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Veröffentlicht am 01.10.2020

Ein großartiger, ein berührender Roman

Das weite Herz des Landes
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Richard Wagamese (1955 – 2017) ist ein indigener Autor aus Kanada (vom Stamm der Ojibwe, besser bekannt in der amerikanischen Bezeichnung Chippewa), der sich in der Tradition seines Volkes als „Geschichtenerzähler“ ...

Richard Wagamese (1955 – 2017) ist ein indigener Autor aus Kanada (vom Stamm der Ojibwe, besser bekannt in der amerikanischen Bezeichnung Chippewa), der sich in der Tradition seines Volkes als „Geschichtenerzähler“ versteht. Wie so viele Kinder seines Volkes aus seiner Familie gerissen, durch zahlreiche Pflegefamilien geschleust, dann adoptiert. In Kontakt mit seiner Herkunft und den indigenen Traditionen kommt er erst im Erwachsenenalter und verarbeitet diese in seinen Romanen.

„Das weite Herz des Landes“ ist eines seiner letzten Bücher, im Original 2014 erschienen und liest sich wie die Nieerschrift eines langen Gesprächs. Im Angesicht des Todes bittet Eldon seinen Sohn Frank um einen letzten Dienst. Er möchte nach Art seiner Vorfahren auf dem Ojibway-Kriegerweg mit Blick nach Osten bestattet werden, und „der Junge“ soll ihn, obwohl er lange Zeit keinen Kontakt zu ihm hatte, dorthin begleiten, ihn führen. Dieser willigt ein, widerwillig zwar, aber gemeinsam machen sie sich auf den Weg, der für beide weit mehr als eine letzte Reise sein wird.

Väter und Söhne, das ist eh ein Kapitel für sich. Aber ein Kind, das bei einem Vormund aufwachsen muss, das seine kulturelle Identität nur im Ansatz entwickeln kann, weil mutterlos und der alkoholkranke Vater als einziges Bindeglied nicht vorhanden ist, ist verständlicherweise nicht besonders gut auf diesen zu sprechen. So ist dieser letzte Ritt auch als Versuch des Vaters zu sehen, sich zu erklären, Schuld einzugestehen und um Vergebung zu bitten.

Ein großartiges, ein berührendes Werk der indigenen Literatur, das nachdenklich macht und lange nachhalt.

Veröffentlicht am 28.09.2020

Ein wichtiges Buch, aber auch harte Kost.

Meine dunkle Vanessa
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Älterer Mann begehrt junges Mädchen, ein Motiv, das wir spätestens seit Nabokovs „Lolita“ kennen. Nun sind im Zuge der #MeToo-Bewegung zahlreiche literarische Auseinandersetzungen mit dieser Thematik erschienen, ...

Älterer Mann begehrt junges Mädchen, ein Motiv, das wir spätestens seit Nabokovs „Lolita“ kennen. Nun sind im Zuge der #MeToo-Bewegung zahlreiche literarische Auseinandersetzungen mit dieser Thematik erschienen, in denen sich die Opfer, Frauen und Männer, zu Wort melden. Manches davon autobiografisch, anderes fiktional, aber dennoch mehr oder weniger von persönlichen Erfahrungen beeinflusst. So auch Kate Elizabeth Russells Debütroman, in dem Vanessa, ihre zweiunddreißigjährige Protagonistin, das Verhältnis zu ihrem ehemaligen Englischlehrer Revue passieren lässt.

Vanessa ist fünfzehn Jahre alt, als sie auf das Internat in Maine wechselt. Eine Gedichte schreibende Außenseiterin, kaum beachtet, linkisch, schüchtern, typische Postpubertät. Nur Strane, der Englischlehrer (42), schenkt ihr Beachtung, leiht ihr Bücher, lobt sie und baut so eine Verbindung zu ihr auf. Ein Wolf, der die Beute wittert, und das Vertrauen des Teenagers gnadenlos ausnutzt. Sie genießt seine Avancen, fühlt sich geschmeichelt, begehrt, stellt das, was zwischen ihnen geschieht, zu keinem Zeitpunkt in Frage. Selbst dann nicht, als 2017 eine Schülerin Strane des Missbrauchs beschuldigt und Vanessa die Anklage unterstützen soll. Sie weigert sich, will sich die Vergewaltigungen nicht eingestehen, romatisiert dieses Verhältnis noch immer. Sieht nicht, was es bei ihr angerichtet hat. Und Strane? Wie damals benutzt er sie auch heute, verpflichtet sie zu Stillschweigen.

Die Geschichte wird aus der Sicht Vanessas auf zwei Zeitebenen (2000 und 2017) erzählt und macht nicht nur betroffen sondern auch wütend, denn das klassische Täter-Opfer-Schema greift hier nur bedingt. Der Täter weiß genau, was er tut, verbrämt seine pädophile Veranlagung Vanessa gegenüber mit dem Verweis auf Nabokov. Diese hingegen verschließt die Augen, weigert sich, den körperlichen und emotionalen Missbrauch anzuerkennen, das toxische der Beziehung, entwickelt eine Art Stockholm-Syndrom. Aber vielleicht dient dieses Nicht-eingestehen-wollen, die Leugnung, auch nur ihrem eigenen Schutz. Ein wichtiges Buch, aber auch harte Kost. Lesen!

Veröffentlicht am 26.09.2020

Ein feiner Country Noir

Hope Hill Drive
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Südaustralien. Heiß, trocken, staubig und dünn bevölkert. Tiverton, die öde Kleinstadt, das Revier von Paul „Hirsch“ Hirschhausen, strafversetzter, weil zu ehrlicher Constable und Leiter der dortigen Polizeistation. ...

Südaustralien. Heiß, trocken, staubig und dünn bevölkert. Tiverton, die öde Kleinstadt, das Revier von Paul „Hirsch“ Hirschhausen, strafversetzter, weil zu ehrlicher Constable und Leiter der dortigen Polizeistation. Bagatelldiebstähle, Drogenkonsum, Alkoholismus, häusliche Gewalt, Kupferklau, entlaufene Haustiere, viel zu tun gibt es dort nicht, lauter Kleinkram. Ach ja, fast vergessen, Weihnachten steht vor der Tür und Hirsch muss nicht nur die Weihnachtsbeleuchtung prämieren sondern auch noch den Santa spielen. Aber mit dem besinnlichen Warten aufs Christkind wird es diesmal nichts werden, denn zwei ungewöhnliche Vorfälle reißen ihn aus der Routine und fordern seinen ganzen Einsatz. Wer massakriert Ponys und was hat es mit der toten Frau auf der abseits gelegenen Farm auf sich? Hirschs Einsatz ist gefordert, und schnell muss er feststellen, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist.

„Hope Hill Drive“ ist ein gelungenes Beispiel für einen feinen Country Noir. Disher schreibt lebendig, liefert ein anschauliches, ein lebendiges Bild vom Kleinstadtleben im öden Outback, was sowohl die Landschaftsbeschreibungen als auch dessen Bewohner angeht. Er moralisiert und wertet nicht, verzichtet auf Effekthascherei, was aber nicht meint, dass es sich der Leser allzu gemütlich machen sollte, denn im Verlauf der Handlung offenbaren sich einige tragische Einzelschicksale. Anfangs eher gemächlich im Tempo, mit Handlungssträngen, die auf den ersten Blick keine Zusammenhänge erkennen lassen, zum Ende hin mit überraschenden Wendungen, die alle losen Fäden verknüpfen und keinerlei Fragen unbeantwortet lassen. Meisterhaft!

Veröffentlicht am 22.09.2020

Red Hook, Brooklyn

Visitation Street
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Eine Sommernacht in Red Hook, dem heruntergekommenen Hafenviertel an der Südspitze Brooklyns. Es ist schwül, die Hitze drückt. Außer Langeweile nichts geboten für June und Val. Zwei Teenager, ein rosa ...

Eine Sommernacht in Red Hook, dem heruntergekommenen Hafenviertel an der Südspitze Brooklyns. Es ist schwül, die Hitze drückt. Außer Langeweile nichts geboten für June und Val. Zwei Teenager, ein rosa Schlauchboot, gegenüber die glitzernden Lichter der Metropole. Hier der Alltag, dort die Verheißung. Das tragische Ende dieses Ausflugs offenbart sich im Licht des Tages, denn es ist nur Val, die zurückkehrt. Angespült und halbtot. June bleibt verschwunden. Das Viertel in Aufruhr, Unfall oder Verbrechen?

Eine Ausgangssituation, die Spannung verspricht, oder? Aber wenn man Ivy Pochodas „Visitation Street“ auf die Thriller-Elemente reduzieren wollte, würde man diesem großartigen Roman Unrecht tun, denn die eigentliche Hauptfigur ist Red Hook, dessen Brüchigkeit in den Tagen nach Junes Verschwinden deutlich zutage tritt. Die Gegend ist schäbig, die Häuser abgewohnt, ein glanzloses Viertel, und dennoch Heimat. Aber die Veränderung klopft schon an, machen doch Gerüchte über ein Kreuzfahrtterminal die Runde. Und dass nach dessen Bau sich die gesamte Struktur Red Hooks verändern wird, steht außer Frage. Die einen versprechen sich Wohlstand davon, wie beispielsweise Fadi, Betreiber eines Minimarkts, Knotenpunkt und Nachrichtenumschlagplatz des Viertels. Andere wiederum haben gemischte Gefühle, befürchten sie doch, dass dessen Seele durch die Gentrifizierung unwiderruflich verschwinden wird.

Wir begegnen den verschiedensten Menschen, jeder für sich besonders und mit Val verbunden. Am eindrücklichsten bleibt ihr Freund Cree im Gedächtnis, der schwarze Junge, dessen Vater erschossen wurde und dessen Mutter mit den Toten spricht. In besagter Nacht wurde er auf dem Pier gesehen, und in Verbindung mit seiner Hautfarbe reicht das schon aus, dass er für die Polizei zum Verdächtigen Nr. 1 im Fall der vermissten June wird. Jonathan, der verkrachte Musikerlehrer, der Val aus dem Wasser gezogen hat und sich seither für sie verantwortlich fühlt. Nicht zu vergessen Ren, der Sprayer, der durch die Straßen huschende Schatten, der an den unterschiedlichsten Stellen auftaucht und tiefer als vermutet mit dem Hook verwurzelt ist. Allesamt in beeindruckender Weise angelegt und charakterisiert.

Pochodas Beschreibungen sowohl der Umgebung als auch der Personen sind subtil, tauchen in das Innerste ein und schaffen so eine Atmosphäre, der man sich kaum entziehen kann. Sie lenkt den Blick auf Tragödien, auf das Geheime, das verbindet und trennt und die Wahrnehmung des Selbst und der Umgebung verändert. Großartig, und eine uneingeschränkte Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 13.09.2020

Kali orexi!

Jamas! Griechisch kochen und gemeinsam genießen
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Fernweh, aber kein Urlaub in Sicht? Dann ist „Jamas! Griechisch kochen und gemeinsam genießen“ genau das richtige Kochbuch, denn mit diesen Rezepten holt man sich Griechenland-Feeling auf den heimischen ...

Fernweh, aber kein Urlaub in Sicht? Dann ist „Jamas! Griechisch kochen und gemeinsam genießen“ genau das richtige Kochbuch, denn mit diesen Rezepten holt man sich Griechenland-Feeling auf den heimischen Teller. Und wie Tanja Dusy bin ich ein großer Fan dieser mediterranen Küche, die Leib und Seele erfreut. Bei zahlreichen Urlauben abseits der Touristenzentren hatte ich das Glück, in kleinen Tavernen schlichte Gerichte kennenzulernen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden und mit den diversen Fantasietellern der „deutschen Griechen“ so überhaupt nichts zu tun haben.

Die Gliederung des Kochbuchs orientiert sich an der klassischen Menüfolge. Mezedes und Snacks (Vorspeisen), Fisch und Fleisch (Hauptgerichte), Salate und Gemüse (Beilagen) sowie süße und kalorienreiche Desserts zum Abschluss. Natürlich sind auch die Klassiker wie Gyros, Bifteki und Souvlaki zu finden, diese sind allerdings zum einen deutlich abgespeckt, zum anderen auch jeweils noch in vegetarischen Varianten zu finden. Für mich ein großes Plus dieser Sammlung, denn wer einmal die schmackhaften Kolokithokeftedes mit Joghurt-Dip (Zucchini-Krapfen), Gemista (Gemüse mit Reisfüllung) oder Briam mit Feta (Gebackenes Gemüse aus dem Ofen) probiert hat, wird keinen Gedanken mehr an üppige Grillteller verschwenden.

Die Rezepte, meist für 4 bis 6 Personen, werden jeweils auf einer Doppelseite vorgestellt, links die in jedem Supermarkt erhältlichen Zutaten (mit Ausnahme der Wildkräuter, die man aber problemlos durch Rote Bete Blätter, Brunnenkresse oder Löwenzahn ersetzen kann) sowie eine detaillierte Kochanleitung, rechts ansprechende und appetitanregende Fotos des fertigen Gerichts. Positiv zu bewerten ist die Vielzahl der Gemüserezepte, die allesamt als Hauptgericht taugen, aber auch die Fleisch- und Fischesser kommen durchaus auf ihre Kosten.

Alles in allem ein sehr schönes, alltagstaugliches Kochbuch mit authentischen Rezepten, die sich problemlos realisieren lassen und weder besonderes Know how, noch exotische Zutaten erfordern. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass die Gerichte - zumindest im Register - auch unter ihrem griechischen Namen aufgeführt werden, denn die eingedeutschten Bezeichnungen wirken dann doch das eine oder andere Mal etwas fantasievoll. Und es erschwert die Suche, wenn man ein Gericht nachkochen möchte, das man nur unter dem Originalnamen kennt.