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Veröffentlicht am 21.12.2020

Der nicht kontrollierbare Erinnerungshund

Und ich war da
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„Wenn es nach der Wahrscheinlichkeit gegangen wäre, hätte ich längst tot sein müssen, aber manche Rechnungen sind zwar richtig durchgeführt, also in einem mathematischen Sinne korrekt, das Ergebnis ist ...

„Wenn es nach der Wahrscheinlichkeit gegangen wäre, hätte ich längst tot sein müssen, aber manche Rechnungen sind zwar richtig durchgeführt, also in einem mathematischen Sinne korrekt, das Ergebnis ist dennoch bedeutungslos.“

Inhalt

Der junge August Unterseher, ist ein einfacher Mensch, der sich in seiner Zeit sehr unwohl fühlt, nicht nur weil Gleichaltrige immer politisch aktiver werden und sich direkt positionieren, sondern auch weil sein Elternhaus mit einem zu Gewaltausbrüchen neigendem Vater, der gerne Prügel verteilt und einem Bruder, der bei der Hitlerjugend Karriere macht, ihm keinerlei Rückhalt schenkt. August will zunächst nur seinen Frieden, merkt aber verstärkt, dass ihm das nicht gelingen wird, weil er für nichts und niemanden Partei ergreift.

Seine Unentschlossenheit bringt ihm in erster Linie Häme oder Unglück – während ihn die einen verachten, weil er nicht voller Begeisterung für den Führer und dessen Maxime ist, bemitleiden ihn die anderen, weil er es nicht fertig bringt, sich gegen dieses menschenverachtende System zu stellen und aktiv an der Gegenbewegung teilzunehmen. August verrät seine Freunde, die er immer in letzter Minute sitzenlässt, bevor die Falle zuschnappt und er zieht notgedrungen in einen Krieg, dessen Unheil ihm bewusst ist, der ihn aber irgendwie durch die kommenden Jahre trägt. Das einzige, was August rückblickend feststellen kann, ist die Tatsache, dass er zwar da gewesen ist, sich aber niemals anwesend fühlte. Irgendwie hat er gehofft, dass seine zahlreichen Begegnungen mit dem Tod, ihn eines Tages selbst überwältigen würden, dass er nun der nächste sein würde, der jung stirbt, doch als dies nicht geschieht, erkennt er, dass seine Rechnung mit Abwarten und Aussitzen nicht aufgehen wird …

Meinung

Dies ist die einfache, gut nachvollziehbare und in ihrer Sanftmut und Ehrlichkeit bedrückende Geschichte über einen klassischen Mitläufer, der weder Entscheidungen für oder gegen etwas treffen konnte und stets mit körperlicher Anwesenheit glänzte, aber niemals mit seinen Taten. Und er erzählt seine Geschichte selbst, die dadurch sehr persönlich wirkt, auch wenn sie in einer distanziert-sachlichen Sprache verfasst wurde. Der Autor Martin Beyer, Jahrgang 1976 entwirft hier das Porträt eines einfachen Menschen, der durchaus in der Lage ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, dem es aber an Rückgrat und Mut fehlt.

All seine Handlungen entbehren jeglicher Motivation. Er tötet andere ohne Mitleid, es ist sein Auftrag zu schießen, also führt er ihn aus. Er hilft seinen Freunden aus der Patsche, verliert sie aber auch schnell aus den Augen und bedauert ihr unglückliches Schicksal ohne innere Beteiligung. Sogar als er selbst angeschossen wird, schließt er schnell seinen Frieden mit der Situation, ist sich sicher, dass alles was passiert, seine Richtigkeit hat und das es nicht lohnt, sich für das Leben oder den Tod zu entscheiden.

Sprachlich wirkt der Text durchgängig neutral, Emotionen haben vordergründig wenig Platz in diesem fiktiven Roman, der dennoch literarisch ansprechend umgesetzt wurde. Als Leser kann man sich kaum mit den handelnden Figuren identifizieren, sie scheinen aus einer weit zurückliegenden Zeit zu stammen. Diese mangelnde Identifikationsmöglichkeit wirkt aber ausgesprochen passend, in Anbetracht des Charakters des Protagonisten. Jemand, der selbst keine innere Motivation verspürt, kann andere auch nicht für sich begeistern, weder seine Zeitgenossen noch den geneigten Leser aus der Gegenwart. Deshalb empfand ich die Umsetzung gelungen, sie ergibt ein schlüssiges, glaubwürdiges Gesamtpaket.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für gute Unterhaltungsliteratur mit Ansprüchen, die erst auf den zweiten Blick wirken. Der Roman animiert zum Nachdenken, er stellt viele Weichen und zeigt mögliche Wege auf. Ebenso ernüchternd lässt er einen Menschen dastehen, der zum Täter wurde, zum Opfer gleichermaßen und nichts gefunden hat, was für ihn Bestand haben könnte. Gerade diese psychologische Komponente des Romans hat mir besonders gut gefallen, sie lässt verschiedene Spielräume für Interpretationen. Sie stellt auch die alles entscheidende Frage in den Raum, ob es genügt anwesend und da zu sein, oder ob Schuld erst entsteht, wenn man auch innerlich beteiligt ist. Je länger ich über diesen Sachverhalt nachdenke, desto mehr Wirkung entfaltet der Text. Dieses Buch ist eine ausgezeichnete Lektüre für Diskussionsrunden, Lesekreise und weiterführende Literatur über die Thematik des Mitläufertums. Sie könnte der Anfang einer ganzen Reihe von Überlegungen sein und das schafft längst nicht jedes Buch.

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Veröffentlicht am 08.11.2020

Wir scheinen am meisten, was wir am wenigsten sind

Ada
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„Merkt ihr nicht, dass man neben euch erstickt?“ Mit diesem Satz war ich aufgesprungen. Alles in mir brannte, es war dasselbe Feuer der Vernichtung wie in ihren Augen. Wir trugen die Fackel weiter und ...

„Merkt ihr nicht, dass man neben euch erstickt?“ Mit diesem Satz war ich aufgesprungen. Alles in mir brannte, es war dasselbe Feuer der Vernichtung wie in ihren Augen. Wir trugen die Fackel weiter und merkten es nicht.“

Inhalt

Dies ist die Geschichte einer jungen Frau namens Ada, geboren 1945 in Deutschland, emigriert nach Brasilien und noch in Kindheitsjahren wieder zurückgekehrt in die Heimat. Es ist die Geschichte eines Heranwachsens, in einer Zeit, wo der Krieg vorüber ist, die Menschen aber seltsam still geworden sind und für Ada bleibt ihre Vergangenheit und vor allem die ihrer Mutter lange Zeit ein Rätsel.

Es ist eine lebenslange Suche nach Identität und Werten, ein Leben im Aufbruch, weg von den Grundsätzen der Elterngeneration, hin zu einem neuen Lebensgefühl. Und doch bremst gerade das Fehlen einer greifbaren, nachvollziehbaren Vergangenheit, das Aufbruchgefühl in eine bessere Zukunft ganz wesentlich aus. Denn wohin sollen wir gehen, wenn wir nicht wissen, woher wir kommen? Das Rätsel um Adas Herkunft findet sie über die Jahre selbst heraus, doch verstanden fühlt sie sich nicht, obwohl ihre Eltern ein klares Familienmodell etabliert haben. Zunächst regiert das Schweigen und eine Elternliebe, die sich aufs nötigste beschränkt, in ihrer Jugend bricht sie aus, muss aber mit Erschrecken feststellen, das die „neue Zeit“ nicht die Verletzungen heilt, wie sie annahm und schließlich begibt sie sich in ihren mittleren Lebensjahren in eine Therapie, um aufzuarbeiten, was ihr bisher nicht recht gelungen ist. Zurück bleibt eine Frau, die die Last ihrer Generation schwer auf ihren Schultern trägt, obwohl sie eigentlich keine dramatischen Lebensbedingungen verkraften musste – was sie prägte war eine Distanz zwischen dem Leben selbst und der Hoffnung darauf.

Meinung

Dies war mein erstes Buch aus der Feder des deutschen Autors Christian Berkel, der nicht nur in der Filmbranche große Erfolge feiert sondern auch schon mit seinem Erstlingsroman „Der Apfelbaum“ für Aufsehen sorgte. Sein Debüt steht bei mir leider noch ungelesen im Regal, doch das werde ich demnächst ändern, denn obwohl ich diese Fortsetzungsgeschichte hier zuerst gelesen habe, hat mich der Erzählstil und die Art und Weise, wie es der Autor vermag seine Protagonisten lebendig werden zu lassen absolut überzeugt. Die Story ist ein gelungener Mix aus persönlicher, berührender Lebensgeschichte in Anlehnung an die historischen Rahmenbedingungen nach dem Krieg, an die Zeit des Wirtschaftswunders, des Mauerbaus und der 68er-Bewegung. Beides fließt gleichermaßen in den Text ein und erschafft ein umfassendes, wenn auch nicht ganz rundes Leseerlebnis mit zahlreichen Facetten und Einblicken in die Zeit meiner Elterngeneration.

Besonders einprägsam und animierend empfand ich die intensive und teilweise schockierende Ehrlichkeit, mit der die Ich-Erzählerin aufwartet. Sie scheint so gar nicht in das Weltbild ihrer Eltern zu passen, obwohl sie es doch in jungen Jahren noch wünscht, akzeptiert und geliebt zu werden. Ihre emotionale Abstumpfung gegenüber dem Elternhaus, ihr zwanghaftes Suchen nach anderen Wahrheiten hat mich definitiv bewegt, selbst wenn ich nicht immer nachvollziehen konnte, gegen was sie eigentlich rebelliert. Seltsamerweise hat sie im Erwachsenenalter anscheinend die richtige Mischung zwischen Nähe und Distanz gefunden, sie hat sich weitestgehend von ihren Eltern getrennt, doch hält selten aber manchmal noch Kontakt. Gerade der Mittelteil des Buches, in dem sie eine Jugendliche ist, hält viele Sachverhalte bereit, über die es sich nachzudenken lohnt, während mir zum Ende hin etwas gefehlt hat, irgendetwas, was Ada vielleicht an die nächste Generation hätte weitergeben können, doch sie tut es nicht, sie bleibt eine Gefangene ihres eigenen Weltbilds, hadert viel zu lange mit ihrer Vergangenheit und sucht überall auf der Welt nach Wahrheiten, die sie nicht findet oder die sich ganz anders entwickeln als sie dachte.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen flüssigen, intensiven Roman der oft wie eine Biografie wirkt, weil die Erzählstimme sehr dominant und nah an ihren eigenen Empfindungen bleibt. Der Text liest sich absolut top, man fliegt durch die Seiten, erlebt Szenen und Bilder hautnah, kann sich die Menschen und ihre Handlungen gezielt vorstellen und bekommt darüber hinaus noch das Gesellschaftsporträt einer ganzen Generation geliefert. Definitiv ein umfassender, detaillierter Roman mit Tiefgang. Gefehlt hat mir vor allem das Positive, die schönen Elemente, jenseits von wilden Drogenpartys, die auch nur dazu da waren, den Verstand abzutöten und den grauen Alltag zu vernebeln. Die nicht enden wollende Suche von Ada hat gerade im letzten Drittel des Buches einen eher schaalen Nachgeschmack, denn was meines Erachtens fehlt, ist Adas Aussöhnung mit ihrer Geschichte. Sie bleibt irgendwo zurück und schiebt viele Dinge von sich weg, was ihr versagt wurde, sucht sie nicht mehr, doch sie klagt nach wie vor an und kann nicht vergessen, was geschah, obwohl sie nun selbst zu den Erwachsenen gehört. Leider hat mich dieser letztlich negative Ausgang und die damit verbundene Aussage etwas enttäuscht, eben weil ich Menschen dieser Zeit kenne, die sich ganz anders und viel positiver entwickelt haben, die nicht so sehr im Selbstmitleid versunken sind, wie Ada. Demnach empfinde ich ihre Geschichte als eine äußerst individuelle und nicht als allgemeingültiges Dokument über die Entwicklung der Nachkriegsgeneration.

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Veröffentlicht am 08.11.2020

All die verlogenen kleinen Moralien

Giovannis Zimmer
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„Giovanni bildete sich gern ein, der Praktische von uns beiden zu sein und mir den steinigen Grund des Lebens vor Augen zu führen. Er brauchte dieses Gefühl: Denn im Grunde seines Herzens wusste er, ob ...

„Giovanni bildete sich gern ein, der Praktische von uns beiden zu sein und mir den steinigen Grund des Lebens vor Augen zu führen. Er brauchte dieses Gefühl: Denn im Grunde seines Herzens wusste er, ob er wollte oder nicht, dass ich ihm im tiefen Grunde meines Herzens, ob ich wollte oder nicht, mit aller Kraft widerstand.“

Inhalt

Giovanni und David lernen sich in einer Pariser Bar kennen, der eine arbeitet dort als der gutaussehende Barkeeper, der andere ist ein Gast, der Männern gegenüber nicht abgeneigt ist. Für David, dessen Freundin in Spanien eine längere Urlaubsreise unternimmt, um sich über den Status ihrer gemeinsamen Beziehung klar zu werden, eröffnet sich mit Giovannis Avancen eine Möglichkeit sich in einem anderen Menschen zu verlieren. Und obwohl er nicht eine Minute ernsthaft erwägt, sich als homosexueller Mann zu offenbaren, stürzt er sich mit allen Sinnen in eine Art Affäre, die ihn an seine persönlichen Grenzen führt. Doch es dauert gar nicht lange, bevor sich die tiefe Kluft zwischen den beiden Männern offenbart. Giovanni gibt alles, sein Herz, seine Leidenschaft, seine ganze Liebe für die wunderbaren Stunden in Davids Armen, während dieser sich immer verlorener fühlt, zwischen seinen eigenen moralischen Grundsätzen gefangen, die ihn einerseits die gesellschaftliche Anerkennung in ganz herkömmlichen Verhältnissen mit einer Frau und irgendwann auch Kindern vorgaukeln und andererseits die Erfüllung seiner sexuellen Vorlieben, im Bett mit Giovanni. Diese Perspektivlosigkeit der Beziehung verursacht durch die Schuldgefühle des Einen und die Konsequenzen des Anderen führen alsbald zum Bruch. Und als Hella, Davids Verlobte schließlich aus dem Urlaub zurückkehrt, um nun mit ihm eine feste Beziehung zu führen, nimmt er ihre Begeisterung für ein gemeinsames Leben dankbar an, scheint es doch die einzige Möglichkeit zu sein, all seinen kleinen verlogenen Moralien entgegenzuwirken …

Meinung

Der verstorbene amerikanische Autor James Baldwin, war eine Ikone der Gleichberechtigung aller Menschen, seine Bücher thematisieren Diskriminierung auf Grund der Hautfarbe ebenso wie hier auf Grund der sexuellen Orientierung. Und er greift in diesem Roman den tiefen inneren Zwiespalt einer Person auf, die einerseits die Wonnen der Liebe erfährt und einen Menschen gefunden hat, der so perfekt wie liebenswert erscheint und der dennoch diese Art von Beziehung nicht führen möchte, weil sie seinen eigenen gutbürgerlichen Status gefährden würde und sämtliche Inhalte, die er für gesellschaftskonform hält, untergräbt.

Die Homosexualität wirkt in dieser literarischen Abhandlung weniger dominant, als ich erwartet habe, dafür wiegt die Tragik und Melodramatik, die in einer unausgeglichenen Beziehung auftritt, umso mehr. Die Frage nach der Innerlichkeit und der Bejahung eines anderen Menschen ist hier schmerzhaft und äußerst differenziert behandelt wurden – ganz sicher ein großes Plus des Buches, denn eine Wertung, wer hier nun der bessere Mensch ist und warum, lässt sich nicht ohne Gegenargumente vertreten. Und gerade weil ich Giovannis absolute Liebe und Davids nachhaltige Zweifel verstehen konnte, fällt mir die persönliche Stellungnahme zu der Lektüre etwas schwer. Selbst in Anbetracht der Zeit, in der dieser Roman spielt, nämlich in den Fünfzigerjahren der Weltstadt Paris, ist diese tragische Liebesgeschichte universell und individuell gleichermaßen. Denn es gab sie ja auch damals, die Männer, die trotz ihres Rufs als „Tunte“ eben dieses Leben genossen haben und die anderen, die sich versteckt haben und am wenigsten gegenüber ihrem eigenen Spiegelbild zugeben wollten, wie sie wirklich fühlten.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für eine klassische, zeitlose Erzählung über die vielen Wege der Liebe und die fatalen Verstrickungen und die Fehlentscheidungen der Liebenden. Besonders positiv beurteile ich die tiefe Emotionalität, die dieser Roman hervorruft, das absolute Verständnis auf vielen Bewusstseinsebenen und das feinfühlige Ausloten der bestehenden Gefühle. Dadurch bekommt der Leser ein gutes, allumfassendes Gespür, für die Belange der Protagonisten. Selbst eine Wertschätzung der verschiedenen Charaktere bleibt in einem ausgewogenen Verhältnis, denn verstehen kann man beide Seiten und jeder hat seine Fehler und Schwächen. Die Frage der Schuld stellt sich hier nicht wirklich, es ist vielmehr eine Verkettung diverser Umstände, die letztlich in einem Höhepunkt der Dramatik ihr Ende finden. Für mich ein kleiner Minuspunkt in der Bewertung der Lektüre war einerseits das fehlende Frauenbild (Hella ist eine sehr blasse Figur) und anderseits eine klare Aussage. Die aussichtslose Entwicklung befindet sich hier im Detail und weniger als eine Botschaft für die Allgemeinheit. Schreibstil und Ausdruck lassen nichts zu wünschen übrig und es besteht die Möglichkeit dieses Buch zuzuklappen und noch länger über die Geschichte nachzudenken, ein ganz wesentlicher Pluspunkt auf meiner Bewertungsskala.

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Veröffentlicht am 01.09.2020

Die Bescheidenheit des kleinen Mannes

Ein ganzes Leben
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„Egger fühlte, wie die Traurigkeit in seinem Herzen hochstieg. Er fand, es hätte noch so viel zu tun gegeben in ihrem Leben, viel mehr wahrscheinlich, als er sich vorstellen konnte.“

Inhalt

Dies ist ...

„Egger fühlte, wie die Traurigkeit in seinem Herzen hochstieg. Er fand, es hätte noch so viel zu tun gegeben in ihrem Leben, viel mehr wahrscheinlich, als er sich vorstellen konnte.“

Inhalt

Dies ist die Erzählung über ein Menschenleben, über Andreas Egger, einen Mann der an den einfachen Dingen des Lebens Gefallen fand: arbeiten, sich mit der Natur verbunden fühlen, rechtschaffen und zuverlässig zu sein, ohne allzu hohe Ansprüche und abstrakte Wunschvorstellungen zu hegen. Mit seiner großen Liebe Marie, deren Herz er auf scheinbar wundersame Weise erobern konnte, möchte er alt werden. Doch ihre bescheidene Hütte, mit den wenigen Dingen, die Andreas Egger wichtig waren, wird unter einer Schneelawine begraben. Und während er mitten in der Nacht von einem seltsamen Geräusch geweckt wurde, kommt für Marie jede Hilfe zu spät. Und so muss der junge Mann lernen, mit diesem doch so schweren Schicksalsschlag zu leben. Aufrecht und zuversichtlich beschreitet er auch diesen noch so langen Lebensabschnitt, der vor ihm liegt – ohne seine Heimat, die Berge, zu verlassen. Tiefverwurzelt und mit zunehmendem Alter etwas absonderlich schwört Andreas Egger auf die Kraft, die in ihm wohnt und erhaben über menschliche Befindlichkeiten wirkt. Sein Leben war gut, so wie es war.

Meinung

Nachdem ich vor kurzem den neuesten Roman von Robert Seethaler „Der letzte Satz“ gelesen habe und dort zwar vom Schreibstil angenehm überrascht war, mich mit den vielen Fragmenten aber nicht so ganz zufriedengeben konnte, musste ich zu Vergleichszwecken unbedingt ein weiteres Buch des Autors entdecken. Allerdings zeichnet sich für mein Empfinden bei Seethalers Romanen eine Tendenz ab, die ich durch ein drittes Buch gerne bestätigt haben würde. Die Thematiken die der Autor wählt, finde ich sehr ansprechend, es sind Dinge, über die ich selbst gerne nachdenke: das Leben, die Bestimmung, die Verfehlungen und Abschiede auf der großen Bühne des Daseins. Diese vermag er in einen angenehmen Kontext zu setzen, der erzähltechnisch mit einer Leichtigkeit besticht und zusammenhängend schildert, wie sich Dinge entwickeln, die man manchmal durch Entscheidungen beeinflussen kann und manchmal durch Schicksalshaftigkeit hinnehmen muss. Doch beide Bücher haben ein Manko, welches mich hier besonders stört, weil es möglich scheint, durch die Wortwahl genau jenes zu erzeugen. Den Texten fehlt es für mich schlicht und einfach an Emotionalität, trotz ihrer greifbaren Dramatik. Für den Protagonisten Andreas Egger konnte ich einfach keine nennenswerte Sympathie empfinden. Er ist für mich der Inbegriff des einfachen Mannes, der mit wenig Worten und kargen Gefühlen durchs Leben geht und den Augenblick ergreift, ihn lebt, ohne zu urteilen, ihn akzeptiert ohne zu Grollen, der weitermacht, weil es ein Morgen gibt. Einerseits sind das Eigenschaften, die ich bewundern könnte, aber in ihrer Omnipräsenz erscheint mir das irgendwie unverständlich.

Fazit

Auch hier reicht meine Bewertung nur für 4 Lesesterne, obwohl ich dieses Buch gerne gelesen habe, mich gewissermaßen auf der gleichen Bewusstseinsebene bewege. Ein Roman der gut und gerne für 5 Sterne de Luxe hätte stehen können, der mich aber einfach nicht berühren konnte. Nur selten treffe ich auf literarische Texte, die einerseits so selbstverständlich über die wichtigen Dinge des Lebens berichten und gleichermaßen so sachlich und objektiv dabei vorgehen. Inhaltlich wäre „Ein ganzes Leben“ genau mein Buch gewesen, eins bei dem der ganze Weltschmerz auf 155 Seiten wirken könnte, bei dem Tränen fließen und Verständnis überwiegt. Doch eigentlich klappe ich dieses Buch zu und habe es fast schon wieder vergessen – sehr schade.

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Veröffentlicht am 20.08.2020

Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis

Der letzte Satz
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"Er verließ sich lieber auf sein Gehör und noch mehr auf seinen Fleiß. Man musste den Dingen zuhören und sich dann auf seinen Hintern setzen und arbeiten, das war das ganze Geheimnis.“

Inhalt

Für ...

"Er verließ sich lieber auf sein Gehör und noch mehr auf seinen Fleiß. Man musste den Dingen zuhören und sich dann auf seinen Hintern setzen und arbeiten, das war das ganze Geheimnis.“

Inhalt

Für den berühmten österreichischen Komponisten und Operndirektor Gustav Mahler ist es die letzte Reise zurück in die europäische Heimat, nachdem er in Amerika große Erfolge feiern konnte. Seine immer schlechter werdende Gesundheit zwingt ihn in die Knie und lässt sein grandioses Lebenswerk als Künstler unter dem Licht der Vergänglichkeit nochmals ganz anders erscheinen. Oben auf dem Schiffsdeck der „America“ eingewickelt in eine Decke, die gegen das Fieber nichts ausrichten kann, hängt Mahler seinen Erinnerungen nach und schließt Frieden mit einer Welt, aus der er sich bald verabschieden wird. Zurück bleibt die Überzeugung, dass er Vieles hätte anders machen können, nachdem seine ältere Tochter im Kindesalter verstorben ist, dass er in seiner Rolle als Mann und Vater nur mäßigen Erfolg hatte, ganz anders als auf den Bühnen der Welt. Seine große Liebe Alma begleitet ihn zwar auf dieser Reise, doch ihre Zuneigung hat sich schon längst auf ein Mindestmaß reduziert und orientiert sich mehr an den Verpflichtungen einer Ehe, denn an wirklicher Liebe. Und er wird sich immer sicherer: das Leben seiner Familie wird weitergehen, auch wenn er stirbt, sein Werk jedoch wird Bestand haben, obwohl ihm immer bewusster wird, dass er seine Prioritäten möglicherweise falsch gesetzt hat …

Meinung

Nun habe ich es endlich geschafft, einen Roman des in Wien geborenen Autors Robert Seethaler zu lesen, der bereits zahlreiche internationale Publikumserfolge erzielen konnte. Sein Schreibstil ist äußerst klar und zielgerichtet, wirkt reflektierend und angepasst an die traurige Handlung der Erzählung.

Fasziniert hat mich vor allem seine gekonnte Auswahl an Gedankengängen, die es dem Leser ermöglichen, ganz nah an die Person des Gustav Mahler heranzukommen. Insbesondere die minimalistische Benennung biografischer Sachverhalte, die mich direkt dazu animiert hat, mich parallel zu diesem Buch intensiver mit dem Künstler Mahler zu beschäftigen. Prinzipiell ein cleverer Schachzug, denn immer dann, wenn ich einen Gedanken im Kontext hatte, stockt die Erzählstimme und lässt die Neugier auf mehr Hintergründe wachsen.

Gleichzeitig sind diese Lücken aber auch ein Kritikpunkt meinerseits, denn hätte der Autor nicht so viele Fragmente geschaffen und sich stattdessen noch intensiver auf die historischen oder menschlichen Aussagen konzentriert, wäre meine Begeisterung für das Buch noch weit größer gewesen. Dieser Roman hätte gerne den doppelten Umfang haben können, oder die tatsächlich letzten Stunden des Protagonisten lebendig werden lassen. Der Schiffsjunge selbst, der die Abschlussszene gestaltet, ist doch eine viel zu blasse, willkürliche Person, die mir zu wenig Gewicht auf diesen persönlichen Rückblick legt.

Fazit

Ganz klar eine Leseempfehlung, der ich gute 4 Sterne gebe, gerade wenn man als Romanliebhaber auch mal in eine Biografie hineinschnuppern möchte. Wie der Klappentext bereits verspricht, erlebt man glasklare Momente der Schönheit und des Bedauerns – doch zu vieles bleibt ungesagt oder unbedacht. Ich lese definitiv noch ein anderes Werk des Autors, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen.

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