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Veröffentlicht am 07.03.2022

Für den Rest des Lebens....

Fast am Ende der Welt
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Da haben sich zwei gefunden, denkt nicht nur Kellnerin Kathi, wenn man den langen, dünnen Josef Peukert und den kleinen, untersetzten Attila Bauer in ihrem Münchner Stammlokal zusammenhocken sieht und ...

Da haben sich zwei gefunden, denkt nicht nur Kellnerin Kathi, wenn man den langen, dünnen Josef Peukert und den kleinen, untersetzten Attila Bauer in ihrem Münchner Stammlokal zusammenhocken sieht und ihren Plänen lauscht! Auf's Land wollen sie, raus aus dem Großstadtgetriebe, die Stille suchen sie, das einfache Leben direkt am Busen der Natur. Ob die, vor allem bei dem Schickeria-Gewächs Attila, überschäumende Begeisterung die nicht vorhandene Erfahrung wettmacht, die es nun einmal braucht, wenn man einen zugemüllten, verfallenen Aussiedlerhof im tiefsten Bayern, jenseits aller Zivilisation, wie Siegfriedsruh, das einst als Sobeckhof bekannt war, instandsetzen und ihn schließlich bewirtschaften möchte? Und werden die beiden grundverschiedenen Münchner, deren bisherige Lebensentwürfe Lichtjahre voneinander entfernt waren, überhaupt auf lange Sicht miteinander klarkommen? Ist der gemeinsame, der große Traum als Bindeglied tragfähig genug? Die beiden nicht mehr jungen Herren scheinen sich darüber viel weniger Gedanken zu machen als all die unkenden Menschen in ihrem Umfeld. Sie schmieden Pläne und gehen die Sache an, nachdem das geeignete Objekt einmal gefunden wurde!
Das könnte denjenigen unter den Lesern, die ebenso heimliche Sehnsüchte nach einem einfachen Leben abseits der Hektik der modernen Zeit verspüren, Auftrieb geben, könnte sie ihren ganzen Mut zusammennehmen lassen, könnte man nun vielleicht denken, denn es sieht ganz danach aus, als würde den beiden ein wenig seltsamen Männern ihr Vorhaben gelingen, nachdem zu vernachlässigende Kleinigkeiten wie ein eingestürztes Dach, eine ob der strengen winterlichen Kälte komplett versagende Heizung und zugeschneite Zufahrtswege nach der Zwangsüberwinterung in den jeweiligen Münchner Wohnungen, die beide klugerweise behalten haben, erfolgreich behoben werden. Nun, alles kein oder doch wenigstens kein unlösbares Problem, wenn man über scheinbar unbegrenzte finanzielle Mittel verfügt, wie der ehemals erfolgreiche Antiquitätenhändler Attila, der durch nicht ganz astreine Geschäfte bei den Reichen und, dank Botox und Co., einigermaßen Schönen aus der zweifelhaften feinen Gesellschaft Münchens – aber die Stadt könnte dabei durchaus austauschbar sein, denn die Geldleut' sind überall gleich! - in Ungnade gefallen aber, wie das nun einmal seiner Stehaufmännchennatur entspricht, sicher auf allen Vieren gelandet ist. Und wenn man dank seiner quirligen, durchaus menschenfreundlichen Natur auch in Zeiten, in denen Handwerker so gesucht und so schwer zu bekommen sind wie nie, auf einen Haufen nützlicher Kontakte zurückgreifen kann! Denn obwohl Schreiner von Beruf ist Attila niemand, der praktische Tätigkeiten verrichten könnte oder möchte. Er versteht sich als Organisator – und dieses Metier beherrscht er meisterhaft – und als Ideengeber, worin er, das muss man ihm lassen, geradezu unschlagbar ist. Doch leider verfliegt seine Begeisterung oft genauso schnell, wie sie gekommen ist! Das stellt einerseits ein Risiko für diejenigen dar, die sich mit ihm einlassen, ist anderseits jedoch eine Erleichterung für den besonnenen, vorsichtigen Josef, wenn's der Attila einmal gar zu bunt treibt mit seinen exotischen Einfällen!
Ja, nun ist es an der Zeit, dem Mitbewohner des Paradiesvogels, dem Josef Peukert, ein paar Gedanken zu widmen! Ein merkwürdiger Kauz ist er, der auf seine Art nicht weniger eigenartig ist als sein neugefundener Kumpel mit dem großspurigen Namen, für den ein gewisser Hunnenkönig Pate gestanden haben mag – aber vielleicht, wenn man seinem Vater begegnet, der noch immer die Welt mit seinen verrotteten Ansichten unsicher macht, auch nur der Vorstellung von Originalität seitens der Eltern, die offensichtlich nicht die hellsten Lichter am Kronleuchter waren, entsprungen ist. Ein an Reduziertheit nicht zu übertreffendes Leben hat der Josef geführt, 65 Jahre lang – bis er dem kunterbunt gekleideten Attila begegnete. Bis zu ihrem Tod hat er mit der früh verwitweten Mutter in einer recht geräumigen Wohnung in der Münchner Innenstadt gelebt, wie's ausschaut haben sich die Zwei sogar ein Bett geteilt. Freunde hat er nicht gehabt, auch nicht in der Eisenwarenhandlung, in der er zeitlebens gearbeitet hat, immer pünktlich, immer korrekt, jedes Schräubchen beim Namen nennen könnend, ohne es je an seinen ihm bestimmten Platz angebracht zu haben. Die Stille liebt er, der Herr Josef, das ist das, was ihn wohl am besten beschreibt. Und eine tiefe Sehnsucht hegt er – wie man im Laufe der Geschichte langsam begreift, nach Zugehörigkeit, nach Menschen, ganz wenige reichen ihm, mit denen er eine Familie sein kann. Diese Glückes wird er, der Leser wird es bald feststellen, da draußen auf dem Land teilhaftig, für eine unvergessliche, aber leider nur kurze Zeit. Aber auch wenn er auf traurige Weise verliert, was er immer gesucht hatte – ist ein zwar kurzes, aber intensiv gelebtes Glück nicht tausendmal mehr wert als ein Leben, das nur aus unerfüllten Sehnsüchten besteht? Ob Josef das schließlich auch so sehen wird, bleibt dahingestellt, auch, ob er wirklich bereit ist, sich auf ein neues Abenteuer oder, wenn man so will, eine neue Suche nach dem Glück einzulassen, mit dem unverwüstlichen Attila an seiner Seite.
Zwei interessante Charaktere hat Bernd Schroeder mit den beiden Münchnern, die sich einen Lebenstraum erfüllen, geschaffen. Nicht sofort erschließen sie sich dem Leser, es braucht die gesamte Geschichte mit all ihren Ver- und Entwicklungen, um tiefer in sie hineinzuschauen, sie zu begreifen. Tiefgründigkeit kann man bei Josef früher vermuten als bei Attila, dem man, je mehr man von seinem reichlich unsteten Leben erfährt, in dem er ständig auf der Suche nach etwas Neuem war, in dem eine Begeisterung die andere ablöste, vielleicht vorschnell Oberflächlichkeit attestieren würde, ebenso wie Unzuverlässigkeit und Egoismus. Doch weit gefehlt! Menschen, die ihm etwas bedeuten, lässt er nicht fallen; er kümmert sich, kann eine Beharrlichkeit entwickeln, die seine Sprunghaftigkeit Lügen straft. Dem Josef ist er ein treuer Freund, wobei man eher umgekehrte Rollen erwartet hätte! Dass es schließlich der Josef sein würde, der den gemeinsamen Traum ziehen lässt und einen Rückzieher macht, überrascht. Die Entwicklung der Handlung überrascht ebenfalls, das Ende war ganz und gar nicht vorhersehbar – und ich bin mir auch jetzt, nachdem ich Muße hatte, das Gelesene zu reflektieren, nicht sicher, ob es mir gefällt, ob es das einzig logische war oder ob es nicht noch andere Wege gegeben hätte, die Geschichte enden zu lassen. Enden? Das ist nicht der richtige Ausdruck, denn der Schluss ist im Grunde offen, der Leser kann sich ausmalen, wie das nun weitergeht mit Attila und Josef, oder ob überhaupt. Ob die alte von Sehnsucht von einer neuen abgelöst wird? Zu dem Josef, wie er sich mir zum Abschluss zeigt, würde das nicht passen, ich empfände es als nicht stimmig. Ja, in seiner Figur gibt es für mich nicht nachzuvollziehbare Brüche angesichts dieses, vom Autor gewählten Ausgangs.
Dass ich das Buch dennoch gerne gelesen habe, muss hinzugefügt werden, obschon der schöngeschriebene, einfühlsam erzählte Anfang denn doch nicht gehalten hat, was er versprach und ich darüberhinaus ein eingefügtes Krimielement als vollkommen überflüssig und der Geschichte selbst nicht dienlich erachte, was auch für den unerwarteten und wenig gewinnenden Besuch aus Amerika gilt. Beides stört den ruhigen Fluss der sich langsam und ansonsten folgerichtigen entwickelnden Erzählung mit dem rührend altmodischen Touch, der mich zu Beginn meiner Lektüre so unwiderstehlich in seinen Bann gezogen hatte. Schade, dass dieser Eindruck kein bleibender war und die durchaus realistische Geschichte abgeflacht ist, je weiter sie sich entwickelte. Nicht alles, meine ich, muss an das Vorbild der Realität angepasst werden; in Romanen darf man als Autor über das Schicksal ruhig mal selber bestimmen und es in eine verheißungsvolle Richtung lenken!

Veröffentlicht am 28.02.2022

Happy End für Außenseiter

Nordlichtträume am Fjord
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Wie der Titel bereits andeutet, ist Norwegen der Schauplatz der romantischen Geschichte, die Julie Larsen ihren Leserinnen in dem hier zu besprechenden Roman erzählt. Norwegen in der Gegend um Trondheim, ...

Wie der Titel bereits andeutet, ist Norwegen der Schauplatz der romantischen Geschichte, die Julie Larsen ihren Leserinnen in dem hier zu besprechenden Roman erzählt. Norwegen in der Gegend um Trondheim, um genau zu sein, einer überwältigend schönen Landschaft, in der die Protagonistin Annabell aus Hamburg landet, um dort auf dem Hof der Familie Solberg für eine Weile zu arbeiten. Auf eine Stellenanzeige hatte sie sich beworben, nicht ahnend, dass es ganz sicher nicht die Besitzerin des Hofes mit ehemaliger Spinnerei war, die ihren Arbeitsvertrag online unterschrieben hatte, und die von Annabells Ankunft genauso überrascht war wie Annabell enttäuscht von der Tatsache, dass es keinen Arbeitsplatz für sie geben sollte. Zurück nach Hamburg? Unmöglich, denn vor ihrem Leben dort – und vor sich selbst, wie die Leser erfahren werden – war die schicke junge Frau geflohen, nachdem sie nicht nur ihre Arbeit verloren hatte sondern zu ihrem Entsetzen auch noch schwanger geworden war nach einer Nacht mit einer Zufallsbekanntschaft. Zum Glück ist Berit Solberg zwar eine schnell aufbrausende, aber eben auch eine patente Frau mit dem Herz auf dem rechten Fleck und findet nach der ersten rechtschaffenen Empörung flugs eine Beschäftigung für die aus den Bahnen ihres geregelten und kontrollierten Lebens geworfenen Annabell, die in ihren Designerklamotten und großstädtischem Auftreten so gar nicht in die raue Gegend hoch oben im Norden passen will, zu ihrer eigenen Überraschung aber sehr bald Gefallen findet an ihrer leicht chaotischen, doch überaus toleranten Gastgeberin nebst Familie und der ungezwungenen Freundlichkeit, die ihr entgegengebracht wird. Und als sie dann auch noch dem zurückhaltenden, gar menschenscheuen Schafbauern und Sonderling Bjarne, der seine eigenen Geheimnisse hütet, näherkommt und überdies ihre organisatorischen Fähigkeiten als Marketingfachfrau, als die sie in Hamburg erfolgreich war, gefragt sind für die Bildung einer Kooperative, von der die kreativen Bewohner des Örtchens Elvasund träumen, um die Traditionen zu wahren und ihnen Zukunft zu geben, beginnt Annabell allmählich, nicht nur die Scherben, in die ihr bisheriges Leben vermeintlich zerfallen ist, aufzusammeln, sondern sich gleichzeitig auch mit sich selbst und der Person, die sie glaubte zu sein, auseinanderzusetzen – und schließlich an eine Zukunft zu glauben, für die es allerdings den Mut braucht, über den eigenen Schatten zu springen....
Einen gefühlvollen Roman mit insgesamt liebenswerten Charakteren hat die Autorin mit ihren „Nordlichtträumen“ geschrieben, den ich mit geringen Abstrichen gern gelesen habe. Sie vermittelt durch das gerade richtige Maß an immer wieder wie zufällig eingestreuten, dankenswerterweise niemals episch ausgedehnten Landschaftsschilderungen, auch denjenigen unter den Leserinnen (denn es ist ganz gewiss ein Frauenroman, dem ich hier ein paar Gedanken widme), deren Weg sie nie hinauf in den Norden Europas geführt hat, einen bildhaften Eindruck des ob seiner Naturschönheiten als Urlaubsziel so beliebten skandinavischen Landes, das durch den Ölboom vor wenigen Jahrzehnten aus seinem Dornröschenschlaf gerissen wurde und nun eines der europäischen Länder mit dem höchsten Lebensstandard ist. Doch was noch wichtiger ist – ihre Charaktere sind so gezeichnet, dass sie nicht austauschbar sind, man sie nur in einer Geschichte finden kann, die eben in Norwegen spielt. Kurz und gut – sie sind authentisch in ihrer gelassenen Fröhlichkeit und Freundlichkeit, ihrer Unkompliziertheit und Bereitschaft, das Leben so zu nehmen, wie es kommt, entschlossen, ihm in jeder Lebenslage etwas abzugewinnen, das beste aus jedem Tag zu machen.
Die Figur der Annabell ist das genaue Gegenteil zu den Menschen, die sie vorurteilsfrei aufnehmen und deren Freundschaft sie sich schon bald wünscht. Oberflächlich betrachtet ist sie eine typische Vertreterin ihrer Generation, ihres Landes und ihres Berufsstandes: erfolgreich, dynamisch, unabhängig und reichlich selbstbezogen. Dass viel mehr in ihr steckt, lernt sie im Laufe der Geschichte – durch die Begegnung mit einer Welt, die der eigenen so gar nicht ähnelt, mit Menschen, die alles andere als oberflächlich sind, die in ihrer unkomplizierten Schlichtheit begriffen haben, worum es im Leben geht.
So schön, so gut! Allerdings ist auch die sich wandelnde Annabell eine eher schwache Protagonistin, nicht so ganz glaubwürdig, nicht fassbar (und als sehr störend empfand ich, dass sie in nicht einmal zwei Wochen Norwegisch so gut gelernt haben will, dass sie sich schon vom ersten Tag an flüssig über alle anfallenden Themen unterhalten kann! Das ist des Guten denn doch zuviel, sogar wenn man über eine außergewöhnliche Sprachbegabung verfügt!). Sie ist bedauerlicherweise niemand, dem ich mich tiefer annähern konnte. Und das gilt auch für den eigentlich sympathischen Bjarne, dessen Seelenleben jedoch so überaus kompliziert ist und dessen ihn ständig aufs Neue überfallenden Selbstvorwürfe im letzten Drittel des Romans ermüdend waren. Was verbindet die beiden, habe ich mich immer wieder gefragt. Ihre Einsamkeit, ihr Außenseitertum? Es muss wohl so sein! Sie scheinen einander genau das zu geben, was der jeweils andere braucht. Aber so recht überzeugen will mich das nicht...
Doch sei's drum! Ob der vielen klugen Gedanken, mit denen man des öfteren überrascht wird und nicht zuletzt den liebevoll geschilderten Details, den sichtbaren wie auch unsichtbaren, den häufig zu lesenden Andeutungen einer reichen Sagenwelt, die zum Alltag der ländlichen Bevölkerung im schönen Norwegen gehören, betrachte ich Julie Larsens Roman als wirklich lesenswert. Perfekt für die Romantiker unter den Leserinnen, denen eine Liebesgeschichte, die sich zart entfaltet und nach einigen Hindernissen direkt ins Happy End mündet, über alles geht!

Veröffentlicht am 20.06.2021

Und das Sterben nimmt kein Ende....

Es wird jemand sterben
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Verweilen wir zunächst einen Moment beim Titel „Es wird jemand sterben“, ausgesprochen von der wunderlichen alten Dorfbewohnerin Sofia Henschenmacher, der Dorfhexe, wie es sie auch noch in den 50er Jahren ...

Verweilen wir zunächst einen Moment beim Titel „Es wird jemand sterben“, ausgesprochen von der wunderlichen alten Dorfbewohnerin Sofia Henschenmacher, der Dorfhexe, wie es sie auch noch in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – der Roman spielt im Jahre 1955 – allenthalben gab, denn da stand der Aberglaube noch in voller Blüte. Jemand? Nun, es wird tüchtig gestorben in diesem düsteren Buch – totgeschlagen, gelyncht, mitleidlos sterben gelassen, gemordet! Die ganze Bandbreite!
Alles beginnt mit dem Verschwinden der jungen, lebensfrohen Ursula, die mit ihrer Mutter nach der Flucht aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in dem kleinen Dorf am Rande der Eifel, in dem die Geschichte spielt, eine Behelfsunterkunft, aber beileibe keine Heimat gefunden hat. Flüchtlinge gehören nun einmal nicht zu einer eingeschworenen und unerträglich selbstgerechten Dorfgemeinschaft. Damals genauso wenig wie heute! Ein Verdächtiger ist schnell gefunden in dem Dorfdeppen Martin, der der oben zitierten eingeschworenen Gemeinschaft, die sich gerade auf das kommende Wirtschaftswunder vorbereitet, schon seit langem ein Dorn im Auge war. Behinderte passen eben auch nicht in das ehrenwerte Dorf, sie gehören weggesperrt! Wie gut, dass man längst gelernt hat, andere Wege zu gehen und um Integration und Inklusion zumindest bemüht ist.
Der junge Martin also wird zum nächsten Opfer, hingemetzelt von vier Gerechtigkeitsbürgern. Und damit wird eine Lawine in Gang gesetzt, die das vordergründig heile Dorf in eine eigentümliche Mischung aus Passivität, Wegschauen, Angst, Misstrauen, Hass, unbändige Aggressionen und Gewalt – da kann es einen schon gewaltig schaudern! - versetzt und sich unaufhaltsam ihren Weg bahnt. Die unwillig und höchstens zaghaft ermittelnde Polizei steht vor einer Mauer des Schweigens, niemand will etwas wissen und diejenigen, die Informationen geben könnten, stellen sich unwissend. Der Polizei vertraut man noch lange nicht und ist überdies sicher, mit dem Unheil, das über das Dorf gekommen ist, selbst fertig zu werden, zumal es Dinge hinter den bürgerlichen Fassaden gibt, die dort auch bleiben sollen und auf keinen Fall das Licht des Tages erblicken dürfen.
Und so kommt es, wie es in einem Roman wie diesem kommen muss: zur Katastrophe, die durchaus hätte verhindert werden können. So könnte man meinen, bekommt aber Zweifel, wenn man verfolgt, wie oberflächlich, geradezu dilettantisch der Polizeiapparat, der nur langsam in die Gänge kommt, ermittelt! Der im Klappentext angekündigte junge, ehrgeizige Kommissar, der aus der Kreisstadt zu Hilfe gerufen wurde und angeblich einen Blick „hinter die biederen Fassaden“ wagt, tut nämlich genau das nicht! Sehr schnell schießt er sich auf den Apothekersohn Felix, der Ursula heiraten wollte, als Mörder ein, hinterfragt nichts, zieht keine andere Möglichkeit auch nur in Betracht, sondern steckt den jungen Mann ins Gefängnis und reibt sich zufrieden die Hände! Kann man denn noch dilettantischer vorgehen – um dieses Adjektiv noch einmal zu benutzen?
Und kein Wunder, dass die Dörfler sich für bessere Ermittler halten – aber eigentlich schlagen sie nur vorurteilsbehaftet um sich! - als diese Polizei, die in Herbert Pelzers Roman vertreten ist. Ein arg negatives Bild und man sollte nicht auf den Polizeiapparat an sich schließen! Genauso wenig, wie man das hier beschriebene Dorfleben mit all seinen abstoßenden Abartigkeiten als repräsentativ ansehen sollte. Hier hat beinahe jeder eine Leiche im Keller, von teilweise monströsen Ausmaßen – und man scheut davor zurück, so tief zu blicken, wie es der Autor seine Leser tun lässt. Mit erschreckender Rohheit und äußerster Brutalität wird man konfrontiert, mit unbegreiflicher Kaltblütigkeit und Gewissenlosigkeit nicht nur einer einzigen Person. Um das ertragen zu können, braucht man vielleicht stärkere Nerven, als ich sie habe...
Lange habe ich mich gefragt, ob es in dem Roman, von dem ich auch jetzt noch nicht weiß, ob ich ihn wirklich als Kriminalroman bezeichnen möchte, denn auch positive, aufrechte Charaktere gibt. Zum Glück ist das so, doch wird ihnen, gerade ihnen, viel Leid zugemutet, an dem sie entweder zerbrechen oder zu zerbrechen drohen. Mit den Bösewichten wird aber genauso gnadenlos verfahren – keiner kommt mit dem Leben beziehungsweise gänzlich ungeschoren davon! Ausgleichende Gerechtigkeit? Ja, aber mit dem Vorschlaghammer, roh und brutal!
Bücher müssen ihre Leser finden, das heißt, dass Leser und Buch zusammenpassen müssen. Doch gelegentlich ist dem nicht so – das ist enttäuschend für den Leser wie auch für den Autor. Was ich hier gelesen habe, ist ein pechschwarzes, deprimierendes, beinahe durchweg negatives Buch. Dass die Geschichte realistisch ist oder sein soll – wiewohl in einzelnen Aspekten zu kategorisch verallgemeinernd -, macht es nicht besser. Unbestreitbar aber ist, dass der Roman gut, logisch und enorm spannend geschrieben ist; und auch wenn er nicht der meine ist, so wird er doch ganz gewiss seinen begeisterten Leserkreis finden.

Veröffentlicht am 23.09.2020

Wenn einer eine Reise tut...

Zwei Kofferträger in Shanghai
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Eigentlich sollten Mona und ihr Mann Aldo, Inhaber eines kleinen Malerbetriebs, nur die Ferienwohnung des Herrn Wang streichen! Dass sie dadurch in den recht zweifelhaften Genuss kommen würden, an einer ...

Eigentlich sollten Mona und ihr Mann Aldo, Inhaber eines kleinen Malerbetriebs, nur die Ferienwohnung des Herrn Wang streichen! Dass sie dadurch in den recht zweifelhaften Genuss kommen würden, an einer Studienfahrt in die chinesische Metropole Shanghai teilzunehmen, hätten sie sich nie träumen lassen! Aber abenteuerlustig und Neuem gegenüber aufgeschlossen, wie die beiden Mitfünfziger nun einmal sind, wagen sie die Reise – ihre erste wirkliche Reise überhaupt – ins Unbekannte und entdecken dabei ein Land, das sich als so fremd und unverständlich herausstellt, wie sie es sich auch mit viel Phantasie nicht vorgestellt hatten. Genauso wenig wie diejenigen unter den Lesern, die das Reich der Mitte und seine Gepflogenheiten lediglich vom Hörensagen oder aus Dokumentarfilmen kennen, die ohnehin zumeist nur die schönen Seiten des riesigen asiatischen Landes, dessen eindrucksvolle Natur zeigen und vielleicht sogar auch ein wenig über Politik und Traditionen verraten, die so ganz anders sind als hierzulande.
Nun, nach der zwölftägigen Reise sind Mona und Aldo klüger – und mit ihnen die Leser! Klüger und um einiges desillusionierter, denn was ihnen widerfährt, was sie sehen und hören und spüren in dem geheimnisvollen Land, das sich auch schon im Jahre 2004, denn so lange lag der anstrengende Besuch schon zurück, bevor Mona sich entschied, die Leser an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen ( es ist zu mutmaßen, dass sie diese erst einmal verdauen musste, so haarsträubend und widersprüchlich, wie sie waren ), zu einer der führenden Wirtschaftsmächte unseres Planeten aufgeschwungen hatte, mag wohl nur die unerschütterlichsten, die eingefleischtesten unter den China-Liebhabern nicht abschrecken!
Gewiss, dem dominanten, neugierigen und systemtreuen Reiseführer Herrn Chang mit den zwei Gesichtern war vor allem daran gelegen, die zugegebenermaßen beträchtlichen Errungenschaften des Landes, vereint in der Vorzeigestadt Shanghai, und seine Sonnenseiten herauszustellen, ausschließlich Prestigeobjekte und Prestigeviertel zu zeigen – vom wirklichen Leben wurden Mona, Aldo und ihre Truppe möglichst ferngehalten. „Freigang“ war ebenso reglementiert und fand vorzugsweise nur unter Bewachung lächelnder, aber eisenharter chinesischer Begleiterinnen statt. Aber trotzdem konnte der kleine Diktator, der sehr bald schon mit einer Art Taktstock auftauchte, um die Reisegruppe nach seiner Pfeife tanzen zu lassen ( alte Gewohnheiten in dem roten Sternestaat sind halt schwer abzuschütteln, sofern man das überhaupt anstrebt! ), nicht verhindern, dass gelegentlich das wahre China hervorblitzte, die unvorstellbare Armut und Rückständigkeit der unzähligen Chinesen, die jenseits der Riesenstädte eine nicht menschenwürdige Existenz fristen, die buchstäblich im Dreck leben, von dem sie sich auch ernähren, die nicht teilhaben an dem in rasender Geschwindigkeit voranschreitenden technischen und ökonomischen Fortschritt, für den viele Milliarden ausgegeben werden und der ein erschreckend seelenloser ist. Kritische Fragen wurden von vornherein abgeschmettert mit dem so lapidaren wie nichtssagenden Satz: „Wir sind hier in China“. In einem Land also, so mein Eindruck während und nach der Lektüre, dessen prunkvolle Fassaden eben nur das sind: Fassaden, hinter denen selbst die privilegierten Chinesen ein von unzähligen Regeln eingeschränktes Leben führen. Zucht und Ordnung – so fasst es die wackere Mona mit den vernünftigen Wanderschuhen sehr treffend zusammen, angesichts derer sie – genauso wie ich als Leserin – froh ist, in dem so freien Deutschland leben zu dürfen, in dem jede vermeintliche oder tatsächliche, sei es auch noch so winzige Einschränkung dieses hohen Gutes Freiheit mit lautem Protestgeschrei kommentiert wird und vor allem auch kommentiert werden darf!!
Es ist ein kurzes Buch, das die Autorin als Roman deklariert, das aber nichtsdestoweniger vermuten lässt, dass es auf eigenen einschlägigen Erlebnissen basiert, aber es vermittelt einen aufschlussreichen Blick auf die bereits erwähnten Fassaden, auf das, was sie vorgaukeln wollen, wie auch auf das, was dahinter steckt. Die Ich-Erzählerin Mona weiß unterhaltsam über ihre merkwürdige Reise und deren vielen kleinen, so sprechenden, nur vordergründig amüsanten Begebenheiten und ebenso vielen Unannehmlichkeiten zu berichten, die man wohl nur mit einer guten Portion Humor und Gleichmut ertragen kann, ohne – was ja ganz und gar gegen chinesische Sitten wäre! - seine Empörung laut herauszuschreien.
Ist mir China näher gekommen, fragte ich mich am Schluss? Konnte ich aus den vielen Puzzleteilchen ein Gesamtbild zusammensetzen? Wohl kaum, denn dazu war die Reise des trotz aller Widrigkeiten dauerhaft fröhlichen Paares zu kurz und zu einseitig organisiert, eine Vorzeigereise viel eher als eine Studienreise, als die sie apostrophiert wurde. Soviel aber habe ich erkannt: in diesem Leben wird das wohl nichts mehr mit einer Annäherung zwischen China und mir! Ich werde es gewiss auch weiter vorziehen, mir in meinem freien Land die schönen Heile-Welt-Reportagen anzuschauen, als einen Fuß in das ostasiatische Riesenreich zu setzen, das mir ein Rätsel bleiben wird – trotz der Schlaglichter, mit denen das nette, flott geschriebene kleine Buch versucht haben mag, etwas zu erhellen, was ein freier Westeuropäer niemals verstehen wird noch gar tolerieren kann!

Veröffentlicht am 11.03.2020

Wer aussteigt, ist tot

Die Komplizin
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Der jungen Krankenschwester Anna stößt das zu, was niemand brauchen kann in seinem Leben: sie ist zur falschen Zeit am falschen Ort! Und damit gerät eine Lawine ins Rollen, die sie aus ihrem bisherigen, ...

Der jungen Krankenschwester Anna stößt das zu, was niemand brauchen kann in seinem Leben: sie ist zur falschen Zeit am falschen Ort! Und damit gerät eine Lawine ins Rollen, die sie aus ihrem bisherigen, reichlich unspektakulären, gar ein wenig langweiligen Alltag herauskatapultiert und hineinwirft in ein gefährliches Abenteuer wider Willen, in dem sie sich in ständiger Lebensgefahr befindet und dessen Ausgang höchst ungewiss ist!

Alles beginnt damit, dass sie auf dem Heimweg vom Nachtdienst vor einer roten Ampel unverhofft Besuch bekommt: zwei junge Männer dringen in ihr Auto ein und entführen die junge Frau kurzerhand – wobei es ihnen allein um das Fahrzeug geht, denn sie befinden sich auf der Flucht! Die beiden gefährlichen Gesellen sind ein mexikanisches Brüderpaar, das bis dato einer dubiosen Organisation angehörte, die sich Streetsurfer nennt und hinter der sich, wie der Leser allmählich erfährt, eine Bruderschaft verbirgt, eine Art Sekte, auf jeden Fall aber eine höchst gefährliche und skrupellose Verbrecherbande, die ihre schmutzigen Hände in jedem nur denkbaren kriminellen Geschäft hat und bei der eine Mitgliedschaft „lebenslänglich“ bedeutet. Bis der jüngere der Brüder, der psychisch instabile, von unbändigem Hass auf alles und jeden, vor allen Dingen aber auf sich selbst, besessene Diego nach einem vereitelten Selbstmordversuch einfach aussteigt! Und wer aussteigt, ist tot! Das weiß Diego – und vielleicht noch besser weiß es sein Bruder Rafael, der unfreiwillig Abtrünnige, der alles daransetzt, Diego zur Rückkehr zu bewegen. Da die mörderischen Handlanger der Bruderschaft aber bereits die Verfolgung aufgenommen haben, ist es für eine Umkehr zu spät! Also bleibt nichts anderes als die Flucht, die – in Annas Auto und mit ihr als Geisel, die, wenn es nach Rafael gegangen wäre, längst nicht mehr am Leben wäre – über Freiburg nach Spanien und von dort heim nach Mexiko führen soll.

Im Verlauf der Handlung, die von schnellen und unerwarteten Wendungen lebt, bei der die Überraschungen immer im Hintergrund lauern, die den Leser durchweg und, so wiedersprüchlich das auch klingen mag, trotz ihrer generellen Langatmigkeit dauerhaft in Atem hält und die keineswegs linear verläuft sondern von ebenso abrupten Perspektivwechseln lebt, denn Anna und die beiden „Aussteiger“ sind keineswegs die einzigen Protagonisten, ergibt sich allmählich eine Art Psychogramm der Geisel Anna als auch ihrer Entführer – ohne freilich, was meines Erachtens wichtig gewesen wäre, allzu viel zu preiszugeben über die Umstände, die letztere dazu brachten, ihr Leben in Mexiko hinter sich zu lassen und zu gewissenlosen Killern zu werden, gefangen in einer Organisation, die sie zu eben jenen gemacht hat.

Auch von den Streetsurfern selbst, deren Treiben den zweiten Handlungsstrang bedient, bekommt man nicht viel mehr als ein vages Bild, ihre Struktur ist am Ende des Thrillers kaum verständlicher als zu Anfang. Dieses Nicht- oder Halbwissen allerdings ist nichts, was ich unbedingt als unzureichend betrachte, denn verfolgt man das Interagieren der Mitglieder der Organisation, darf man darauf schließen, dass sich Abgründe auftun, in die man eher nicht schauen möchte! Selbst diejenigen, die ihnen Informationen zubringen, sind zum Tode verurteilt, wie man an dem Freiburger Ehepaar sehen kann, bei dem die Brüder samt Anna auf ihrer Flucht Halt gemacht hatten – und deren Ermordung die Polizei sogar auf Annas Spuren bringt, die, was das Ganze noch komplizierter macht, sehr bald steckbrieflich gesucht wird....

Und das wiederum führt uns zum dritten Handlungsstrang, dem nämlich, in dem Annas Verlobter aus Hamburg, der ehrgeizige, karrierebesessene Nico, dem sich Anna vor ihrer Entführung immer mehr entfremdet hatte, herumtaumelt und -stolpert und zu einem wahren Ärgernis wird. Ja, er sucht nach Anna, nachdem er ihr freilich zuerst bösen Willen und absichtliches Verschwinden unterstellt hatte und konstant schwankt zwischen kontinuierlich abnehmender Sorge um und Wut auf sie. Bis zum Ende des vorliegenden Bandes ist Nicos Rolle nicht ersichtlich, denn er trägt nichts zu der sich entwickelnden und schließlich kulminierenden Handlung bei. Nichts jedenfalls, das hier, in diesem ersten Teil der auf mehrere Bände konzipierten „Alles“-Reihe, zu erkennen wäre. Er ist ein Schwachpunkt der Geschichte, ein flacher Charakter ohne Tiefgang – was freilich weder von Diego noch von Anna behauptet werden kann! Sie sind beide komplexe Figuren – das Mädchen, zu Anfang verständlichermaßen völlig verängstigt, ist unerwartet zäh und erweist sich als resistent und äußerst mutig, während die Zerrissenheit und der sich verschlechternde psychische Zustand des jungen Mexikaners Diego sehr authentisch geschildert wird. Dass er sich in Anna verliebt, scheint folgerichtig; er sieht in ihr zunehmend stärker seine Retterin, diejenige, die ihn aus seinem inneren Gefängnis voller Selbstekel und Hass herausholen, mit der er gar ein neues Leben beginnen kann.

Folgerichtig ist auch, dass Anna seine Gefühle allmählich erwidert, dabei aber immer, ihrem standfesten Charakter treu bleibend, auf dem Boden bleibt und trotz aller unerwarteter Sehnsüchte, die Diego in ihr erweckt, weiß, dass es kaum eine gemeinsame Zukunft geben kann.

Damit ist aber schon beinahe zu viel gesagt über den recht umfangreichen, fesselnden, sehr abwechslungsreichen, weitgehend unvorhersehbaren und, trotz einiger Längen nie langweiligen Thriller, der ganz gewiss, obwohl oder vielleicht auch gerade weil so viele Fragen offen geblieben sind, ein gelungener Auftakt der „Alles“-Serie ist, auf deren zweiten Band man gespannt sein darf!