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Veröffentlicht am 23.06.2021

Agatha Christies am wenigsten geliebter Kriminalroman

Der blaue Express
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In ihrer Autobiographie erwähnt die englische Kriminalschriftstellerin Agatha Christie ihren achten Roman nur ungern, da sie selbst ihn für ihren schlechtesten hält. Geschrieben hat sie ihn kurz nach zwei ...

In ihrer Autobiographie erwähnt die englische Kriminalschriftstellerin Agatha Christie ihren achten Roman nur ungern, da sie selbst ihn für ihren schlechtesten hält. Geschrieben hat sie ihn kurz nach zwei Schicksalsschlägen in ihrem Leben, dem Tod der geliebten Mutter und dem katastrophalen Ende ihrer Ehe mit Archibald Christie, nachdem das Schreiben plötzlich nicht mehr nur eine Freizeitbeschäftigung war, sondern vielmehr notwendig, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen – ungewohnt für die privilegierte Tochter wohlhabender Eltern, der Geldsorgen bisher fremd waren. Für „The Mystery of the Blue Train“ (deutscher Titel „Der blaue Express“), der 1928 erstveröffentlicht wurde, zog sie eine bereits 1923 erschienene Kurzgeschichte, „The Plymouth Express“ heran und machte daraus einen Roman, der, wie sie überaus selbstkritisch konstatierte, voller Gemeinplätze und Clichés sei und darüber hinaus eine uninteressante Handlung habe.
Zugegeben, „The Mystery of the Blue Train“ ist nicht einer der besten Krimis der berühmten Britin, aber ihr allzu negatives Urteil kann ich nicht bestätigen, womit ich konform gehe mit der Meinung der allermeisten Kritiker, die die Geschichte seit ihrem Erscheinen besprochen haben. Langweilige Handlung? Davon kann keine Rede sein, denn auch wenn die „Queen of Crime“ sich beim Schreiben, wohl aufgrund ihrer privaten Probleme, einigermaßen schwer getan haben mag, so hat ihr am wenigsten geliebter Krimi doch alle Zutaten, die die Britin zur bekanntesten Kriminalschriftstellerin der Welt gemacht haben: eine verzwickte Handlung voller überraschender Wendungen und falscher Fährten, eine Reihe sehr unterschiedlicher, rätselhafter, nicht leicht durchschaubarer Charaktere, die – und in diesem Punkte stimme ich der Schriftstellerin zu – sehr wohl chlichéhaft sind, was aber bei ihr nicht ungewöhnlich ist, interessante Schauplätze, wie der von 1886 bis 2003 von Calais nach Ventimiglia verkehrende „Le Train Bleu“, durchaus vergleichbar mit dem berühmten Orient Express, und schließlich die französische Riviera.
Nicht zuletzt hat auch der unnachahmliche belgische Meisterdetektiv mit dem unerschütterlichen Ego, Hercule Poirot, seinen – bis dahin sechsten – Auftritt! Und er ist immer ein Garant für amüsante Unterhaltung! Dass er den ihm anvertrauten Fall am Ende auf seine grandiose Art und Weise lösen wird, den Mord nämlich an einer reichen amerikanischen Erbin, Ruth Kettering, die, einer unglücklichen Ehe entfliehend, mit dem „Train Bleu“ unterwegs ist zu ihrem Liebhaber, dem zwielichtigen Comte de la Roche, Verehrer schöner, aber vor allem reicher Frauen und exquisiten Schmucks, steht außer Zweifel! Und besagte Lösung ist, wie kann es auch anders sein bei Agatha Christie, gewohnt überraschend, obgleich der Leser, folgt er den immer wieder sehr geschickt eingestreuten Hinweisen und interpretiert sie richtig, dem Mörder auch selbst hätte auf die Spur kommen können!
Ja, etwas verwirrend ist die Geschichte schon, denn es geht nicht nur um die Aufklärung eines Mordes sondern auch um den Diebstahl eines berühmten Rubins, des „Heart of Fire“, den die Ermordete von ihrem Multimillionär-Vater, dem Amerikaner Rufus Van Aldin, geschenkt bekommen hatte und den sie mit sich führte. Besagter Edelstein übrigens, den Van Aldin über dunkle Kanäle erworben hat, hat seine eigene Geschichte, ist verrufen, weil er seine Besitzer angeblich nicht froh machen solle, wie Juwelen überhaupt seit Anbeginn der Zeiten Unglück gebracht haben. Wurde Ruth Kettering also wegen des Rubins getötet oder steckt vielmehr Derek Kettering, ihr Ehemann, hinter dem Mord? Vertrauen wir Poirot – wenn jemand das Knäuel auflösen kann, das sich immer mehr zu verheddern scheint, dann ist er es! Und er bekommt unerwartet Hilfe, in Gestalt nämlich der sympathischen Katherine Gray aus St. Mary Mead (Miss Marple Fans werden hier zu Recht aufhorchen!), die mit Hilfe einer kürzlich gemachten Erbschaft ihre neue Freiheit an der Riviera genießt – und sich prompt in den charmanten Windhund, den frisch verwitweten Derek Kettering, verliebt, Hauptverdächtiger im Mordfall Ruth Kettering. Aber da ist noch jemand, der ein Auge auf die junge Frau mit den wunderschönen grauen Augen und dem ausgeprägten Sinn für Humor geworfen hat... Aber damit ist schon beinahe zu viel gesagt – und dennoch zu wenig, was das Kaleidoskop an bemerkenswerten Gestalten betrifft, die diesen Krimi bevölkern und die alle irgendwie in den Fall verwickelt sind. Langweilig wird es wahrhaftig zu keinem Zeitpunkt und es lohnt sich allemal, das „Stiefkind“ der unübertrefflichen Krimiautorin aus Torquay in Cornwall zu lesen!
Und zu guter Letzt soll die Widmung zu „The Mystery of the Blue Train“ nicht unerwähnt bleiben, denn sie wirft Licht auf die Verfassung Agatha Christies, als sie den hier besprochenen Krimi schrieb. „To the two distinguished members of the O.F.D., Carlotta and Peter“ lesen wir da. Das Kürzel steht für „Order of the Faithful Dogs“, womit diejenigen gemeint waren, die Christie nach den Schicksalsschlägen 1926/27 die Treue gehalten und sich nicht von ihr abgewandt hatten, wie so viele der früheren gemeinsamen Freunde des nunmehr entzweiten Ehepaars. Carlotta war übrigens die loyale Sekretärin der Autorin, Peter der geliebte Terrier ihrer Tochter Rosalind....

Veröffentlicht am 21.06.2021

Was damals wirklich geschah...

Dass du in Venedig wärst
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Es gibt Menschen, die sich nur einmal im Leben verlieben, heftig und bedingungslos, und danach nie mehr. Und die sich, wenn sie sie verlieren, nie mehr binden und diese eine große Liebe bewahren bis an ...

Es gibt Menschen, die sich nur einmal im Leben verlieben, heftig und bedingungslos, und danach nie mehr. Und die sich, wenn sie sie verlieren, nie mehr binden und diese eine große Liebe bewahren bis an ihr Lebensende. Karl, der Ich-Erzähler des Romans, der wie ein Krimi beginnt, aber doch viel mehr ist, wie man bald feststellt, ist einer von diesen Menschen. Bei Recherchen zu einem Buch, das er über „Il divino Guido“, Guido Reni, der einer der berühmtesten Künstler des 17. Jahrhunderts war, zu schreiben gedenkt, lernt er im winterlichen Venedig (ja, auch zu dieser Jahreszeit kann die verfallende Lagunenstadt wunderschön sein!) die rätselhafte Caterina kennen – und verliebt sich, zu dieser Zeit nicht mehr ganz jung, Hals über Kopf in sie. Doch ist dieser Liebe keine Erfüllung beschert, denn nach unerklärlichen Ereignissen, in deren Mittelpunkt der Diebstahl eines monumentalen Kunstwerkes aus einer der unzähligen so reichen Stadt im Meer und der Tod eines unsympathischen und recht dubiosen Kunstkritikers steht, der aber ein von der Polizei verschwiegener Mord ist, erhält Karl einen Brief von Caterina, in dem sie ihm mitteilt, dass sie die Stadt und ihre Familie verlassen wird und ihn bittet, nicht nach ihr zu suchen.
Daran hält sich Karl – und es müssen zwanzig Jahre vergehen, bevor er, zu dieser Zeit ein Gast auf dem englischen Landgut eines Freundes, unvermittelt wieder auf die unvergessenen Tage in Venedig gestoßen wird, denn das damals entwendete und seitdem spurlos verschwundene Kunstwerk ist wieder aufgetaucht! Für Karl, der inzwischen die 60 überschritten und keine Zeit mehr zu verlieren hat, gibt es nun kein Halten mehr. Unverzüglich und mit einer in zwanzig Jahren gewachsenen Entschlossenheit macht er sich auf den Weg nach Venedig, in der Hoffnung, Aufklärung zu bekommen über die damaligen Vorkommnisse und gleichzeitig bestrebt, Caterina wiederzufinden – um entweder einen Abschluss machen zu können oder einen Neubeginn. Nun – welche Überraschungen ihn im erneut winterlichen Venedig erwarten konnte er nicht ahnen – genauso wenig, wie der Leser!
Leicht ist es gewiss nicht zu lesen, dieses Buch, das ich als Liebesgeschichte mit Krimielementen bezeichnen möchte. Jenes Krimielement, der Kunstdiebstahl und seine Hintergründe, über die der Protagonist erst ganz am Schluss aufgeklärt wird, ist schließlich der Schlüssel für das, was all die vielen Jahre zuvor geschah und eine Kette von Ereignissen in Gang setzte, die die beiden Liebenden trennte, denn wir haben es hier keineswegs mit einer einseitigen Liebesgeschichte zu tun, wie ich lange gemutmaßt habe. Der Roman mit gemächlich sich entwickelnder Handlung – was natürlich so gar nicht zu einem echten Krimi passen will – ist vor allem eines: ein Buch, das sich einer erlesenen Sprache bedient, geschrieben in höflichem, altmodisch anmutendem, aus der Zeit gefallenem, aber unendlich wohltuendem Stil, vor allem angesichts der sich rasant entwickelnden Neigung, sich im Telegrammstil, durchsetzt von zahlreichen passenden oder – zumeist – unpassenden und völlig überflüssigen Anglizismen miteinander zu verständigen. Ein Abwägen der Worte, das eine immer höfliche, nie verletzende Distanz kreiert oder aber das Gegenteil, Nähe, die niemals plump und distanzlos ist. Es ist ein Genuss, das zu lesen und es ist das, was die Geschichte, die ich hier gelesen habe, zu etwas Besonderem macht, fern von der Massenware, die den Büchermarkt überschwemmt.
Zweier Handlungsorte bedient sich der Roman : in Venedig beginnt er und dort endet er auch, unterbrochen von dem bereits erwähnten Besuch des Ich-Erzählers, Karl, auf dem Landgut seines Freundes in England. Doch welch ein Gegensatz! Von der auch im Winter von der Sonne erleuchteten Lagunenstadt, deren Flair der Autor so überzeugend zu vermitteln vermag, direkt ins graue und triste vorweihnachtliche England! Da ist besagtes Flair nicht im geringsten zu spüren, stattdessen trifft man auf Steifheit, auf gepflegte Langeweile, den Müßiggang der Reichen und auf Personen, zu denen man keine Nähe entwickeln kann – und die doch beinahe alle zum Fortgang der Ereignisse beitragen werden. Der kühl-distanzierte Umgang miteinander lässt keine Wärme aufkommen – und doch muss dieses Intermezzo offensichtlich sein, denn hier, in fröstelnder Atmosphäre, ereilt Karl seine Vergangenheit, hier beschließt er, diese mit der Gegenwart zu verknüpfen und etwas zu Ende zu bringen, das vor so vielen Jahren begonnen hat und dann so abrupt abgebrochen wurde...
Summa Summarum: Einen nicht alltäglichen Roman habe ich mit „Dass du in Venedig wärst“ gelesen, einen Roman, über den man lange nachsinnen, in dem man verweilen und den man auch mehr als einmal lesen kann. Einen Roman auch, bei dem vieles erfühlt und erahnt werden muss, mit Protagonisten, die durchaus vielschichtiger, aber nicht unbedingt sympathischer sind, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Man muss schon versuchen, hinter die Fassaden zu blicken, um sie und ihre Handlungsweise zu verstehen, nachempfinden zu können. Und ich kann mir gut vorstellen, dass man da zu ganz unterschiedlichen Schlüssen kommen kann....

Veröffentlicht am 14.06.2021

Die besten Ferien von allen

Frida und die Blaubeersuppe
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Leni ist ein aufgewecktes Frankfurter Mädchen, das den geplanten Spanienurlaub mit den Workaholic-Eltern und der großen Schwester herbeisehnt. Endlich mal alle zusammen, denkt sie – und wird dann doch ...

Leni ist ein aufgewecktes Frankfurter Mädchen, das den geplanten Spanienurlaub mit den Workaholic-Eltern und der großen Schwester herbeisehnt. Endlich mal alle zusammen, denkt sie – und wird dann doch enttäuscht! Wieder einmal! Denn ach so wichtige berufliche Verpflichtungen der Eltern machen die Pläne zunichte und statt Spanien soll es Schweden sein! Ausgerechnet, murrt Leni, und noch dazu ohne die ältere Schwester Pauline, die es vorzieht, mit ihren Freundinnen zu verreisen. Leni ist sauer, ach so sauer ist sie! Schweden! Das kann doch nur stinklangweilig werden.... Offensichtlich gehört das Kind mit dem lockeren Mundwerk nicht zu denen, die mit Astrid Lindgrens unsterblichen Kinderbüchern groß geworden sind und sich nichts Schöneres vorstellen können, als auf Michels, Pippis, Maditas, Tjorvens, und wie sie alle heißen. Spuren zu wandeln. Sonne, Strand, Meer – das zieht Leni vor. Und genau so war es abgemacht.
Doch nach einer langen Reise endlich in Schweden angekommen, wird nichts aus Lenis Vorhaben, alles doof zu finden und sich schrecklich zu langweilen, denn da purzelt Frida in ihr Leben, mindestens ebenso pfiffig wie Leni selbst, immer fröhlich, stets einen flotten Spruch auf den Lippen, und reißt die schmollende Leni einfach mit! Vorbei ist es mit Groll und Langeweile und ein wunderschöner Sommer in dem roten Ferienhaus am See beginnt. Jeder Tag steckt voller Überraschungen – und zwischen Entenretten, Oma Ingas unwiderstehlicher Blaubeersuppe (ein Rezept dazu wollen uns die Autorinnen nicht verraten!), köstlichen Zimtschnecken und Zwistigkeiten mit dem Unruhestifter Jonne und seiner Bande findet Leni nicht einmal Zeit – und hat sowieso keine Lust – mit den Eltern, die ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit plötzlich etwas gemeinsam unternehmen wollen, auf Ausflüge zu gehen.
Aber leider gehen die wunderbaren Ferien viel zu schnell zu Ende – die Freundschaft mit Frida jedoch, das versprechen sich die beiden Mädchen, die wird nie ein Ende haben....
Ein rundum fröhliches Kinderbuch schenken die beiden Autorinnen hier ihren Lesern! Sie lassen die Protagonistin Leni selbst erzählen – und die tut das auf flotte und witzige Art, denn auf den Mund gefallen ist sie wirklich nicht. Versteht sich doch von selbst für ein Großstadtkind! Genauso könnte sie es gesagt haben.... Ihre Art zu erzählen, frisch von der Leber weg, immer spontan und wie ihr der Schnabel gewachsen ist, spricht Kinder ihres Alters natürlich an – die Zielgruppe würde ich auf 8 bis 11 Jahre einschätzen -, und mancher junge Leser mag sie um ihre ausgesprochene Schlagfertigkeit beneiden.
Soweit zum Formalen. Aber es steckt mehr in der Geschichte als einzig ein amüsantes, gute Laune machendes Ferienabenteuer! Da sind die Eltern, die Leni immer wieder enttäuschen; sie hat gelernt, ihren Versprechungen erst einmal zu misstrauen. Die Hingabe ihrer Eltern an ihren Job und die damit verbundene Karriere, scheinbar um jeden Preis, und den daraus resultierenden Zeitmangel nimmt Leni inzwischen hin – und gegen Ende der Geschichte erfährt man, dass Frida ebenso mit beruflich schwer beschäftigten Eltern beschenkt wurde. Nun, sie hat immerhin ihre originelle Oma Inga! Und die kümmert sich, wie es eben nur eine Oma vermag....
Ich denke, dass vielen Kindern Lenis und Fridas Situation bekannt vorkommt – und schon ist ein Band mehr da zwischen den Mädchen und ihren Lesern. Erwachsene mögen das Buch anders lesen und gerne ein paar Wörtchen mit den arbeitsbesessenen Eltern reden, um ihnen klarzumachen, dass manchmal eine noch so strahlende berufliche Karriere nicht das ist, was im Leben wirklich zählt.... Aber das soll nicht weiter thematisiert werden. Vielmehr wünsche ich dem Buch, dessen Cover in reizenden Zeichnungen die gesamte Geschichte erzählt, die sich dahinter verbirgt, wie man am Ende feststellen kann, jede Menge kleiner wie auch größerer Leser, die dann sicher, gemeinsam mit mir, auf ein baldiges Wiedersehen mit Schweden und den beiden Freundinnen hoffen.

Veröffentlicht am 24.09.2020

Gesellschaftskritischer Landhauskrimi mit einer Prise Humor

Tod eines Lords
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Ein gar ungleiches Paar sind sie, die hochwohlgeborene Lady Christabel Mowgray, verwöhnte und ob des Überflusses, in dem sie lebt, oft gelangweilte Tochter aus gutem Hause, und ihre nur wenig ältere Zofe ...

Ein gar ungleiches Paar sind sie, die hochwohlgeborene Lady Christabel Mowgray, verwöhnte und ob des Überflusses, in dem sie lebt, oft gelangweilte Tochter aus gutem Hause, und ihre nur wenig ältere Zofe Maud Gulliver, trotz oder gerade wegen ihres niedrigen gesellschaftlichen Standes die weitaus lebenserfahrenere und wohl auch, so bekommt man während des Lesens den Eindruck, klügere der beiden jungen Frauen. Nur leider war es auch noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts so gut wie unmöglich, dem gesellschaftlichen Stand, in den hinein man das Pech hatte geboren zu werden, zu entfliehen. Da nutzen der Zofe Maud ihre beachtlichen kognitiven Kapazitäten rein gar nichts!
Nun, wenigstens hat sie es mit ihrer Ladyschaft unter den damaligen Umständen und trotz ihrer, wie der Leser andeutungsweise immer wieder erfährt, zweifelhaften und im Dunkeln gehaltenen Vergangenheit gar nicht schlecht getroffen, denn das mit einem silbernen Löffel im Munde geborene Fräulein hat, bei aller Oberflächlichkeit und dem gewiss auch vorhandenen Standesdünkel, ein gutes Herz und behandelt ihre Zofe fair, lässt ihr gewisse Eigenmächtigkeiten durchgehen, die sich gemäß der strengen Etikette für die Dienstboten nicht gehören und durchaus Grund für eine Entlassung sein können.
Wären die sozialen Barrieren nicht, derer sich beide bewusst sind – Christabel und Maud könnten die besten Freundinnen sein! Dass das nie geschehen wird, weiß zumindest Maud ganz genau, so sehr es der Leser auch bedauern mag, wenn er mitverfolgt, wie Herrschaft und Zofe miteinander agieren, wie die eine auf die andere hört, ja wie sie aufeinander aufpassen, einander ernst nehmen. Ja aber – das ist doch genau der Stoff, aus dem Freundinnen gemacht sind, mag man denken! Nun, die ebenso strengen wie absurden gesellschaftlichen Regeln, die unsinnigen Klassenschranken machen eine Freundschaft auf Augenhöhe unmöglich – punktum!
Und über besagte Regeln erfährt man viel, sehr viel in C.L.Potters Cosy Crime Mystery; allenthalben wird man darauf gestoßen, stolpert man darüber, bleibt hängen, empört sich, ist gar manches Mal fassungslos über die Macht der ohne eigenes Verdienst edel Geborenen, denen die nach Upstairs gehören, und die Ohnmacht derjenigen, die unglücklicherweise auf der Schattenseite des Lebens das Licht der Welt erblickt haben. Denen also, die Downstairs zu Hause sind – in der hier zu besprechenden Geschichte die Dienstboten eines privilegierten adligen Haushaltes -, deren Reich sich eben im Untergeschoss des herrschaftlichen Gemäuers befand und von deren Leben die der Muse und dem Vergnügen nachgehenden Edlen im restlichen Teil des Anwesens in der Regel kaum etwas wussten, sich aber auch nicht daran interessiert zeigten.
Lady Christabel nun wird, damit die Geschichte endlich beginnen kann, von Maud dazu überredet, die Wochenendeinladung der Willmingtons, derer von Aylesgrave, anzunehmen, um auf andere Gedanken zu kommen, denn es sieht ganz danach aus, dass die große, leider nicht standesgemäße Liebe der jungen Lady zu denen gehört, die den Untergang der Titanic nicht überlebt haben. Alles ist besser, so meint die resolute Maud, als seine Tage jammernd und klagend im Bett zu verbringen – auch wieder so ein Luxus, dem sich Downstairs nicht hingeben kann, wiewohl deren Sorgen um nichts geringer sind als diejenigen, die sich Upstairs zu haben einbildet...
Aber ist das Landgut der Willmingtons denn wirklich die rechte Ablenkung? Letztere, ebenso wie ihre erlauchten Gäste, sind so langweilig und nichtssagend, so überwältigend vom Standesdünkel geplagt wie die Mowgrays, Christabels eigene Familie! Nur haben sie noch zusätzlich ein besonders abscheuliches Exemplar der Gattung Mensch aufzuweisen, nämlich den jüngsten Sohn Lucian, für den Anstand und Moral Fremdwörter sind, der bei der Verfolgung seiner Interessen keinerlei Rücksicht kennt und im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht. Dass er sehr bald nach Christabels Ankunft selbst zu einer wird, scheint nur recht und billig zu sein!
Aber, so denkt sich das vornehme Fräulein, der Gerechtigkeit muss Genüge getan und der Mörder des jungen Unholds muss gefunden werden. Gerüstet mit dem detektivischen Wissen, das sich Christabel, eine leidenschaftliche Leserin von Kriminalromanen, durch deren Lektüre angeeignet hat, beginnt sie nun, auf eigene Faust zu ermitteln, unterstützt von ihrer nicht minder lesebegeisterten Zofe. Die eine Upstairs, die andere Downstairs! Und was sie dabei an peinlichen Scheußlichkeiten zu Tage fördern, oben wie unten, gäbe reichlich brisanten Stoff, den die Presse, wüsste sie denn von dem Mord, den die Angehörigen nur zu gerne als Verkettung unglücklicher Umstände deklarieren möchten, genüsslich zelebrieren würde... Doch die beiden wackeren, oft genug ins Fettnäpfchen tretenden, Amateurdetektivinnen – und als solche typisch für einen Cosy Crime – lassen nicht locker und stoßen im Zuge ihrer ebenso amateurhaften Nachforschungen, bei denen weder Upstairs noch Downstairs eine gute Figur abgeben, schließlich auf die wahren Umstände des Todes des gar nicht feinen Herrn Lucian....
„Tod eines Lords“ kann man in der Tat getrost als Cosy Crime Mystery einstufen, als Wohlfühlkrimi, Landhauskrimi oder gar Häkelkrimi, wie diese Unterart des Kriminalromans, dessen sich schon Dame Agatha Christie in ihren zwölf Miss Marple – Geschichten bedient hat, liebevoll, aber auch ein wenig abwertend bezeichnet wird. Der Handlungsort ist eben ein Landhaus, mitten in einem beschaulichen Fleckchen Erde, die Ermittlerinnen sind nicht vom Fach sondern halten sich vielmehr aus anderen Gründen für prädestiniert, ein Verbrechen aufzuklären. Reichlich schrullig sind sie, genauso wie grenzenlos neugierig und sehr vertraut mit den übrigen Akteuren, die zum Kreis der Verdächtigen gehören. Der Mord selber geschieht nicht vor den Augen des Lesers – eine Wohltat, wenn man sich durch die Art von Krimis respektive Thrillern gequält hat, die heutzutage in Massen auf dem Markt eintrudeln und einem unersättlichen Publikum, das sich angeblich bei den abschreckendsten, widerwärtigsten und grausamsten Szenen am besten entspannen kann, zum Fraß vorgeworfen werden. Eine gehörige Portion Gesellschaftskritik an der Upper, Middle, Upper Middle und Lower Class ist nicht zu übersehen – auch dieses eines der vielen Kennzeichen eines Cosy Crime!
Jedoch scheint mir der Ausgang wieder ein wenig wegzuführen von einem typischen Landhauskrimi, der nicht nur mit der Aufklärung des Kriminalfalles sondern eben auch mit derm Sieg der Gerechtigkeit enden sollte. Ein Täter, der davonkommt, ist nicht üblich, und jeder soll seine gerechte Bestrafung bekommen, nachdem das gemütliche Rätselraten vorbei ist! Ein wenig sehr schwarz-weiß kommt mir dieses Kriterium vor – und mit Genugtuung lese ich, dass Lady Christabel und die Zofe Maud ihre eigenen Vorstellungen davon haben, wie mit dem Täter verfahren werden sollte und zum Glück mit Friede, Freude, Eierkuchen wenig im Sinn haben. Pfiffig nenne ich ihre Entscheidung, befriedigend und differenziert – und wären da nicht die vielen Längen gewesen, in denen die Handlung stillsteht zugunsten mir persönlich viel zu ausufernder Beschreibungen der Räumlichkeiten, in denen sich unsere Protagonistinnen bewegen, und zu guter Letzt noch die an den Haaren herbeigezogene Schlussidee der Autorin – dieser Krimi hätte der perfekte Cosy Crime sein können! Dennoch – auf die beiden geplanten Folgebände um die ungleichen Amateurdetektivinnen darf man neugierig sein! Entwicklungspotential haben sie allemal!

Veröffentlicht am 24.09.2020

Müßiggang ist aller Laster Anfang

Lügen einer Lady
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Da sind sie also wieder, die hochwohlgeborene Lady Christabel Mowgray und ihre eigenwillige Zofe Maud, die der Leser bereits im Vorgängerband „Tod eines Lords“ kennenlernen durfte! Und wieder hat er das ...

Da sind sie also wieder, die hochwohlgeborene Lady Christabel Mowgray und ihre eigenwillige Zofe Maud, die der Leser bereits im Vorgängerband „Tod eines Lords“ kennenlernen durfte! Und wieder hat er das Vergnügen, den beiden ungleichen Amateurdetektivinnen bei ihren Ermittlungen, die sich zwischen Pannen und Geistesblitzen bewegen, amüsiert über die Schulter zu schauen! Im Unterschied zum ersten Band allerdings stolpern Lady und Zofe diesmal nicht Hals über Kopf in einen Mordfall sondern werden gar – man lese und staune! - von einer gewissen Althea Haddington, einer Freundin der für ihre Zeit recht ungewöhnlichen, weil unkonventionellen und sich dem erwünschten Stand der Ehe halsstarrig verweigernden Lavinia Mowgray, Christabels bewunderter Tante, gebeten, ihr aus einer sehr delikaten Patsche zu helfen. Die Viscountess hat sich nämlich auf dem Landgut der Familie Comerford, der Edlen von Marchbrooke, dummerweise mit einem jungen Lakai eingelassen, von dem sie nun erpresst wird. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn dieser Fehltritt ruchbar würde! Gesellschaftlich erledigt wäre die Dame, für immer und alle Zeiten, denn die herrschenden rigiden Regeln gestatteten ein solches Betragen in ihren Kreisen nicht, wiewohl außereheliche Beziehungen unter dem edlen Volk, das vor Langeweile und der Sinnlosigkeit des gesellschaftlich vorgeschriebenen Müßiggangs schier umkan, gang und gäbe waren. Nur musste dieses unmoralische Betragen unter dem fadenscheinigen Deckmäntelchen der Verschwiegenheit gepflegt werden und durfte unter keinen Umständen publik werden. Mit Heuchelei nämlich hatte man so gar keine Probleme – man sieht, dass sich daran bis heute nichts geändert hat....
Recht begeistert jedoch sind weder Miss Christabel noch die ziemlich skeptische Maud von dem Auftrag, die von dem hinterhältigen Lakaien entwendete Halskette der Viscountess zurückzustehlen, um ihm damit die Grundlage für die Erpressung zu entziehen, haben sie doch bereits erfahren müssen, wie schnell aus einem spannenden Detektivspiel, das zur Zerstreuung gedacht war, bitterer Ernst werden kann.... Und so dauert es auch gar nicht lange, bis den beiden für ihre Zeit ganz und gar nicht alltäglichen Frauen, die die Klassenschranken zwischen denen da oben und jenen da unten fröhlich missachten, feststellen, dass sie sich auch diesmal in etwas einmischen, das nicht nur eine Nummer zu groß für sie ist sondern sogar richtig gefährlich werden kann – denn dass alsbald ein Mord geschehen würde, haben sie nicht erwartet! Und auch nicht, dass ausgerechnet Maud dieser Mord in die Schuhe geschoben werden soll! Jetzt ist Christabel gefragt, denn schließlich hat sie es zu verantworten, dass Maud sich bei den von ihr angeordneten Schnüffeleien in Gefahr begeben hat. Und sie bekommt die Gelegenheit zu beweisen, dass weit mehr in ihr steckt, als man oberflächlich hinter der so sprunghaften wie launischen, sich duchaus ihrer gesellschaftlichen Vorzugsstellung bewussten, bisweilen arroganten jungen Dame vermuten könnte!
In der Tat erlebt der Leser eine reifere Protagonistin als im Vorgängerband, jemanden, der unerwartete Tiefen hat, ein soziales Gewissen und darüberhinaus zu wachsendem Verantwortungsgefühl in der Lage ist – wenn man ihr denn die Gelegenheit gibt, es weiterzuentwickeln. Sie gehört zu jenen Menschen, deren lange im Dornröschenschlaf verweilenden guten Eigenschaften gerade in prekären Situationen zum Vorschein kommen, wie auch ihre vielgeplagte und derzeit viel mehr mit der Sorge, dass ihre anrüchige Vergangenheit, die sich dem Leser auch in vorliegendem Band noch nicht erhellt, ans Tageslicht kommen könnte, beschäftigte Zofe konstatiert. Die Wandlung steht Christael gut zu Gesicht, lässt sie einen Schritt heraustun aus ihrer privilegierten Wolkenkuckuckswelt und bringt sie dem Leser näher, dessen Sympathie zwangsläufig den Angehörigen der unteren Schichten gelten muss, denen nämlich, die das sinnentleerte Luxusleben der Reichen und gar nicht so Schönen überhaupt erst möglich machen, den vielen unsichtbaren dienstbaren Geistern, die keinen Feierabend kennen, die den Launen ihrer Herrschaft ausgeliefert sind und wegen der geringsten Verfehlungen, die sie womöglich nicht einmal begangen haben, willkürlich und unziemlich bestraft werden können.
Die Autorin gibt auch in diesem zweiten Abenteuer der beiden jungen Frauen, die die besten Freundinnen sein könnten, wären sie hundert Jahre später geboren, einen sprechenden Einblick in das soziale Gefüge eines englischen Herrenhauses, Mikrokosmos und Spiegelbild der Gesellschaft zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts mit all seinen sozialen Missständen. Sie lässt ihre Leser sowohl Upstairs als auch Downstairs verweilen, gibt ihnen Zeit, die Interaktionen – spannender übrigens als die Krimihandlung! - sowohl zwischen dem in eine klare Hierarchie eingefügten Dienstpersonal als auch zwischen diesen und ihrer Herrschaft zu beobachten. Dabei gibt sie ihr so gründlich wie fleißig recherchiertes Wissen in unterhaltsamer Form preis, das wohl für die Mehrheit der Leser staunenswert neu ist. Dass die Handlung an sich nicht besonders spannend ist, dass die Übeltäter und deren Motive kaum auf Überraschung stoßen, ist mutmaßlich dem Genre Cosy Crime geschuldet, das vor allem Wert legt auf „cosy“, während der Krimi-Faktor wie eine nette Zugabe daherkommt – damit es nicht gar zu gemütlich zugehen möge. Aber von Gemütlichkeit kann in C.L.Potters „Häkelkrimis“ sowieso keine Rede sein – wie könnte es auch behaglich und entspannt zugehen an den Orten, zu denen die Autorin Lady und Zofe schickt? So vieles liegt dort im Argen, geht hinter der gepflegten und sorgsam aufgebauten Fassade vor sich, das niemals das Licht des Tages sehen darf, dadurch eine angespannte, durch und durch ungute Atmosphäre schaffend, die geradezu mit Händen zu greifen ist. Nein, keine Wohlfühlorte sind die prächtigen Paläste, zu denen uns C.L.Potter mitnimmt und deren Interieur sie mit sichtlichem Vergnügen am Detail sehr gründlich beschreibt. Und nicht nur Maud und ihre Ladyschaft verlassen die ungastlichen Orte nur zu gerne – um genauso gerne im Folgeband ein weiteres hochherrschaftliches Anwesen mit dem munteren Gespann aufzusuchen und sowohl den nächsten unvermeidlichen Mordfall zu lösen als auch endlich dem Geheimnis der pfiffigen Zofe auf die Spur zu kommen....