabei weiß er nichts von der jungen Frau, die eines Tages in seine Vorlesung kam, als letzte den Seminarraum betrat: „Du brachtest Kälte mit, die Frische des ersten Frostes, der die Blätter fallen ließ …“ Die Kälte in Form von Unnahbarkeit behält sie bei. Auch wenn sie sich das Paar leidenschaftlich körperlich liebt, nie kommt man als Leser der Frau nahe. Ebenso wenig wie ihr Ehemann.

Sie bleibt ein rätselhaftes, ätherisches Wesen: „Sie muss ein Kind eines Unwetters sein, eines Hochwassers“, resümiert Richard. Ihr Vater erzählte ihr von der Seemutter, der Göttin der Inseln, vom Flossenvolk und von den Selkies, jenen geheimnisvollen robbenähnlichen Bewohnern des Meeres, die nachts an Land schwimmen, ihr Fell ablegen und eine Zeit lang als Menschen leben. Und die ohne ihr Fell sich nicht zurück in Robben verwandeln können und an Land bleiben müssen: „Sie sagt, die Flossenmänner kämen stets zurück, um ihresgleichen zu holen.“ Und eines Tages war ihr Vater fort.

Man erfährt nicht, was ist Mythologie, was ist real. Im Verlauf der Erzählung entsteht immer mehr der Gedanke, dass womöglich auch die Frau, die Ehe, das Paar nicht real ist. Richard hatte sich vorgenommen, während der Tage auf Orkney an seinem Buch zu arbeiten, das sich mit den „Magischen Erzählungen des 19. Jahrhunderts“ befasst. Märchen und Sagen neu erzählt, Fluch und Flucht, Besessenheit, Verführung, Verwandlung. All das trifft auf das merkwürdige Paar auf der kleinen Insel zu, das in einem Haus lebt, das an einer einsamen Bucht steht.

Aber was ist Realität? Die Frage der Besessenheit, die Richard seiner Frau gegenüber empfindet kann ebenso gut die Flucht in eine Gedankenwelt sein, die sich jenseits jeglicher Realität entwickelt und der mythischen Welt in Richards Buch entspringt. Mit diesen Überlegungen lässt Amy Sackville den Leser aber allein. Lediglich einige Indizien lassen vermuten, dass der alternde, besessene, sein Leben lang allein lebende Richard sich in seiner eigenen Traumwelt verliert. Seine Frau gleicht einer Elfe, denn, so beschreibt Richard sie, “ sie ist ein proteisches Wesen, eine Thetis, Kind des Meeres, gestaltwandlerische Göttin …“ Daraus spricht nicht nur die Bewunderung eines Mannes für eine über alles geliebte und daher überhöhte Frau. Daraus spricht auch das Obsessive einer Amour fou.

Aber das die Beschreibung des Protagonisten. Viel deutlicher ist dagegen die Darstellung der Autorin. Sie setzt die Äußerungen der Frau zwar in Anführungszeichen, die Äußerungen von Richard aber nicht. Und so entsteht der Eindruck, er spräche nicht mit ihr. Zumindest nicht durch Laute, sondern eher mit Gedanken. Wie ein Autor, der seine Buchfiguren sprechen lässt, in dem nieder schreibt, was sie sagen, aber in Gedanken die Dialoge vorformuliert, eher er sie zu Papier bringt.

„Reise nach Orkney“ ist ein Buch wie ein Gemälde. Aber eines, dem die Tiefe fehlt. Es plätschert dahin, und genau das macht es schwer, sich an den Stil des Buches zu gewöhnen. Genau deshalb – und hier gilt meine Entschuldigung ebenso wie mein Dank dem Verlag, der geduldig ausharrte und nicht auf baldige Fertigstellung der Rezension drängte.

Ich brauchte tatsächlich zwei Anläufe, mich mit dem Stil anzufreunden, die unterschwellige Spannung zu entdecken, die daher kommt wie eine Welle, die sich am Strand bricht und dabei gleichzeitig eine kleine Strömung entwickelt, die knapp unterhalb der Oberfläche das Wasser zurück ins Meer zieht, während die Welle noch den Strand hinauf kriecht.

„Reise nach Orkney“ ist die Beschreibung einer Landschaft und eines Meeres, die uns ebenso fremd wie befremdlich daher kommt. Eine Welt, die mit und vom Meer lebt. Von Menschen, die das Meer mythologisieren, um es in seiner Unberechenbarkeit und Übermächtigkeit einerseits zu verstehen, andererseits zu beherrschen.

Warum sich die 39-jährige Amy Sackville, geboren 1981, und für die „Reise nach Orkney“ 2014 mit dem Somerset Maugham Award ausgezeichnet, nun ausgerechnet aus Sicht des 60-jährigen Richard dem Thema nähert, bleibt ein Rätsel. Vor allem auch deshalb, weil man als Rezensent im Alter des Richard sich manchmal fragt, was den Mann umtreibt. Ist es tatsächlich so, dass ein Mann mit einer sehr viel jüngeren Frau für seine eigene Vergangenheit „keine Verwendung hat, weil sie nicht daran teilhaben kann“? Oder ist es nicht eher die Vergangenheit und die damit verbundene Erfahrung, die einen älteren Mann für eine deutlich jüngere Frau interessant macht? Und ist Vergangenheit nicht individuell? Erlebt nicht auch ein gleichaltriges Paar die gemeinsame Vergangenheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln?

Fragen, die unbeantwortet bleiben. Letztlich hat das Paar weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft.

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Veröffentlicht am 21.12.2020

Beginn der Aufsässigkeit am Vorabend des Ersten Weltkriegs

Die Tote in der Sommerfrische
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Historienkrimis sind ein zunehmend beliebtes Genre. Spätestens seit Volker Kutscher seine Gereon Rath Reihe im Berlin der verklingenden Weimarer Republik ansiedelte und damit ungeahnte Erfolge feiern durfte, ...

Historienkrimis sind ein zunehmend beliebtes Genre. Spätestens seit Volker Kutscher seine Gereon Rath Reihe im Berlin der verklingenden Weimarer Republik ansiedelte und damit ungeahnte Erfolge feiern durfte, finden sich Nachahmer. Elsa Dix zum Beispiel, die ihren Erstling 1912 spielen lässt und somit zeitlich ansiedelt unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg. Spielstätte ist die ostfriesische Insel Norderney, von der die in Düsseldorf lebende Autorin sagt, es sei die Insel, auf der sie am liebsten ihre Urlaube verbringe. Die alte Architektur habe in ihr die Idee zu dem Krimi reifen lassen.

So weit so gut. Ich glaube ihr ja, wenn sie in eineinhalb Seiten (!) Danksagung schreibt, der Stadtarchivar der Insel habe sie ausführlich über das Norderney des Jahres 1912 informiert. Mag ja sein. Aber leider hat Frau Dix es nicht verstanden, das in Atmosphäre umzusetzen. An keiner Stelle im Buch hatte ich das Gefühl, mich im Jahr 1912 zu bewegen. Im Gegenteil. Es war vielmehr so, als führten mich zweitklassige Schauspieler, die in die Mode der Belle Epoque gesteckt worden sind und sich darin bewegten und sprachen wie Aufziehpuppen, durch eine Kulisse. Der karge Hinweis auf den wenige Monate vor der Zeit, in der der Roman angesiedelt ist, erfolgten Untergang der Titanic oder den Einsturz einer Landungsbrücke in Binz auf Rügen, bei der 17 Menschen starben, sind nicht geeignet, das Zeitkolorit zu färben und den Lesern die Atmosphäre jener Epoche zu vermitteln. (Hier noch eine Klugscheißerei am Rand: Das Unglück in Binz war Anlass, die DLRG ins Leben zu rufen.)

Das liegt möglicherweise an den vergeblichen Bemühungen von Dix, ihren Akteuren zeitgemäße Sprache in den Mund zu legen. Dabei beweist sie weder ein glückliches Händchen noch viel Geschick. Die sprachlichen Unterschiede zwischen Adel, Großbürgertum und Arbeitern vermag sie nur unzulänglich herauszuarbeiten. Etwas Studium der Schriften der Mann-Brüder Thomas und Heinrich hätte viel dazu beitragen können. Sie missachtet außerdem den semantischen Wandel von Begriffen von damals zu heute.

Es sei nur ein Beispiel genannt. Sie verwendet den Begriff „vor Ort“ in der Bedeutung, die sich in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten bildete: „sich an Ort und Stelle zu befinden“. Tatsächlich bedeutete vor fast 110 Jahren „vor Ort“ – ein Begriff, der aus Sprache der Kumpel, der Bergleute, stammt – sich unter Tage aufzuhalten. Und zwar dort „vor Ort“, wo Kohle oder Erz abgebaut werden. Vor allem beherrschte das Großbürgertum und der Adel von 1912 noch die damals geltende deutsche Grammatik. Etwas, womit sich die Elsa Dix von 2020 schwer tut. Etwa in dem sie den Konjunktiv II mehrheitlich in der sprachlich-ästhetisch fragwürdigen Form mit „würde“ bildet, statt die korrekte konjugierte Verbform zu verwenden, der häufig auch noch der passende altertümliche Klang anhaftet und damit schon wieder zeitgemäß wäre.

Damals wusste man auch, dass ein deutscher Satz nach Subjekt – Prädikat – Objekt aufgebaut ist. Ein Satz wie dieser: „Und da haben Sie Ihre Eltern allein reisen lassen?“ bedeutet, dass die angesprochene Viktoria tatsächlich ihre Eltern allein wegfahren ließ. Gemeint ist aber tatsächlich, dass die Eltern ihre Tochter ohne Begleitung in die Sommerfrische reisen ließen. Wenn‘s die Autorin (leider) nicht beherrscht, sollte man zumindest vom Lektorat, spätestens vom Korrektorat erwarten, dass diese sinnentwertenden Formulierungen richtig gestellt werden.

Gleichzeitig biegt sich Elsa Dix die Realität zu Beginn des 20. Jahrhunderts so zurecht, wie sie glaubt, sie zu benötigen.

Da ist Viktoria Berg, aufsässige Tochter eines Staatsanwalts. In der dem Großbürgertum entstammenden jungen Frau schlummert der Drang nach Unabhängigkeit in einer Zeit, in der die Freiheit der Frauen von ihren Männern vorgegeben wurde. Und diese Unabhängigkeit erhofft sich Viktoria Berg erhalten zu können, indem sie Lehrerin wird. Dabei missachtet Dix, dass es zu dieser Zeit ein Lehrerinnen-Zölibat gab. Ein, natürlich von Männern geschaffenes, Verbot für Lehrerinnen zur Eheschließung. Heiratete eine Lehrerin dennoch, verlor sie ihre Privilegien wie Beamtenstatus und Pension. Und natürlich den Job. Eine Diskriminierung, auf die Elsa Dix mit keinem Wort eingeht. Und das, obwohl sie sich sonst über vieles, zu Recht, echauffiert.

Zwar erwähnt sie den Begriff „Lehrerinnen-Zölibat“, allerdings so lala nebenher, ohne es kritisch zu hinterfragen und ziemlich am Ende des Buches. Und es erweckt den Eindruck, als sei ihr dieses diskriminierende Edikt erst sehr spät zugeflüstert worden. Zu spät, um es noch sinnbringend in das weit fortgeschrittene Manuskript einzufügen.

Soweit zu den mangelnden Recherchen über das Jahr 1912, das politisch vor allem geprägt war vom Säbelrasseln Europas am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Davon erfährt man jedoch nichts. Kein Wort auch von den Olympischen Spielen, die zu dieser Zeit in Schweden ausgetragen wurden, kein Hinweis auf den in Deutschland umstrittenen Gerhart Hauptmann, der im Dezember des Jahres den Literaturnobelpreis erhielt. Dafür umso mehr Worte um einen Fotoapparat des Typs „Kodak Brownie“ – ein Gerät aus Pappe, das damals zwei Mark kostete – mit dem der Journalist Christian Hinrichs über die Insel eilt, um im Auftrag des Chefredakteurs der „Frau von Welt“ einen Bericht über die wohlhabenden Sommerfrischler auf Norderney zu schreiben.

Dabei stößt er auf die Leiche von Henny. Sie treibt im Meer, aber weder Christian noch Viktoria glauben daran, dass Henny Selbstmord beging. Noch dazu, da Viktoria Henny kennt, die einst im Berg‘schen Haushalt lebte und der Viktoria Nachhilfe in Lesen und Schreiben erteilte.

Und auch Christian ist ein Aufsässiger, der mit den Konventionen bricht und statt wie sein Vater im Schlachthaus die Schweinehälften zu zerteilen, lieber Journalist wird. Allerdings trägt er ein düsteres Geheimnis mit sich, das zwar im Verlauf des Buches gelüftet, nicht aber gelöst wird. Und so erfährt man nicht, auf welches Schicksal Christian Hinrichs zusteuert, als er die Insel in Richtung Hamburg verlässt, wo er sich für den Tod eines Polizisten verantwortlich glaubt.

Wem das Zeitkolorit gleichgültig ist, wer eine Liebesgeschichte mag, in der der pleite gehende Adel seine schwindenden Privilegien schamlos ausnutzt und wo der Standesdünkel auch familiäre Zwietracht sät, der ist mit der auch sprachlich leichten Kost von Elsa Dix Erstling gut bedient.

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Veröffentlicht am 27.07.2020

Wie Schnaps in der Lunge

Commissaire Le Floch und das Geheimnis der Weißmäntel
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Der Einstieg ist langatmig und verlangt einen langen Atem, der Schluss zu offensichtlich und früh durchschaubar und dazwischen weigert sich Autor Jean-François Parot penetrant, ein Geheimnis zu offenbaren. ...

Der Einstieg ist langatmig und verlangt einen langen Atem, der Schluss zu offensichtlich und früh durchschaubar und dazwischen weigert sich Autor Jean-François Parot penetrant, ein Geheimnis zu offenbaren. Das der Weißmäntel nämlich. Parots erster Geschichtskrimi trägt zwar den Titel „Das Geheimnis der Weißmäntel“ – nur kommt im gesamten Buch kein einziger Weißmantel vor. Lediglich, dass der Held namens LeFloch kurzzeitig in der Rue des Blancs-Manteaux wohnt, verbindet Inhalt mit Titel.

In der französischen Sprache bedeutet floc – ohne H am Ende – soviel plumpsen. Faire floc also plumps machen. Wenn man voraussetzt, dass Parot dieses Wortspiel beabsichtigte, dann passt das schon, denn er lässt seinen Helden, das Findelkind Nicolas LeFloch, aus der Bretagne direkt hineinplumpsen ins Paris von 1760 und die Regentschaft Ludwigs XV.

Der Notariatsgehilfe erhält nach einiger Zeit Dank seiner Fürsprecher einen Job – man würde es heute wohl als Hilfsermittler bezeichnen – bei dem, was Mitte des 18. Jahrhunderts als Polizei in Paris bezeichnet werden kann. Sein Vorgesetzter Antoine Raymond Juan Gualbert Gabriel de Sartine, Comte d’Alba, zu der Zeit, während der der Roman spielt, Lieutenant Général de Police, was soviel bedeutet wie Polizeipräfekt, und dem Amt des sagen wir mal Polizeipräsidenten von Paris gleichkam, betraut ihn mit einer diffizilen Aufgabe. Ein Polizist wird der Korruption verdächtigt, dann verschwindet er. Was als scheinbar einfacher Fall von Bestechung begann, wächst sich erst zum Mord aus, dann kommt noch eine Spionagegeschichte um Ludwig XV und Madame de Pompadour hinzu.

Antoine de Sartine ist eine historische Persönlichkeit, wie Parot viele historische Persönlichkeiten auftreten lässt. Sein Held LeFloch begegnet im Pariser Karneval sogar Giacomo Casanova. Insofern betreibt Parot „name dropping“, was die Sache insofern vereinfacht, als er keine neuen Figuren erfinden muss. Gleichzeitig vermittelt der Autor damit den Eindruck historischer Authentizität. Ob diese in ihren Charakteren ebenso korrekt dargestellt ist, lässt sich nun nicht nachprüfen. Allerdings lesen sich die Beschreibungen im angehängten Glossar wie eins zu eins von Wikipedia übernommen.

In einem Paris, das als dreckig, laut, teils ordinär mit einem dichten Nebeneinander von arm und degoutant reich beschrieben wird, fehlt es letztlich an Tiefgang. Dafür nimmt Parot Dinge voraus, die erst sehr viel später tatsächlich ins Licht von Wissenschaft und Medizin rücken.

Den späteren Henker von Paris, der insgesamt fast 3000 Menschen umbrachte, schildert er als eine freundliche, hilfsbereite, ja sensible Person mit ausführlichen medizinischen Kenntnissen. Dieser Charles-Henri Sanson wird dargestellt als ein Mensch mit erstaunlichen pathologischen Erfahrungen und Wissen. Zwar studierte Sanson tatsächlich Medzin, brach das Studium jedoch aus wirtschaftlichen Gründen ab, und war als 18-Jähriger beteiligt an der Folter von Robert François Damiens. Der verübte 1757 ein Attentat auf Ludwig XV. Die Folter lässt Parot durch die Figur des Sanson recht ausführlich – zu ausführlich – schildern. Wie überhaupt einige unschöne Dinge überflüssig detailreich dargestellt werden. So entbrennt unter anderem zwischen zwei Medizinern ein fast existenzieller Streit. Der eine schwört auf den Aderlass bei jedweder Art von Krankheit – egal ob gebrochener Knochen oder Fieber – während der andere schon Ansätze heutiger Schulmedizin zeigt.

Insgesamt aber nimmt LeFloch auch Ermittlungsmethoden voraus, die erst etwa 40 Jahre später durch Eugène François Vidocq bekannt werden, der als Begründer der modernen französischen und europäischen Kriminalpolizei und insbesondere auch als Vorbild für die Arbeit von Scotland Yard gilt.

So weit, so gut. Wenn da nicht einige sprachliche Schnitzer wären, von denen mindestens einer auf dem Mist des Übersetzers gewachsen ist. Le Pont (die Brücke) ist im französischen maskulin, im Deutschen feminin. Der Übersetzer weigert sich penetrant, die Brücke zu übersetzen und spricht durchgängig von der Pont. „Der Pont Neuf . . .“ zum Beispiel. Irritierend. Klar, „die Neue Brücke“ klänge für eine der berühmtesten Seine-Brücken in Paris echt bescheuert. Aber warum nicht eindeutschen? Die Pont Neuf . . . da wüsste jeder, was gemeint ist.

Okay. LeFloch vereint zudem alle Merkmale eines Detektivs, die auch ein moderner detektivischer Romanheld hat. Egal, ob sein Name Philip Marlow, Sam Spade, Sherlock Holmes, Miss Marple oder Hercule Poirot lautet. Aber keinem wäre es eingefallen, diesen Satz zu schreiben: „Die Luft war klar und eisig und brannte wie klarer Schnaps in der Lunge.“

Wer jemals klaren Schnaps auf Lunge getrunken hat, der möge sich melden.

Das ist Quatsch, Quark, Blödsinn, hirnverbrannt – ein ebenso sprachlicher wie metaphorischer Gau. Und an den Bildern, also den Metaphern, seines Buches sollte Parot dringend noch arbeiten. Denn daran hapert’s. Selbst, wenn er das Paris von 1760 treffend gezeichnet haben sollte.

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Veröffentlicht am 21.11.2020

Jede Kuh ist intelligenter als dieses Buch

Sühne
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Es ist eines jener Bücher, für die mir die Bäume leid tun, die des Papiers wegen, auf das es gedruckt wurde, gefällt werden mussten. Wenn es neben Tschernobyl und Fukushima etwas gab, was man der Welt ...

Es ist eines jener Bücher, für die mir die Bäume leid tun, die des Papiers wegen, auf das es gedruckt wurde, gefällt werden mussten. Wenn es neben Tschernobyl und Fukushima etwas gab, was man der Welt hätte ersparen müssen, dann dieses Buch: Steffen Jacobsen – „Sühne“. Ist es schon vom Plot her gequirlte Kacke, wird die durch die eindimensionalen schwarz-weiß Figuren, die durch einen bräsigen Sprachbrei gezogen werden, nicht besser. Viele Stellen lesen sich, als seien sie per copy & paste aus einer Datenbank für Serienromane wahllos und ohne Zusammenhang aneinander gepinnt.

Es ist ein Buch, das mich maßlos geärgert hat. Dabei ist die Grundidee noch nicht mal schlecht. Ein Pharmakonzern entwickelt ein Medikament gegen eine Tropenkrankheit und stellt während der Erprobung in Äthiopien fest, dass es eine unerwartete Nebenwirkung hat: Es heilt in Windeseile auch Diabetes.

Dann aber die Entwicklung des Plots. Mir kam es vor, als habe ein 14-Jähriger seine traumatischen Pubertätserlebnisse verarbeiten wollen. Der Konzern, der auch fettes Geld mit Insulin verdient, heuert eine Killertruppe an, die alle umbringt, die mit dem Medikament in Berührung kamen. Nur ein Arzt überlebt. Als nun der Aufsichtsratsvorsitzende erfährt, dass er unheilbar Krebs hat, will er seine Geschichte biografisch veröffentlichen, was aber einigen Hintermännern im Konzern gar nicht gefällt. Sie lassen also den Mann umbringen und gleichzeitig auch den Journalisten, der als Ghostwriter die Biografie verfassen sollte. Nur dass dieser Ghostwriter ausgerechnet der Freund eines früheren Elitesoldaten ist, der einst für die Firma arbeitete, die die Morde in Äthiopien beging. Der macht sich nun daran, seinen Freund zu rächen. Dabei kommt er dem überlebenden Arzt auf die Spur, hinter dem auch die Killer her sind, weil der ja der einzige Zeuge des Massakers in Äthiopien ist.

Aber der Schwachsinn geht noch weiter: Inzwischen ist der einstige Elitesoldat selbst als Auftrags-Killer unterwegs und bringt eine Reihe Prominenter um, die alle in Ekel-Kinder-Snuff-Pornos verstrickt sind. Dabei stellt er sich aber derart dämlich an, dass seine Frau, die bei der dänischen Reichspolizei arbeitet, ihm auf die Schliche kommt. Aber sie liebt ihn ja: „Bedingungslos. Das simpelste und schwerste Unterfangen der Welt, weil du nicht leicht zu lieben bist.“ Frauenliebe aus unterbelichteter Männersicht.

In dieser Art gestelzter Dialoge nimmt sie ihm das Versprechen ab, seine Profession aufzugeben, sonst werde sie ihn verlassen. Haha, wer‘s glaubt. Außerdem muss die Alte ganz schön doof sein, wenn sie erst im fünften Band der Reihe merkt, was für‘n Macker der Erzeuger ihrer fünf Jahre alten Tochter ist.

Die Botschaft, die vermittelt wird: Kinderschänder müssen nicht vor Gericht, die darf man so umbringen. Und die Mörder von Kinderschändern tun eine gutes Werk für die Gesellschaft. Kriegsverbrecher dagegen sind alle nicht so schlimm. O-Ton Steffen Jacobsen: „Serbische Kriegsverbrecher gehen mir am Arsch vorbei. Um die soll sich derTeufel kümmern,“ lässt er seinen Helden sagen. Als ob serbische Kriegsverbrecher keine Kinder schänden.

Hab ich schon erwähnt, dass die Sprache derart platt, voller Klischees, kruder Metaphern und dummer Vergleiche ist, dass man die Verfasser der Jerry-Cotton-Hefte für den Literatur-Nobelpreis vorschlagen sollte? Gleichzeitig wird gewaltsam mit infantilem, billigem Witz versucht, eine Humorschiene zu legen. Beispiel: Als nämlich unser Held bei einem Anschlag fast zu Tode kommt, sein Bein vom gerammten Auto eingeklemmt wird, findet man ihm, wie zwei Kühe ihm tröstend das Gesicht ablecken.

Ganz ehrlich, ich halte jede Kuh für intelligenter als dieses Buch.

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Veröffentlicht am 03.08.2020

Die toten Straßen von Lissabon

Portugiesische Wahrheit
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Was erhoffen sich Autoren davon, einen - sagen wir mal, in Portugal angesiedelten - Roman unter einem portugiesisch klingenden Pseudonym zu schreiben? Was erwarten Verlage, wenn sie einen Autoren, der ...

Was erhoffen sich Autoren davon, einen - sagen wir mal, in Portugal angesiedelten - Roman unter einem portugiesisch klingenden Pseudonym zu schreiben? Was erwarten Verlage, wenn sie einen Autoren, der einen Roman schreibt, der - sagen wir mal, in Portugal angesiedelt ist - ein portugiesisch klingendes Pseudonym aufzuzwingen? Vor allem dann, wenn man als Leser nach spätestens dem zweiten Kapitel merkt, dass der Autor von Land, Leuten und Kultur so viel Ahnung zu haben scheint wie ein Tourist, der alle fünf Jahre dort zwei Wochen Urlaub verbringt.

Davon mal abgesehen, liest sich "Portugiesische Wahrheit" wie der Versuch eines Beamten, einen auf großen Schriftsteller zu machen. Luis Sellano, hinter dem sich der Schwäbische Grafiker und Illustrator Oliver Kern verbirgt, kann besser zeichnen als schreiben. Die "Portugiesische Wahrheit" ist ein Buch in Behördendeutsch, mit häufig verwendeten falschen Konjunktiven (insgesamt hat der Autor handwerkliche Probleme mit der deutschen Sprache) und zusätzlich noch einen gedankenwirren Helden, der larmoyant und selbstmitleidig daherkommt und ständig mehr oder weniger notgeil wirkend hinter Ex-Freundin Helena (eine Anlehnung an die Helena der griechischen Mythologie mag beabsichtigt sein) herstarrt.

Gleichzeitig hat es der 40-Jährige nicht geschafft, sich von Muttis Rockzipfel zu lösen, die matriarchalisch erst den Mann, dann den Sohn und schließlich die Tochter aus dem Haus treibt, ohne dass diese sich tatsächlich ihrer Dominanz entziehen. Nagut. Der Vater scheint es schaffen. Er nimmt sich eine portugiesische Geliebte und taucht bei ihr unter. Kontakt zur einstigen Familie vermeidet er. Und scheint damit der einzig Schlaue in diesem Konglomerat zu sein.

Aber diese Mutti-Geschichte ist aufgesetzt wie auch der Plot, von dem man selbst nach 120 Seiten noch nicht weiß, wohin er führen soll. Da ist einerseits die bei der Renovierung des Swimming-Pools des "Hotel Oriente" im Betonfundament gefundene Leiche. Dummerweise ist ausgerechnet in dem Hotel auch Mutti abgestiegen, die ihren Sohn in Lissabon besucht. Ein Lissabon übrigens, das dem Leser außer ein paar hingekritzelte Straßennamen, Bezeichnungen für Viertel nichts bietet. Wirklich nichts, was über das Studium eines Online-Stadtplans oder schlechten Reiseführers hinausgeht.

Wenn Henrik Falkner eine Straße entlang flaniert oder fährt, dann hat diese Straße kein Leben, keine Atmosphäre, keine Geschichte. Dabei hätte es genügt, wenn Kern-Sellano einmal Thomas Manns "Felix Krull" gelesen hätte, um zu lernen, wie man einen Leser an die Hand nimmt und ihn durch Lissabon führt.

Da taucht andererseits immer wieder der verstorbene schwule Onkel dieses Henrik Falkner auf. Ich unterstelle, die phonetische Ähnlichkeit zu Henry Faulkner ist gewollt. Damit ist aber  die Ähnlichkeit zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen Charakteren auch schon erschöpft. Im Gegensatz zu dem Künstler, Exzentriker und Lebemann Faulkner ist Falkner einfach nur peinlich, ohne Persönlichkeit und Charakterstärke.

Dort, wo eigentlich die Handlung des Buches vorangetrieben werden müsste, denkt Falkner; widerspricht sich innerhalb eines Absatzes, versucht das Innere seines Gegenübers zu lesen und zu interpretieren, wirft dem Leser ein wirres Geflecht aus motivationslosen Gedankenfetzen entgegen, der sich darin verfängt, aber weder einen Ausweg findet noch einen angeboten bekommt. Die typische Arbeit eines Schreibers, der ohne Plan an sein Werk herangeht, dann irgendwann nicht mehr weiter weiß, aber diese Hängepartie auf Teufel komm raus und geh wieder rein überwinden muss.

Eben dieser Onkel vererbte Falkner sein Haus mitsamt Antiquariat in Lissabon, der daraufhin seinen Job als Kriminalbeamter in Deutschland hinschmiss, an den Tejo zog und dort nun von einem Kriminalfall in den nächsten stolpert. Immerhin ist "Portugiesische Wahrheit" schon der fünfte Band der Reihe.

In anderen Kritiken erfuhr ich, man müsse die ersten vier Bände gelesen haben, um die wirren Gedanken und Anspielung des Autor verstehen zu können. Aber genau das ist der falsche Ansatz, Herr Kern-Sellano. Sie schreiben keine Fortsetzungsserie. Und genau deshalb muss jeder Roman für sich stehen.

Das schönste am Buch, ich gestehe es, ist die Gestaltung des Umschlags. "punchdesign" hat sich etwas einfallen lassen, um Portugal anhand seines Lichtes, seiner Architektur, seiner Farben dem potenziellen Leser als Augenschmaus zu präsentieren. Die Coverdesigner haben optisch das geschaffen, worum sich der Autor verbal noch nicht einmal bemüht.

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