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Veröffentlicht am 25.08.2020

Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen …

Schicksalhafte Zeiten
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„Mir fehlt Edith. … Ich habe oftmals das Gefühl, wird sind nicht vollständig ohne sie.“ (S. 290)
Nur ein Wunder kann Luise, Margot und Christa noch helfen, wenn sie Edith je wiedersehen wollen. Zum Glück ...

„Mir fehlt Edith. … Ich habe oftmals das Gefühl, wird sind nicht vollständig ohne sie.“ (S. 290)
Nur ein Wunder kann Luise, Margot und Christa noch helfen, wenn sie Edith je wiedersehen wollen. Zum Glück ist die Jüdin schon vor dem Krieg mit ihrem Mann in die Schweiz emigriert. Sie halten den Kontakt über Briefe, und in jedem schwingt die Hoffnung mit, dass der Krieg bald vorbei ist und die Nazis mit ihren menschenverachtenden Taten dann nicht mehr an der Macht sein werden – und Edith endlich nach Berlin zurückkehren kann.

Den 3. Teil ihrer Hebammensaga hat Linda Winterberg in einem besonders dunklen Kapitel deutscher Geschichte angesiedelt, dem 2. Weltkrieg. Sehr fesselnd und aufwühlend erzählt sie, wie die drei Freundinnen versuchen, sich auch in dieser Zeit ihre Menschlichkeit bewahren. „Irgendwann hat dieser Spuk ein Ende. Man muss nur irgendwie durchkommen und dabei sein Gewissen bewahren. Wir sind Hebammen, wir holen das Leben auf die Welt, wert oder unwert gibt es bei uns nicht.“ (S. 16) Die Hebammen müssen täglich miterleben, wie mit dem angeblich „unwertem“ Leben umgegangen wird. Da werden Frauen im 5. Monat zur Abtreibung gezwungen und gleichzeitig sterilisiert, weil sie nicht der Norm entsprechen. Den Ostarbeiterinnen nimmt man ihre Kinder meist direkt nach der Geburt weg und auch die zum Tode verurteilten Schwangeren in den Gefängnissen überleben die Geburt ihrer Babys nur für 6 Monate, so lange sie sie stillen.

10 Jahre sind seit dem letzten Buch vergangen. Luise ist keine Oberhebamme mehr, weil sie sich geweigert hat, in die NSDAP einzutreten. Margot konnte die Zwangssterilisationen nicht mehr ertragen und arbeitet erst als niedergelassene Hebamme, behandelt die Zwangsarbeiterinnen in den Lagern, und arbeitet später sogar als Gefängnishebamme. Als sie dort eine Bekannte entdeckt, riskiert sie ihr eigenes Leben, um diese zu retten.
Doch egal wo und unter welchen Bedingungen die Freundinnen den Schwangeren helfen (im Krankenhaus, Luftschutzkeller, Bunker, Lager oder einer Ruine), sie unterliegen immer strengster Kontrolle und müssen alles genau notieren, damit die nationalsozialistische Gesundheitspolitik eingehalten wird. Bei Nichtbeachtung droht Gefängnis und Zwangsarbeit. Die Angst vor einer Entdeckung und Anzeige schwingt immer mit – und die Angst vor den Bomben, die immer öfter fallen.
Ich habe Luise, Margot und Christa für ihrer Stärke und Courage bewundert. Sie haben stets Mitgefühl gezeigt und ihren Patientinnen so gut wie möglich geholfen, egal welcher Gesinnung oder Abstammung diese waren.

Seit dem ersten Band bin ich ein großer Fan der Hebammensaga und beeindruckt, wie anschaulich die Autorin das komplexe Thema Geburtshilfe und die besonderen Erschwernisse während des Krieges umgesetzt hat.
Das Buch zeigt aber nicht nur die Schrecken der Nazizeit und des Krieges, sondern auch die wunderbare Freundschaft und den Zusammenhalt der Freundinnen. Es ist auch eine Geschichte voller Hoffnung. Luise und Christa sind beide in „unpassende“ Männer verliebt – haben sie trotzdem eine Chance auf ihr Glück?

5 Sterne und meine Leseempfehlung (für die ganze Reihe)!

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Veröffentlicht am 24.08.2020

Trügerische Idylle

Jasmunder Geheimnisse
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Richard Grubens 4. Fall führt ihn auf die Halbinsel Jasmund auf Rügen. Er besucht seine Freundin Jette, die den Altar der Dorfkirche in Hollvitz saniert. Als er die Leiche von Susanne Ortlepp entdeckt, ...

Richard Grubens 4. Fall führt ihn auf die Halbinsel Jasmund auf Rügen. Er besucht seine Freundin Jette, die den Altar der Dorfkirche in Hollvitz saniert. Als er die Leiche von Susanne Ortlepp entdeckt, die er auf Jettes Bitte hin am Abend zuvor mit auf die Insel gebracht hat, ist ihm sofort klar, dass deren Tod kein Unfall gewesen sein kann. Dafür sind die Umstände zu ungewöhnlich. Außerdem hatte sie von einer ganz großen Entdeckung geschwärmt, die Hollvitz weltberühmt machen würde – Genaueres wollte sie ihnen am nächsten Tag erzählen.

„Jasmunder Geheimnisse“ ist die langersehnte Fortsetzung der Reihe von Anja Behn um den Kunsthistoriker Richard Gruben.
Bei seinem letzten Fall (Kalter Sand) hat er zusammen mit Jette den Tod von deren Schwester aufgeklärt. Dabei haben sie sich ineinander verliebt und sind später ein Paar geworden. Als sie jetzt für 7 Monate den Auftrag auf Rügen annimmt, ist er enttäuscht. Durch seinen kleinen Sohn ist er an Dortmund gebunden, eine Fernbeziehung wäre zu kompliziert. Außerdem hat er das Gefühl, dass Jette ihm etwas verheimlicht. „Hollvitz sollte eine Art Traumabewältigung für mich werden. Eine Herausforderung, der ich mich jeden Tag neu stellen muss. Viel Arbeit bedeutet keine Zeit zum Nachdenken.“ (S. 77)
Susanne Ortlepp arbeitete bei der Landesdenkmalpflege Schwerin und war für die Sanierung der Hollvitzer Kirche zuständig. Sie entstammte einer Politikerfamilie und wollte selbst bei der nächsten Landtagswahl antreten.

Zusammen mit Jette und dem Polizisten Bert Mulsow geht Richard der Frage nach, was Susanne eigentlich entdeckt hatte und ob der Täter verhindern wollte, dass Touristen und Fachleute das beschauliche Dörfchen überrennen oder ob er einen ganz persönlichen Grund hatte, die zukünftige Politikerin aus dem Weg zu räumen. Bei ihren Nachforschungen stoßen sie auf ein dunkles Kapitel der DDR-Geschichte. Die Besitzer des ehemaligen örtlichen Kalkwerkes und der dazugehörigen Werkssiedlung wurden damals enteignet, das Werk in ein Kinderheim umgewandelt und Bewohner grenznaher Gebiete in die Siedlung zwangsumgesiedelt.
Heute suggeriert Hollvitz wieder eine trügerische Idylle mit der Kirche als Mittelpunkt. Das Dorf liegt im Hinterland der Insel, fernab von Massentourismus uns Bauboom. Und die Bewohner wollen auch, dass das so bleibt …

Anja Behn schreibt sehr fesselnd über (alte) Schuld, Ängste, Geheimnisse und menschliche Abgründe. Die Handlung ist sehr dicht und kommt mit nur wenigen Protagonisten aus – neben Richard und Jette sind das vor allem der Pastor des Dorfes, der seine Kirche unbedingt erhalten will, die alte Ruth, deren verstorbener Mann die Ortschronik führte und an die sich Susanne wegen ihrer Entdeckung gewandt hatte, und den Nachfahren der Besitzer des Kreidewerkes, die ihren Besitz nach der Wendet rückübereignet bekamen. Dadurch erinnert der Krimi schon fast an ein Kammerspiel. Das wird durch die Konzentration auf wenige Handlungsorte, vor allem die Kirche, die Werkssiedlung und Jettes Häuschen noch verstärkt.

5 Sterne für diese starke Fortsetzung. Ich hoffe, dass Richard noch in weitere Fälle stolpern wird.

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Veröffentlicht am 14.08.2020

Die Wahrheit

Zwei fremde Leben
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1973 will Ricarda in der Dresdner Frauenklinik ihr Kind entbinden. Da es bei der Geburt Probleme gibt, spritzt ihr der Arzt etwas und sie dämmert weg. Als sie wieder aufwacht wird ihr gesagt, dass das ...

1973 will Ricarda in der Dresdner Frauenklinik ihr Kind entbinden. Da es bei der Geburt Probleme gibt, spritzt ihr der Arzt etwas und sie dämmert weg. Als sie wieder aufwacht wird ihr gesagt, dass das Kind eine Totgeburt war. Das Brisante dabei ist, dass der Arzt ihr Vater und schon die ganze Zeit gegen das Kind gewesen ist. Ricarda bekommt den Leichnam ihres Babys nicht zu sehen und kann darum nicht an dessen Tod glauben. Sie ist überzeugt, dass ihr Vater ihr das Baby weggenommen hat und will das beweisen.

Zufällig erfährt der junge Kriminalpolizist Thomas Rust davon, dessen Frau wegen Schwangerschaftsproblemen auf der gleichen Station liegt. Ihm ist in der bewussten Nacht ein Auto mit Berliner Kennzeichen aufgefallen, das am Hinterausgang der Klinik wartete. Rust ist sehr ambitioniert und hat das Gefühl, dass da irgendetwas nicht stimmt. In Absprache mit seinem Vorgesetzten und dem seines Stasi-Führungsoffiziers beginnt er nachzuforschen und bringt damit sich, seine Frau und sein ungeborenes Kind in Lebensgefahr.

1989 versucht die 16jährige Claudia Behling mit einer Gruppe Gleichaltriger aus einer Laune und erster Verliebtheit heraus über die tschechische Grenze und Ungarn nach Österreich zu kommen. Sie wird erwischt und zu ihren Eltern zurückgebracht, danach erfährt sie, dass sie adoptiert wurde. „Es kam ihr vor, als wäre ihr bisheriges Leben nur eine Projektion, als wäre sie nur eine Statistin in einem Film. … Und sie war gefangen in dieser Familie, in diesem Haus, in dieser Welt.“ (S. 66) Als im Herbst die Grenze öffnet, packt sie ihre Sachen und verschwindet.

Frank Goldammer zeigt das schwierige Leben der Menschen in der DDR, das oft einem Balanceakt oder Versteckspiel gleicht, und wie es ihnen nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung ergeht. Sie werden abgewickelt, genau wie ihre ehemaligen Betriebe, und fühlen sich oft als Menschen 2. Klasse.
Man spürt den Schmerz, die Aussichtlosigkeit und Hoffnungslosigkeit seiner Figuren sehr direkt. Ich habe mit Ricarda, Claudia und Rust mit gefiebert und gelitten.
Vor allem die beiden Frauen taten mir unglaublich leid.

Obwohl Ricardas Eltern und ihr Mann ihr immer wieder versichern, dass es kein Kind gibt, verbringt sie die nächsten 20 Jahre mit der Suche nach ihm, zerstört damit ihre Ehe und verliert fast alle Freunde. „So eine Suche kann ganz schön einsam machen.“ (S. 317) Sie findet auch immer wieder Indizien, aber nie Beweise, nie das Kind, also glaubt ihr auch niemand. Im Gegenteil, man hält sie für verrückt und macht ihr das Leben schwer. Sie ist zu unbequem für den Staat und ihren Vorzeigevater, den berühmten Frauenarzt mit Veröffentlichungen und Reisen in den Westen.

Claudia geht es ähnlich. Sie hält den Leistungsdruck und die Enge zu Hause nicht mehr aus. Ihr Vater ist ein hoher Partei- und Stasifunktionär, die Anforderungen an sie sind extrem hoch. Vor allem ihre Mutter macht es ihr nie leicht. Um sie endgültig zu strafen, vernichteten ihre Eltern alle Adoptionsunterlagen, nachdem sie es ihr gesagt haben. Auch Claudia sucht jahrzehntelang erfolglos nach ihrer leiblichen Mutter und muss immer wieder Rückschläge einstecken. „Immer, wenn ich denke, ich bin einen Schritt weiter, laufe ich wieder nur ins Leere.“ (S. 329)
Thomas Rust ist eine sehr ambivalente Persönlichkeit, extrem wandelbar. Man ist sich nie sicher, auf welcher Seite er eigentlich steht und was er bezweckt. Zu Beginn ist er 100%ig von der DDR überzeugt, aber je tiefer er sich in den Nachforschungen verstrickt, desto mehr zweifelt er am System und an allem woran er bisher geglaubt hat. Trotzdem lässt er sich nie richtig in die Karten gucken – eine wirklich spannende Persönlichkeit.

Seit dem „Angstmann“ bin ich ein großer Fan von Frank Goldammer und auch bei „Zwei Fremde Leben“ hatte er mich von der ersten Seite an gepackt. Er beschäftigt sich mit dem Thema Kindesentzug und Zwangsadoption in der DDR, gesteuert von der Stasi und der Regierung. Geschickt wechselt er zwischen den Zeitsträngen und Personen, heizt die Neugier des Lesers immer mehr an, fesselt ihn ans Buch. Ich hatte lange keine so große Sogwirkung mehr bei einem Roman und habe ihn an nur einem Tag am Stück gelesen – er war spannender als mancher Krimi!
Auch das Setting des Buches übt einen ganz besonderen Reiz auf mich aus, da ich als gebürtige Dresdnerin die beschriebenen Orte ganz genau kenne.

5 Sterne und meine Leseempfehlung für dieses Highlight!

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Veröffentlicht am 10.08.2020

„Was würde Emmerich tun?“

Das schwarze Band
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Kriminalinspektor August Emmerich kann sich einfach nicht anpassen und unterordnen. Für ihn sind Regeln dazu da, um gebrochen zu werden. Als er Johann Schober brüskiert, den Wiener Polizeipräsidenten und ...

Kriminalinspektor August Emmerich kann sich einfach nicht anpassen und unterordnen. Für ihn sind Regeln dazu da, um gebrochen zu werden. Als er Johann Schober brüskiert, den Wiener Polizeipräsidenten und neuen Bundespräsidenten, wird er zu einem Disziplinarkurs über gutes Benehmen und richtiges Auftreten verdonnert. Dabei ermitteln er und sein Assistent Ferdinand Winter gerade in einem Mord an 2 Prostituierten und Emmerich hat kein gutes Gefühl, Winter damit allein zu lassen. Zum Glück hält sich Winter an Emmerichs Tipp „Tu einfach das Gegenteil von dem, was du normalerweise tun würdest.“, wenn er nicht mehr weiterweiß. Außerdem bittet er Emmerichs alten Bekannte Veit Kolja und die Sekretärin Grete um Hilfe – letztere entdeckt eine Verbindung zu einem früheren Freund seines Vaters. Von ihm bekommt Winter den Schlüssel fürs Paradies – und landet in der Hölle.
Auch Emmerich durchlebt seine persönliche Hölle. Der „Benimm-Kurs“ findet in einer Kaserne statt, die ihn an das schreckliche Waisenhaus erinnert, in dem er aufgewachsen ist. Außerdem ist ausgerechnet sein Kontrahent Kriminalinspektor Peter Brühl einer der Lehrer. Überhaupt kommt Emmerich der Kurs immer eigenartiger vor – außer ihm gibt es nur wenige andere Teilnehmer, vieles wirkt unfertig und improvisiert. Als dann auch noch einer der Lehrer ermordet wird, kommen Emmerich und Winter einer Verschwörung auf die Spur, bei deren Aufklärung sie auf sich allein gestellt sind … „Wir können niemanden einweihen und Beweise haben wir auch keine. Alles was wir haben sind vier Zeitungen, eine alte Aktentasche und eine Vermutung.“

„Das schwarze Band“ ist bereits der 4. Band der Krimireihe von Alex Beer und mindestens genauso spannend und verzwickt wie seine Vorgänger. Ich habe bis zuletzt mitgeraten und gebangt, dass alles gut ausgeht.
Emmerich und Winter ermitteln im Frühsommer 1921. Es ist heiß, das Wasser wird knapp und die Unzufriedenheit der Bevölkerung wächst, denn obwohl der 1. Weltkrieg seit 2 Jahren vorbei ist, ist die Versorgungslage immer noch angespannt, Wohnungen und Arbeitsplätze fehlen. Zudem gibt es Bestrebungen, die Monarchie wieder einzuführen und Kaiser Karl I. zurück auf den Thron zu setzen. Außerdem wartet Österreich immer noch darauf, dass Ungarn ihm das heutige Burgenland übergibt, wie es im Vertrag von Trianon festgelegt wurde. Alex Beer lässt all dies geschickt in die Krimihandlung einfließen und zeichnet so ein sehr umfassendes und anschauliches Bild der herrschenden Verhältnisse.

Auch das private Umfeld der Ermittler ist sehr aufregend. Emmerich ist inzwischen alleinerziehender Vater der 3 Kinder seiner ermordeten Lebensgefährtin und in ständiger Sorge um sie. Ferner sucht er immer noch nach seiner Mutter. Er hat einen neuen Hinweis bekommen, für den er teuer bezahlen muss. Ich mag seine bärbeißige, unangepasste Art, seinen Wiener Schmäh und seine Intelligenz – schlussendlich ist er immer schlauer als seine Gegner.
Winter ist vom Adelsaufhebungsgesetz betroffen, hat sich mit der Situation aber gut arrangiert. Er blüht durch die Verantwortung für den Fall richtig auf und wird Emmerich immer ebenbürtiger, nur mit den Frauen hapert es noch. Ich bin gespannt, ob er je bemerkt, dass Grete ihn mag.

Wie schon die Vorgängerbände wurde auch dieser wieder grandios von Cornelius Obonya eingelesen. Er schafft es, jeder Figur eine ganz eigene Stimme zu geben und die charakterlichen Merkmale herauszuarbeiten. Das ist ganz großes Hör-Kopf-Kino.

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Veröffentlicht am 17.07.2020

Auf die Freundschaft

Klammerblues um zwölf
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Wer kennt die Filmszene nicht, in der Bridget Jones heulend und ungepflegt auf ihrem Sofa hockt, Unmengen Eis in sich hineinlöffelt, Wodka trinkt und dabei traurige Lieder mitgrölt? Genau so geht es Fee ...

Wer kennt die Filmszene nicht, in der Bridget Jones heulend und ungepflegt auf ihrem Sofa hockt, Unmengen Eis in sich hineinlöffelt, Wodka trinkt und dabei traurige Lieder mitgrölt? Genau so geht es Fee nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes Teddy. Sie wollten ihren Lebensabend gemeinsam genießen, die Winter in Zukunft im warmen Süden verbringen. Fee hat sogar ihren Job gekündigt, denn wenn sie sich ein bisschen einschränkten, würde seine Rente reichen. Nach Teddys Tod bricht ihre Welt zusammen, sie verbringt die Tage mit Alkohol, ungesundem Essen, Serienmarathons und ihrer Musiksammlung auf der Couch. Ausgerechnet in der Silvesternacht stellt sich ihre neue Nachbarin Claudine vor, ihr gefällt Fees Musikgeschmack, doch die will nur in Ruhe in Selbstmitleid baden. Am nächsten Tag zieht Fee endlich ehrlich Bilanz. Sie ist 57, hat in 3 Monaten 15 kg zugenommen, keinen Job, kaum noch Geld und ihre Töchter wohnen weit weg. „Reicht es nicht, dass ich alt werde, musste ich auch noch fett werden?“ (S. 35)
Zum Glück gibt Claudine nicht auf, sondern wird ihre Freundin und macht ihr einen ungewöhnlichen Vorschlag. Sie will mit ihrer Freundin Mary und Fee eine WG gründen. Drei Singlefrauen in den besten Jahren, die ab sofort füreinander da sind und ihr Leben gemeinsam statt einsam verbringen – neue Liebe(n) natürlich nicht ausgeschlossen, schließlich sind sie noch nicht tot!

Schon bei „Der Alte muss weg“ hat mich Carla Berling durch ihrem Schreibstil und ihre schrägen Figuren begeistert und auch „Klammerblus um zwölf“ hat mich wieder restlos überzeugt. Mit viel Herz und Kölscher Schnauze schreibt sie über drei Frauen, die sich trotz 60+ neu erfinden.

Fee ertrinkt in Selbstmitleid (und angefressenem Kummerspeck), als Claudine, Mary und ihr bester schwuler Freund Gerd-Karsten (ein Highlight!) ihr klarmachen, dass sie endlich die Kurve kriegen muss: „Sorry, Liebelein, du darfst dich nicht so gehen lassen, das Leben geht doch weiter, meine Güte, du musst dich aber wirklich zusammenreißen.“ (S. 60) Statt immer neuer Ausreden, braucht sie wieder eine Aufgabe und Pläne, statt Essen Freude und Erfolgserlebnisse. „Du schaust anderen beim Leben zu und vergisst dabei dein eigenes.“ (S. 99) Und dann gibt es da ja auch noch Winnetou und Taxi, die ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen …
Doch auch Claudine und Mary haben ihre Päckchen zu tragen und schwere Schicksale hinter sich haben.

Mir hat sehr gut gefallen, dass das Buch trotz des traurigen Grundthemas locker und unterhaltsam geblieben ist. Carla Berling schreibt lustig, spannend, warmherzig und gefühlvoll. Sie erzählt von Trauer und Verlust, Depressionen und schlimmen Schicksalen, aber auch von hoffnungsvollen Neuanfängen, alter junger Liebe, Freundschaften und der Freiheit, Ballast loszuwerden. „Mir wurde immer klarer, dass ich eine horrende Miete für Räume zahlte, in denen ich lauter Zeug aufbewahrte, das ich nie brauchte.“ (S. 91)
Ein echtes Highlight, ich bin schon sehr gespannt auf ihr nächstes Buch.

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