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Veröffentlicht am 09.08.2020

Wenn 100 Worte reichen müssen

Vox
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Vox" ist die literarische Stimme zum "Women´s March", zur MeToo-Debatte, zu Pussy
Riot und dem Unbehagen, dass längst überwunden geglaubte Geschlechterbilder und
Gender-Identifikationen plötzlich zurückführen ...

Vox" ist die literarische Stimme zum "Women´s March", zur

MeToo-Debatte, zu Pussy
Riot und dem Unbehagen, dass längst überwunden geglaubte Geschlechterbilder und
Gender-Identifikationen plötzlich zurückführen könnten in eine Gesellschaft, wie wir sie
seit, sagen wir mal, den 50-er Jahren überwunden glaubten. In eine Gesellschaft, in der
Frauen vor allem Ehefrauen und Mütter sein sollen, eine Gesellschaft, in der Mädchen
buchstäblich mit der Gewisseheit aufwachsen, dass sie nichts zu sagen haben.

Jean McClellan, die Hauptfigur dieses Romans in einer womöglich nicht zu fernen
Zukunft, war einmal Linguistin, arbeitete in einem bedeutenden wissenschaftlichen
Projekt. Doch all das zählt nicht mehr, seit die "Reinen" das Sagen in Amerika übernahmen,
gesteuert von einem fundamentalistischem Geistlichen, der einen unheilvollen Einfluss auf
den US-Präsidenten ausübt. Jetzt ist Jean nur noch die Ehefrau von Patrick, Mutter von vier
Kindern, darunter einer sechsjährigen Tochter, die zu verstummen droht.

Denn Frauen und Mädchen in dieser gar nicht schönen neuen Welt dürfen nur noch bis zu
100 'Wörter täglich über die Lippen bringen. In der neuen Geschlechter-Apartheid besuchen
Jungen und Mädchen unterschiedliche Schulen - denn wozu sollen Mädchen lesen, wozu
ihren Intellekt schulen, wenn sie sowieso nur Ehefrau und Mutter sein sollen? Ein
"Wortzähler", am Handgelenk achtet darauf, dass Frauen sich nicht zu oft zu Wort melden -
wird das tägliche 100 Worte-Limit überschritten, sind schmerzhafte Stromschläge die
Konsequenz.

Zugleich ist die neue Welt ein perfekter Überwachungsstaat, der alle Fluchtmöglichkeiten
wie etwa den Gebrauch von Zeichensprache ausschließt. Für vorehelichen Sex, für
Homosexualität gibt es Umerziehungs- und Zwangsarbeitslager. Jean hatte die Zeichen der
Zeit verkannt, als ihre lesbische Freundin Jacko Protestmärsche organisierte. Nun muss sie
hilflos beobachten, wie die Spaltung der Gesellschaft in der eigenen Familie Einzug hält.
Doch dann tut sich plötzliche eine Chance auf, zumindest vorübergehend die Sprache
wieder zu gewinnen...

Ich habe "Vox" innerhalb von 24 Stunden verschlungen - das Thema war einfach packend,
und scheint mittlerweile längst nicht mehr überzeichnet. Ein Roman, der eine Welt schlildert,
die es zum Glück noch nicht gibt. Aber nicht erst seit

MeToo, nicht erst seit den Berichten
über die Entgleisungen eines Donald Trump ("Grab them by the pussy") ist das Thema, wie
Frauen von Männern gesehen und behandelt werden, wo die "gläsernen Decken" sind und
wo trotz aller emanzipatorischer Erfolge noch immer Abgründe zwischen den Möglichkeiten
für Männer und Frauen stehen. Die Charaktere sind glaubwürdig - Jean ist beileibe keine
Kämpferin für Frauenrechte, sondern hat sich lange eingerichtet in der Haltung, dass doch
alles nicht so schlimm sei. Es ist spannend zu lesen, wie sie plötzlich ihre bisherigen
Entscheidungen überdenkt und die Möglichkeiten zum Widerstand nutzt - und lernt, sie
steht nicht allein.


Zu viel sollte hier nicht verraten werden, aber ich finde: Ein wichtiges Thema, gar nicht so
weit hergeholt mit Identifikationsfiguren, denen der Leser einen Ausweg aus dem Dilemma
wünscht - und gleichzeitig fürchtet, dass ein happy end für alle ausgeschlossen ist.

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Veröffentlicht am 09.08.2020

Brutal-poetische Liebesgeschichte

Uns gehört die Nacht
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Schon der Anfang von „Uns gehört die Nacht“ wirkt eigentlich wie ein dramatischer Schlussakord wirkt: Ein Mann, eine Frau, ein geladenes Gewehr in einem Motelzimmer. Ein Showdown, ein sich-Belauern. Wie ...

Schon der Anfang von „Uns gehört die Nacht“ wirkt eigentlich wie ein dramatischer Schlussakord wirkt: Ein Mann, eine Frau, ein geladenes Gewehr in einem Motelzimmer. Ein Showdown, ein sich-Belauern. Wie ist es dazu gekommen? Und dann der Szenenwechsel, die Rückblende auf die erste Begegnung. Das hat etwas von einem Film Noir an sich, und auch die Sprache erinnert an das Genre - bildhaft, spröde und doch gleichzeitig sprachgewaltig, ja poetisch. Wie einer der ersten Sätze: "Die Wärme macht aus den Pfützen Parfüm: grasig, medizinisch, überirdisch."

Dem starken Auftakt folgt auch der Rest von Jardine Libaires Roman über die obsessive Beziehung zwischen Elise Peres, der in einer Sozialwohnung, in den „projects“ groß gewordenen Tocher einer Purtoricanerin, die ihren Vater nie kennengelernt hat, und Jamie Hyde, dem „golden boy“ der besseren Ostküstengesellschaft.

Elise ist von zu Hause abgehauen, lebt in einem abbruchreifen Haus. Nebenan wohnt der Yale-Student mit seinem besten Freund aus Kinderzeiten. Die Kontraste könnten nicht größer sein. Wären sie nicht Nachbarn, sie hätten sich nie getroffen. Elise ist fasziniert von dem jungen Mann aus elitärer Familie, der so ganz anders ist als diejenigen, die sie bisher kannte. Jamie fühlt sich fast abgestoßen von der Gewöhnlichkeit der jungen Frau, ihrer Aggressivität, ihrer einfachen Sprache und fehlenden Bildung. Und doch gerät er immer mehr in ihren Bann. Erst ist es der Sex, die einzige Sprache, in der sie zueinander zu finden scheinen. Doch dann erkennt er, dass da mehr ist als eine reine Sommeraffäre. Seine Familie wiederum findet Elise völlig unakzeptabel.

Die Geschichte von Elise und Jamie, sie ist keine ins 21. Jahrhundert gerückte Wiederauflage von „love story“, der Liebenden aus zwei Welten. Zuckersüße Romantik gibt es nicht, wohl aber Begehren, Begierde, ein magnetisches Verhältnis zwischen Anziehung und Abgestoßen werden. Vom schnellen Sex bis zur Erkenntnis „Ich bin nichts ohne Dich.“

Auch der junge Mann aus den besseren Kreisen hat mit seinen Dämonen zu kämpfen, war bislang vor allem Projektionsfläche für die Wünsche und Erwartungen anderer. Elise ist da wie ein Realitätscheck, eine Lebendigkeit, die es für Jamie bisher nie so gab. Statt der stets leicht gedämpften Existenz in Pastelltönen explodiert plötzlich das Leben.

Es macht einfach Spaß, in Libaires Sprache einzutauchen, voller Bilder und dann wieder drastisch, rauh und hart wie ein Rap-Song. Wer auf eine zarte Liebesgeschichte gehofft hat, ist von diesem Buch möglicherweise enttäuscht. Hier wird nichts angedeutet, hier entfaltet sich das Leben in seiner ganzen Intensität, Abgründen und Gier. Geht das Gewehr letztendlich los? Das muss der Leser selbst herausfinden.

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Veröffentlicht am 08.08.2020

Literarischer Faustschlag voll brachialer Gewalt

Der Boxer
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Rasant, genial geschrieben und ausgesprochen brutal - in seinem neuen Roman «Der Boxer» geht der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch über zahlreiche Leichen. Er zeichnet ein - ziemlich blutiges ...

Rasant, genial geschrieben und ausgesprochen brutal - in seinem neuen Roman «Der Boxer» geht der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch über zahlreiche Leichen. Er zeichnet ein - ziemlich blutiges - Sittengemälde eines Gangsterlebens der Vorkriegszeit.

Brachial, brutal, gewalttätig: Szczepan Twardochs neuer Roman «Der Boxer» ist Literatur noir mit einem schlagkräftigen Helden vom Kaliber eines Meyer Lansky. Denn der Jakub Shapiro, der Titelheld, ist nicht nur ein Boxer, er ist auch ein Gangster, die rechte Hand des «Paten» Kaplica. Der polnische Originaltitel des Buches ist «Der König» – und um zum König des kriminellen Warschaus aufzusteigen, ist Shapiro bereit, alles zu opfern.

Twardoch schreibt über Machos und Gangster, Huren und prügelnde Kunden, über Zionisten und fromme Juden. Denn Shapiro, ein Jude, hat für den Paten das Sagen in den Straßen und Gassen des jüdischen Viertels, kassiert Schutzgeld auf dem Kerelec Markt, vollstreckt brutale Strafen, rächt aber auch misshandelte Prostituierte, die unter seinem Schutz stehen. Er ist einer, der im Maßanzug rumläuft, aber auch im armen Teil des jüdischen Warschau als «einer von uns» gesehen wird. Männer bewundern oder hassen ihn, und Frauen sind ihm nur zu gerne willig.

In seiner Beschreibung des alten Muranow zeichnet Twardoch das Bild eines Warschaus, das im Zweiten Weltkrieg unterging, einer Stadt, in der Juden und Polen in zwei Welten lebten, die oft von gegenseitigem Misstrauen geprägt waren.Dieses alte Warschau existiert nicht mehr, aber für sein Gesellschaftsbild hat Twardoch sehr genau recherchiet.

Der Großteil von "Der Boxer" spielt im Jahr 1937 – zwei Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg. Es war auch die Zeit, als in Polen die Nationaldemokraten das Sagen hatten mit einer Politik, die sozusagen "Polen first" zu ihrer Maxime machte - und Pole, das hieß nur katholisch. Die vielen ethnischen und religiösen Minderheiten , die in der Vorkriegsgesellschaft ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, waren "die anderen".

In «Der Boxer» wird daher nicht nur flaschenweise Wodka getrunken und gekokst, geprügelt und gemordet – es geht auch um den 1937 eingeführten Numerus Clausus für jüdische Studenten an polnischen Hochschulen, um die sogenannten Ghetto-Bänke in Hörsälen. Die Frage der Emigration nach Palästina stellt sich auch für Shapiro – sein jüngerer Bruder, ein Zionist, drängt ihn ebenso, Polen zu verlassen, wie seine Frau Emilia. Seine ehemalige Geliebte dagegen, die Bordellschefin Ryfka, versucht ihm den Gedanken auszureden.
Das Politische und das Persönliche vermischen sich für den Boxer zu einem Durcheinander, das zu einem Strudel der Gewalt führt. Denn sein im letzten großen Kampf im Ring bezwungener Gegner gehört zu den Kämpfern der extremen Rechten, dessen Vater, ein führender Staatsanwalt, gegen den «Paten» und Shapiro kämpft. Und dann ist da noch Anna, die Schwester des Kontrahenten, die sich Shapiro als Liebhaber nimmt, um den verhassten Vater zu provozieren.

All das wäre schon temporeich, dramatisch und aktionsgeladen genug, um Leser zu fesseln. Doch Twardoch führt seine Leser auch noch mit seiner Erzählweise in die Irre. Wenn sein Ich-Erzähler Rückschau auf die Vergangenheit des Jahres 1937 hält, scheint der Verlauf der Erzählung eigentlich ganz klar zu sein.Und es gibt noch so manchen dramaturgischen Überraschungsmoment, den ich hier nicht verraten will.

Die Sprache des Buchs ist ziemlich genial, da werden Bilder gezeichnet, die Teils an die Bilder von Marc Chagall erinnern und teils an die Filme von Tarrantino.Es liegt nicht allein am Gangstermilieu, dass das Blut manchmal von den Buchseiten zu triefen scheint. Sicher kein Buch für allzu sensible Gemüter, aber sehr kraftvoll, bildstark und eindringlich.

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Veröffentlicht am 08.08.2020

Das Trauma der Überlebenden

Gezeichnete
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Manchmal ist auch das Überleben tödlich. Die Erzählsammlung der israelischen Schriftstellerin Irit Amiel gibt eine Ahnung vom Trauma der Holocaust-Überlebenden, das bis in die Gegenwart andauert.


Sie ...

Manchmal ist auch das Überleben tödlich. Die Erzählsammlung der israelischen Schriftstellerin Irit Amiel gibt eine Ahnung vom Trauma der Holocaust-Überlebenden, das bis in die Gegenwart andauert.


Sie haben überlebt, aber sie blieben gezeichnet, auch
70 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager. Sie verließen
Europa, suchten eine Zukunft im jüdischen Staat – und fühlten sich
auch dort allein, unverstanden, zum Schweigen verdammt. Die
israelische Schriftstellering Irit Amiel erzählt in ihrer
Kurzgeschichtensammlung «Gezeichnete» Geschichten vom Leben nach dem
Holocaust, Geschichten, die deutlich machen, dass Überleben alleine
kein happy end bedeutet.

Was ist hier Fiktion, und wo werden Nachbarn, Freunde, Bekannte
skizziert? Immer wieder beschreibt Amiel Orte und Straßen, die sie
selbst kennt, das Ghetto von Tschenstochau, in dem sie als Kind
lebte, damals, als sie noch Irena Librowicz hieß. Die Menschen, die
sie beschreibt, sind ihre Altersgenossen aus Polen, aus Litauen, aus
der Ukraine, für die mit dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen
Besatzung die Kindheit endete und der Kampf ums Überleben begann.

In ihrem Buch setzt Amiel den Toten wie den Überlebenden ein Denkmal,
lässt ahnen, wie hoch der Preis Überlebens ist, wenn von Freunden,
Familie, Klassenkameraden nur die Erinnerung bleibt und das wissen,
alleine übrig zu sein, als letzter Zeuge, dass sie je gelebt haben.
«Nur ich blieb übrig, eine Gezeichnete, um sich zu erinnern und zu
erinnern, zu weinen und bis zum letzten Atemzug darüber zu
schreiben», heißt es in einer der Erzählungen. Das könnte auch ein
autobiographischer Satz von Amiel sein.

Die Einsamkeit der Opfer in den Ghettos und Todeslagern, den
Hunger, die unmenschlichen Lebensbedingungen, die Angst vor
Entdeckung und Verrat bei denjenigen, die im Untergrund mit falschen
Papieren überlebten – das ist nur ein Teil der Geschichte von Rafael
und Klara, Bruria und Elkana und all der anderen, die Amiel auf
wenigen Seiten porträtiert. Manches davon ist aus der
Erinnerungsliteratur bekannt, aus Gedenkstättenbesuchen.

Amiels Geschichten enden jedoch nicht 1945, sie beschreiben auch den
Neuanfang, die Lager für Displaced Persons, für das menschliche
Strandgut aus ganz Europa. Sie schildern das Leben in Israel, wo die
traumatisierten europäische Juden auf Zionisten stießen, vor denen
sie sich für ihr Schicksal geradezu rechtfertigen mussten und von
denen sie, so empfanden sie es jedenfalls, irgendwie verachtet
wurden.

Denn sie waren nicht die Avantgarde, die ihr Schicksal mit der
Auswanderung nach Palästina in den 20-er oder 30-er Jahren in die
Hand genommen hatten, sondern die Schwachen, die Opfer, die aus einem
vom Krieg verwüsteten Kontinent kamen und sich schon wieder in einem
Land unter fortwährender Bedrohung fanden.

Die Protagonisten in Amiels Geschichten schwiegen, wie viele
Überlebende, Jahrzehnte lang. Doch die Vergangenheit ruhte nur, wurde
mit zunehmendem Alter immer lebendiger. Manche der «Gezeichneten»
finden als alte Menschen doch noch Frieden mit ihrer Vergangenheit,
andere scheitern endgültig an ihrem Lebenstrauma. Es sind knappe,
leise Geschichten ohne Pathos, aber mit viel Traurigkeit und einem
bißchen Hoffnung.

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Veröffentlicht am 07.08.2020

Kalter Krieg in Afrika und eine einsame Kämpferin

American Spy
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Im Klappentext zu "American Spy" wird Autorin Lauren Wilkinson gleich in ihrem Debütroman mit John Le Carré verglichen. Das ist eine Steilvorlage - und wird beiden nur teilweise gerecht, denn sie liegen ...

Im Klappentext zu "American Spy" wird Autorin Lauren Wilkinson gleich in ihrem Debütroman mit John Le Carré verglichen. Das ist eine Steilvorlage - und wird beiden nur teilweise gerecht, denn sie liegen Generationen auseinander mit ganz verschiedenen Lebenserfahrungen und Perspektiven. Gewiss, auch "American Spy" ist ein Agententhriller und es geht um die Auseinandersetzungen im Kalten Krieg - doch da enden auch schon die Parallelen.

Denn wo sich George Smiley und Co meist zwischen Berlin und Prag, Budapest und Moskau und natürlich Moskau belauerten und betrogen, ist Ich-Erzählerin Marie Mitchell eine schwarze Amerikanerin in der Reagan-Ära. Anders als die Protagonisten im "Circus", die meist schon während ihrer Jugendzeit an einer der Eliteuniversitäten vom einem oder anderen Geheimdienst angeworben wurden, , stößt Marie immer wieder auf Widerstände in ihrer Karrierre beim FBI. Sie ist eine Frau und sie ist schwarz - das sind zwei Gründe für ihren Boss, die intelligente und ehrgeizige Polizistentochter von allen wichtigen Aufgaben fern zu halten. Bis die CIA Marie genau wegen dieser beiden Eigenschaften einen Job anbietet.

Es gilt, den charismatischen Präsidenten von Burkina Faso, Thomas Sankara, zu kompromittieren. Der "Che Guevara" Afrikas kommt zu einem Besuch zu den Vereinten Nationen nach New York - und auch die stramm antikommunistische Marie ist beeindruckt von dem Mann, auf den sie als "Honigfalle" angesetzt ist.

Wilkinson greift zu einem in Agententhrillern eher ungewöhnlichen Mittel, um den Plot zu entfalten. Die Geschichte wird nicht linear, sondern überwiegend im Rückblick erzählt. Zu diesem Zeitpunkt führt Marie mit ihren kleinen Söhnen ein zurückgezogenes und unauffälliges Leben in einer Kleinstadt an der Ostküste. Als ein Unbekannter in ihr Haus eindringt und sie ihn in Notwehr tötet, flieht sie auf die Karibikinsel Martinique. In Tagebüchern an ihrer Söhne beschreibt sie, wie es so weit kam - für den Fall, dass sie von ihrer letzten, selbst gesteckten Mission nicht zurückkommt. Zugleich ist ihr Bericht eine Schilderung schwarzer Emanzipation, von Rassismuserfahrungen, von selbstgesteckten Grenzen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft.

Es geht auch um die Bewegungen innerhalb des schwarzen Amerikas der 60-er und 70-er Jahre, die Black Panther etwa und die Solidarisierung mit den Befreiungsbewegungen in Afrika, wo viele Staaten erst seit wenigen Jahren in die Unabhängigkeit entlassen worden waren oder sie von den alten Kolonialmächten ertrotzt hatten. Dabei war der Kontinent bereits zu einem Spielfeld des Kalten Krieges geworden, wo so mancher heiße Stellvertreterkrieg ausgefochten wurde und die Gier auf die reichen Bodenschätze und Rohstoffvorkommen etwa im Kongo (der damals noch Zaire hieß) geweckt wurde.

Wer einen actionreichen Spionageroman erhofft hat, wird möglicherweise von "American Spy" enttäuscht sein. Statt dessen steckt sehr viel Reflektion und Beobachtung auf den gut 360 Seiten - und hier ist der Vergleich mit dem ja auch eher nachdenklichen John le Carré und seinen düster-intelligenten Spionageromanen dann wieder durchaus angemessen. Dabei geht es auch um schwarzes Selbstverständnis und Identität, um die Konfrontation mit dem "Mutterkontinent", bei der Wilkinson erfrischend frei ist von romantischer Verklärung. Anders als viele schwarze Amerikaner, die ich in Afrika traf und die oft ganz überrascht waren, wie unmittelbar sie als Amerikaner erkannt und wahrgenommen wurden und nicht etwa mit der dortigen Gesellschaft verschmelzen, versucht Marie bei ihrer Mission in Burkina Faso gar nicht erst die eigene Afrikanisierung - dazu sind ihr fließendes Wasser und westliche Toiletten viel zu wichtig. Lieber hält sie sich an die Expat-Szene, gleich welcher Hautfarbe.

Vor allem aber geht es immer auch um den Zustand der USA , die ein entscheidender Grund dafür sind, dass Marie vor ihrem Aufbruch versucht, ihre Söhne mit Geld, Macht und Handlungsfähigkeit auszustatten, denn "für euch, für schwarze amerikanische Jungs, bedeutet ein Leben in der Mittelschicht noch lange keine Sicherheit". Bei diesem Satz kann man ja gar nicht anders, als an George Floyd zu denken, an Trayvon Martin, Michael Brown oder Eric Garner. Da könnte Marie eigentlich desillusioniert oder pessimistisch sein, doch in ihrem Schreiben an ihre Söhne hofft sie, dass diese zu "Akteuren des Wandels" werden, die sich gegen Ungerechtigkeit zur Wehr setzen und eine bessere Welt schaffen. Eine Aufgabe, die klar größer und schwieriger ist, als mal eben gegnerische Agenten zu eliminieren.

In den derzeitigen Rassismusdebatten gibt es viele selbstgerechte und moralinsaure Töne, die die wichige und richige Auseinandersetzung trüben. Lauren Wilkinson schafft es ganz ohne erhobenen Zeigefinger viele dieser Fragen und Erfahrungen anzusprechen und dabei einen spannenden, intelligenten Thriller zu schreiben, der neugierig auf das macht, was diese Autorin in Zukunft in Angriff nimmt.

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