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Veröffentlicht am 26.10.2020

Herzzerreißender Zeitzeugenbericht

Bis wir uns wiedersehen
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Catherine Bailey gewährt uns einen Einblick in die grauenhaften Machenschaften des Nationalsozialismus. Der thematisierte überbordende Massenmord an Häftlingen in den Konzentrationslagern sowie die sadistisch ...

Catherine Bailey gewährt uns einen Einblick in die grauenhaften Machenschaften des Nationalsozialismus. Der thematisierte überbordende Massenmord an Häftlingen in den Konzentrationslagern sowie die sadistisch motivierte körperliche und psychische Quälerei ebendieser sind nur zwei Oberbegriffe für einen Facettenreichtum an brutalen Handlungen, die nicht annähernd wahrnehmbar machen, was im Zweiten Weltkrieg an Missetaten begangen worden ist.

Lesend begleiten wir Fey von Hassell, die nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 aufgrund der Beteiligung ihres Vaters in Sippenhaft gerät. Nachdem man ihr die beiden Kinder entzogen und sie mehrere Wochen in einer Gefängniszelle eingepfercht hatte, beginnt ihre Odyssee durch das gesamte Reich. Gemeinsam mit Angehörigen der Familien Stauffenberg, Goerdeler und weiteren wird sie von einem Konzentrationslager ins nächste überstellt. Nie ist bekannt, wohin es geht, wie lange man dort verweilen wird, ob eine Hinrichtung droht.

Die Autorin trägt die verstörenden Erlebnisse der Sippenhäftlinge so nah an den Leser heran, dass er nicht anders kann, als körperliche Reaktionen zu zeigen. Zeitweise bestimmten schlimmes Herzklopfen und ein starkes Beklemmungsgefühl mein Lesen, so intensiv war die beängstigende Aufruhr in mir. Darüberhinaus bebt Catherine Bailey das Besser-gestellt-Sein der Sippenhäftlinge gegenüber den gewöhnlichen Häftlingen hervor. Die Bedeutung dessen entbehrt jeglicher menschlichen Vorstellungskraft.

Nicht ganz genrerein kann man „Bis wir uns wiedersehen“ zwischen Sachbuch und historischen Roman verorten, wobei hier das Historische den Roman ausmacht, und nicht das schnulzig Romantische. Trotzdem gibt es unglaublich rührende Momente im Buch, die mir die Tränen in die Augen trieben. Zusätzlich war zeitweise dermaßen viel Spannung im Spiel, das mancher Thriller hier in den Schatten gestellt wird.
Der Sachbuchcharakter spiegelt sich in der intensiven Recherche wider, die man der Autorin aufgrund der außerordentlichen Feingliedrigkeit der Quellen gern zugesteht. Technisch überaus clever empfand ich das Sprechen lassen der Zeitzeugen über ihre eigenen Zitate. Die dadurch vermittelte Glaubwürdigkeit ist unvergleichlich. Der Romancharakter entsteht für mich durch das Hineinversetzen in die Charaktere mit Hilfe der Rekonstruktion von deren Gefühlswelt.

Wenn man über diesen Teil unserer Geschichte liest, fühlt es sich falsch an, von Lesevergnügen zu sprechen. Trotzdem habe ich das Buch gern gelesen, weil es die Geschehnisse sehr plastisch aufarbeitet. Es ist eine interessante, gleichzeitig fesselnde Informationsquelle. Ein Buch, das man gelesen haben sollte.

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Veröffentlicht am 26.10.2020

Anspruchsvolle Auseinandersetzung zweier Markttheorien

Die Erfindung des Marktes
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„Die Erfindung des Marktes“ ist die erste umfangreichere philosophische Auseinandersetzung, an die ich mich herangetraut habe. Aktuell reizen mich Arbeiten, die historische Erkenntnisse und Feststellungen ...

„Die Erfindung des Marktes“ ist die erste umfangreichere philosophische Auseinandersetzung, an die ich mich herangetraut habe. Aktuell reizen mich Arbeiten, die historische Erkenntnisse und Feststellungen eher im Kontext ihrer Zeit betrachten, als solche, die eine fertige, nicht hergeleitete Schlussfolgerung auf das Hier und Heute präsentieren. Da mein wirtschaftswissenschaftliches Studium schon etwas länger zurückliegt, habe ich mich gern den beiden Protagonisten Smith und Hegel sowie ihren Theorien zugewandt.

Als Freizeitleser muss ich zugeben, dass mich die durchgehend gehobene Sprache und auch der Stil von Lisa Herzog ganz schön gefordert haben. In ihrer philosophischen Betrachtung des Marktes folgt die Autorin überaus diszipliniert strengsten wissenschaftlichen Regeln. Nach Veranschaulichung ihrer Zielsetzung und grundsätzlichen Festlegungen zu Beginn ihrer Arbeit, erklärt sie dem Leser einleitend zu jedem ihrer folgenden sechs Kapitel die weitere Vorgehensweise und legt somit den sich jeweils anschließenden gedanklichen Weg ihrer Analyse offen. Die Autorin schließt jedes Kapitel zusammenfassend und/oder schlussfolgernd ab. Das gibt ihrer Arbeit nicht nur Struktur, sondern bietet dem Leser Orientierung.

Lisa Herzog beginnt mit einer Analyse der beiden Marktverständnisse, von Adam Smith und von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Danach ordnet sie die Rollen auf dem Markt in die Betrachtungsweise sowohl Smith‘ und Hegels ein. Im zweiten Teil ihrer Arbeit widmet sich die Autorin intensiv den gesellschaftlichen Werten auf dem Markt. Dieser Teil der Auseinandersetzung war am interessantesten für mich. Dabei standen weniger ganz neue Erkenntnisse im Vordergrund meines Interesses, sondern vielmehr die verschiedenen möglichen Betrachtungsperspektiven auf bestimmte Marktsituationen. Insgesamt bin ich begeistert von ihrem für mich anspruchsvollen, gleichzeitig aufschlussreichen Werk. Sie hat es mittels geschickter logischer Herangehensweise geschafft, meiner doch eher mathematisch orientierten Denke zum Markt, weitere Denkansätze hinzu zu fügen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Mit großem Respekt gegenüber der wissenschaftlichen Leistung empfehle ich diese Arbeit gern weiter.

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Veröffentlicht am 01.10.2020

Bewegte Zeiten im Banat

Die Unschärfe der Welt
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Iris Wolff schenkt einer mir bisher unbekannten Region in Südosteuropa, dem Banat, das heute anteilig in Rumänien, Serbien und Ungarn liegt mit ihrem Roman verdiente Aufmerksamkeit. Sie berichtet von vier ...

Iris Wolff schenkt einer mir bisher unbekannten Region in Südosteuropa, dem Banat, das heute anteilig in Rumänien, Serbien und Ungarn liegt mit ihrem Roman verdiente Aufmerksamkeit. Sie berichtet von vier Generationen einer Familie aus dem Banat. Dabei thematisiert die Autorin neben allgemeinen Herausforderungen einer Familie die in vielen Ostblockstaaten herrschenden Missstände: Enteignung, Überwachung, Mangelwirtschaft und Flucht. Auch nach dem Mauerfall ist die Welt längst nicht perfekt. In der neuen Gesellschaftsordnung müssen sich die Menschen erst zurechtzufinden. Neuorientierung im Job und im Rahmen des Konsums muss gemeistert werden.

Der sprachlich fast schon überzeichnete Roman arbeitet sich durch aneinandergereihte Kurzgeschichten, die jeweils nur einen kleinen Ausschnitt aus dem/den Leben einer oder mehrerer Personen preisgeben. Es ist durchaus anspruchsvoll, sich in jedem Kapitel neu zu orientieren. Von wem lesen wir? Wo sind wir örtlich und bezüglich der Zeitachse? Nach kurzer Gewöhnungsphase konnte ich dieses Kurzgeschichtenhafte mit seinen großen Lücken gut annehmen. Es hat mich auch nicht gestört, wenn es zum Ende der Kapitel total spannend war und dann einfach mit einem Cliffhanger aufgehört hat. Ich mag es gern, wenn ich interpretieren darf. Am Ende war ein stimmiges Gesamtbild entstanden.

Am besten hat mir hier die Geschichte zwischen Samuel und S(t)ana gefallen. Es war zwischenzeitlich ein bisschen wie bei Romeo und Julia. Trotzdem konnten die beiden mich überzeugen. Zu Beginn mochte ich die Schüchternheit und Zartheit ihrer Freundschaft, später hat mir dann ihr Durchhaltevermögen gefallen. Mag sein, dass das Ganze ein wenig kitschig anmutet, ich fand ihre Liebe bewundernswert.

Da sich die Geschichte über vier Generationen erstreckt, lernt man als Leser viele Wegbegleiter und ihre Sicht der Dinge kennen. Durch dieses immer tiefere Einsteigen in den Roman, hat sich die Handlung für mich fortwährend gesteigert. Zu keinem Zeitpunkt war sie für mich langweilig oder langatmig. Ich empfinde „Die Unschärfe der Welt“ als Erinnerungsroman, in dem die wichtigen Momente in Samuels Familie und engen Bekanntenkreis niedergeschrieben sind. Nur einschneidende Ereignisse, beeindruckende Wahrnehmungen und große Gefühle (die hier eher von stiller Natur sind) werden herausgehoben. Der unspektakuläre Rest des Lebens wird ausgespart.

Das hat mir sehr gefallen. Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus.

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Veröffentlicht am 25.08.2020

Emotionen eines Genies

Der letzte Satz
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Gustav Mahler ist ein musikalischer Nerd seiner Zeit. Er geht komplett auf in seiner Arbeit, lebt sein Talent aus, ist jedoch in seiner Sozialkompetenz spürbar eingeschränkt. Das Lesen des neuen Seethalers ...

Gustav Mahler ist ein musikalischer Nerd seiner Zeit. Er geht komplett auf in seiner Arbeit, lebt sein Talent aus, ist jedoch in seiner Sozialkompetenz spürbar eingeschränkt. Das Lesen des neuen Seethalers lässt einen den kauzigen Ausnahmekünstler dennoch in sein Herz schließen.

Wir lernen den schon kranken Gustav Mahler auf seiner Überfahrt von New York nach Europa kennen. Fiebrig sitzt er an Deck bei Tee und sinnt über sein Leben. Robert Seethaler führt dabei sehr schön zwischen der Atlantiküberfahrt und Mahler’s Erinnerungen hin und her. Seine Gedanken widmet Mahler seiner Familie, allen voran seiner Frau Alma, und seinem Lebenswerk. So kehrt er sukzessive an die wichtigen Stationen seines Lebens zurück.

Seethaler lenkt das Augenmerk auf die sensible Seite des Künstlers, der nicht nur alle anderen, sondern auch oder gerade sich selbst fortwährend kritisch betrachtet. Da er seine Ausführungen mit ganz feiner, perfekt pointierter Sprache unterstützt, konnte ich beim Lesen beinahe selbst den emotionalen Schmerz des Ausnahmetalents fühlen. Trotz der eher bedrückenden Grundstimmung hat mich das Gelesene nicht runtergezogen, weil mich Seethaler‘s Sprachniveau einfach nur fasziniert hat.

Wenn ich die Lektüre Revue passieren lasse, finde ich zudem das Cover perfekt gewählt. Der zurück blickende Mann an der Reling, dieser blaß kränkliche Touch des Bildes insgesamt, verkörpert für mich die emotionalste Szene des Romans.

Insgesamt bin ich begeistert von Seethaler‘s Roman. Nicht nur das Lesevergnügen trägt zu diesem Urteil bei, sondern auch die bewusste Verknüpfung zu weiteren zeitgenössischen Berühmtheiten. Diese sind mir zwar grob mit Lebensdaten bereits bekannt gewesen, der direkte zeitliche und örtliche Zusammenhang war mir allerdings nicht präsent. Den Roman empfehle ich gern weiter. Wenn man Gustav Mahler noch gar nicht kennt, ist es vielleicht hilfreich, sich grob vorab über ihn zu informieren.

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Veröffentlicht am 24.08.2020

Wahnsinnig oder denkend

Die Wahnsinnige
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Johanna von Kastilien ist die Protagonistin dieses historischen Romans, der die belegten Fakten ihrer Herkunft, Ehe und Nachkommen geschickt in eine Form bringt, die nicht nur attraktiv zu lesen ist, sondern ...

Johanna von Kastilien ist die Protagonistin dieses historischen Romans, der die belegten Fakten ihrer Herkunft, Ehe und Nachkommen geschickt in eine Form bringt, die nicht nur attraktiv zu lesen ist, sondern auch die besondere Situation der angeblich Wahnsinnigen klar werden lässt.

Johanna war eigentlich nie als Erbin für die Krone vorgesehen, trotzdem überdurchschnittlich gut ausgebildet. Sie sprach mehrere Sprachen, spielte Clavichord, las viel. Sie nutzte ihre Intelligenz für politische und philosophische Gedankenspiele. In ihrem Glauben war Johanna gefestigt. Sie versuchte eine gute Christin zu sein. Nachdem alle in der Thronfolge vor ihr verstorben waren, als Kronprinzessin, wollte sie eine bessere, gnädigere Königin werden. Isabella „der Katholischen“ ging Johanna‘s Ausübung des Glaubens allerdings nicht weit genug. Sie hätte ihn wohl öffentlichkeitswirksam mehr nach außen tragen sollen. Zudem konnte Johanna ihre Gefühle insbesondere bei Konfrontationen nicht verbergen, was ihrem Umfeld missfiel.

Waren es diese, aus heutiger Sicht vernachlässigbaren Schwächen, die ihr den Beinamen einbrachten oder waren diese kleinen Fehler aus machtpolitischen Kalkül aufgebauscht worden? Genau mit dieser Frage setzt sich Alexa Hennig von Lange intensiv auseinander. Dabei konzentriert sie sich zunächst auf die Beziehung zwischen Königin und Kronprinzessin, die wenig von Liebe geprägt zu sein scheint. Nach dem Ableben der Mutter treten Johanna‘s Vater Ferdinand und ihr Ehemann, Philipp „der Schöne“, in den machtpolitischen Vordergrund. Auch dieses Beziehungsgeflecht leuchtet die Autorin genau aus.

Erschreckend dabei empfand ich Johanna‘s Chancenlosigkeit. Als Kronprinzessin und auch später als Königin wird sie von ihrer Familie dermaßen unterdrückt, dass es nie zur Ausübung des Amtes kommt. Die Angst vor sich verändernden Werten und eigene Machtinteressen waren offensichtlich zu groß.

Aus meiner Sicht hat Alexa Hennig von Lange einen hervorragenden Roman geschrieben. Er wirkt ordentlich recherchiert. Der Leser kann ahnen, wie tief sich die Autorin in ihre Protagonistin hineinversetzt hat. Die literarische Aufbereitung der Persönlichkeit von Johanna von Kastilien empfinde ich als überdurchschnittlich. Herausragend ist für mich die Offenlegung des mentalen Innenlebens der Hauptfigur, weil sie deren Intelligenz zu Tage fördert, die ihr gerade durch den Beinamen abgesprochen werden soll. Der geschmeidig lesbare, aber nicht triviale Schreibstil verleiht der Auseinandersetzung zusätzlich Glaubwürdigkeit.

Alexa Hennig von Lange schließt ihren mehr als gelungenen Roman mit einem recht philosophischen Nachwort ab, für mich das Tüpfelchen auf dem i.

Fazit: Ganz klare Leseempfehlung!

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