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Veröffentlicht am 21.10.2020

Don DeLillo - Die Stille

Die Stille
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Super Bowl Sonntag im Jahr 2022. Jim Kripps und Tessa Berens sitzen im Flieger aus Paris. Der Langstreckenflug geht an die Substanz, minutiös notiert Jim die ganzen Angaben, die auf dem Bildschirm über ...

Super Bowl Sonntag im Jahr 2022. Jim Kripps und Tessa Berens sitzen im Flieger aus Paris. Der Langstreckenflug geht an die Substanz, minutiös notiert Jim die ganzen Angaben, die auf dem Bildschirm über seinem Kopf erscheinen, auch wenn diese in Französisch sind und er nicht alles versteht. In New York wollen sie gemeinsam mit Freunden das Spiel des Jahres sehen. Diane Lucas und Max Stenner haben schon alles für den Fernsehabend vorbereitet, auch Martin Dekker, ein junger Physiklehrer und Dianes ehemaliger Schüler, ist schon da. Gerade als das Spiel begonnen hat, kommt es jedoch zu einem Stromausfall, der nicht nur Diane und Max‘ Wohnung, sondern ganz New York betrifft. Derweil kommt es auf dem Flughafen zu einer Notlandung, bei der ihre Gäste verletzt werden, die daher zuerst in ein Krankenhaus gebracht werden müssen.

Don DeLillo hat seinen Roman vor Ausbruch der globalen Pandemie beendet, nichtsdestotrotz finden sich durchaus einige Parallelen, vor allem in der Atmosphäre, die geprägt ist von einer gewissen Endzeitstimmung und der Tatsache, dass sich die Figuren einer unkontrollierbaren Situation ausgeliefert sehen. Auch dass es nur sehr wenig Interaktion außerhalb des kleinen Figurenzirkels gibt, spiegelt ebenfalls sehr gut die Lockdown-Situation wieder, die weltweit Millionen, wenn nicht Milliarden zur Kontaktbeschränkung auf den engsten Familien- und Freundeskreis gezwungen hat.

„Die Stille“ bricht plötzlich über die Menschen herein, wirft nicht nur alle Pläne über den Haufen, sondern stellt viele Konzepte der Figuren infrage. Versucht Jim im Flieger noch alles detailreich zu notieren, um später nochmals darauf zurückblicken zu können und sich nicht auf sein Gedächtnis verlassen zu müssen, sind seine Aufzeichnungen nach dem Crash einfach verloren. All die Mühe war umsonst und an das Ereignis selbst hat er gar keine Erinnerung. Mit einem Wimpernschlag wurde so die Gewissheit des Festhalten-Könnens zerstört.

Die Mitarbeiter im Krankenhaus haben alle Hände voll zu tun und funktionieren roboterartig. Warum Jim eine Wunde am Kopf hat, interessiert sie schon gar nicht mehr, jeder dort hat eine Geschichte zu erzählen, für die jedoch keine Zeit ist. Sie führen mechanisch die zugewiesenen Aufgaben aus und vermeiden das Philosophieren über die Gesamtlage; diese können sie ob ihrer Dimension ohnehin nicht erfassen.

In der Wohnung sieht Martin Dekker in Einsteins Theorie den ultimativen Referenzpunkt während Max noch amüsiert ist und die entstandene Leere mit Parodien der berühmt-berüchtigten Werbeclips des Super Bowl füllt. Die beiden könnten gedanklich kaum weiter auseinanderliegen, zeigen aber so die Spannbreite menschlicher Reaktionen auf eine Ausnahmesituation auf.

Endzeitszenarien haben mehrfach Eingang in DeLillos Romane gefunden, wie etwa ein Störfall in einer Chemiefabrik in „Weißes Rauschen“ oder das Leben nach der Welt, wie wir sie heute kennen, in „Zero K“. In seinem aktuellen Roman bleibt offen, was eigentlich geschehen und wie bedrohlich die Lage tatsächlich ist. Auch bietet er keine klare Deutung seines Textes an, viel Raum lässt er dem Leser selbst etwas aus dem Gelesenen zu machen. Ist es unser Verhältnis zur Technik, von der wir abhängiger sind als wir uns oft eingestehen wollen (und die wir schon lange nicht mehr verstehen – was sollen Jim all die Zahlen sagen und doch fliegt das Flugzeug)? An Martin zeigt er auch, wie die hohe Intelligenz und Bildung eher zur Verzweiflung führen, da die Gedanken in einen unkontrollierbaren Mahlstrom geraten und panisch versucht wird, das nicht Begreifbare zu erfassen. Andererseits auch das bewundernswert pragmatische Anpacke im Krankenhaus, manchmal ist es einfach die beste Lösung, das Naheliegende zu erledigen und mit Scheuklappen umherzugehen.

Don DeLillo gehört zweifelsfrei zu den besten zeitgenössischen Autoren der USA und unwillkürlich ist es ihm wieder einmal gelungen, die Stimmung der Stunde literarisch einzufangen.

Veröffentlicht am 17.10.2020

Sofie Sarenbrant - Schuld

Schuld – Emma Sköld und der tote Junge
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Ein nächtlicher Einbruch, bei dem der Täter überrascht wurde und offenbar überreagiert hat. Jetzt ist der junge Robin, der allein Zuhause war, tot. Die Polizistin Emma Sköld ist erschüttert, nicht nur, ...

Ein nächtlicher Einbruch, bei dem der Täter überrascht wurde und offenbar überreagiert hat. Jetzt ist der junge Robin, der allein Zuhause war, tot. Die Polizistin Emma Sköld ist erschüttert, nicht nur, weil das Opfer noch sein ganzes Leben vor sich hatte, sondern weil der Mord direkt nebenan geschah. Da sie und ihr Partner sich jedoch just in dieser Nacht getrennt haben, hat sie von den Vorgängen nichts mitbekommen. Als auch noch ein zweiter Mord geschieht, ist nicht nur die Polizei, sondern die ganze Nachbarschaft alarmiert. Dieses Mal hat es jene Putzfrau getroffen, die das erste Opfer aufgefunden hatte und gegenüber der Polizei sichtbar verängstigt wirkte; sie wusste offenbar mehr, als gut für sie war. Eine Spur führt schnell zu baltischen Bauarbeitern, doch irgendwie wollen die Puzzleteile kein stimmiges Bild ergeben.

2019 wurde die schwedische Journalistin und Autorin zum „Crime Writer of the Year“ gekürt, nachdem ihre Romane wiederholt zu den meistverkauften des Jahres gehörten. „Schuld“ ist in der deutschen Übersetzung Band 4 der Reihe um Emma Sköld (im schwedischen Original Band 6, zwei weitere sind dort bereits erschienen), der Thriller lässt sich jedoch auch ohne Kenntnis der Vorgänger problemlos lesen. Erschwert werden die komplexen Ermittlungen dieses Mal durch Emma und Nyléns Trennung, die die Zusammenarbeit der beiden Kommissare nachhaltig stört.

Gleich mehrere Ermittlungsrichtungen werden angelegt, die parallel verlaufen und lange Zeit nicht wirklich einen Zusammenhang erkennen lassen. Einerseits der Einbruchsmord, dessen Motiv völlig offen bleibt. Das Opfer hatte eine Vorgeschichte, wenige Monate zuvor hat er bei einem Autounfall den Ferrari des Vaters seines Schulfreundes Sebastian völlig zerlegt, beide Jungs blieben jedoch wundersamer Weise unverletzt. Die Putzfrau Svetlana hat Angst, offenbar hat sie sich mit zwielichtigen Gestalten eingelassen, doch bevor sie enthüllen kann, wer diese sind, wird auch sie zum Opfer. Womöglich handelt es sich um die ausländischen Bauarbeiter, einer davon, der junge Gervase, muss auf nächtliche Raubzüge gehen und die Beute zu seinem brutalen Vater schicken. Doch kann er wirklich auch ein perfider Mörder sein? Und dann sind da noch Tagebucheinträge eines Mädchens, das offenkundig vernachlässigt wird und heimlich leidet, aber wie passt sie nun wieder ins Bild? So ganz nebenbei wird die Protagonistin auch noch bedroht und ihr Partner erhält ebenfalls beunruhigende Nachrichten. Von Idylle im wohlhabenden Stockholmer Vorort keine Spur.

Eine geschickt konstruierte Handlung, die mit hohem Tempo erzählt wird und sich erst nach und nach enthüllt und einmal mehr das beschauliche Schweden zum Tatort macht. Der Thriller ist ein typischer Vertreter des Nordic Crime, denn neben dem eigentlichen Kriminalfall wird auch ein kritischer Blick auf die Gesellschaft geworfen, die sich in diesem Fall in einer Facebook-Gruppe sensationslustig ereifert und auch an rassistischen Vorurteilen nicht spart.

Veröffentlicht am 27.09.2020

Daniel Silva - Das Vermächtnis

Das Vermächtnis
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Prinzessin Reema besucht die Schweizer Schule unter einer falschen Identität, nicht nur soll nicht bekannt werden, dass sie Tochter des Saudischen Thronfolgers Khalid ist, sie schwebt auch in Lebensgefahr. ...

Prinzessin Reema besucht die Schweizer Schule unter einer falschen Identität, nicht nur soll nicht bekannt werden, dass sie Tochter des Saudischen Thronfolgers Khalid ist, sie schwebt auch in Lebensgefahr. Doch aller Schutz reicht nicht aus, denn die Entführer haben Verbündete hinter den Mauern der Bildungsanstalt. Kronprinz Khalid ist verzweifelt, so sehr, dass er den besten Mann für den Job anheuert: Gabriel Allon, Chef des israelischen Geheimdienstes. Über die New Yorker Museumsmitarbeiterin Sarah, die ehemals für die CIA arbeitete und mehr als eine Mission mit Gabriel bewältigte, kann er den Kontakt herstellen. Eine erste Befreiungsaktion geht unsäglich schief, doch wenn es um Kinder geht, versteht der Chef-Spion keinen Spaß, zu sehr wundet ihn seine persönliche Erfahrung. Die Tatsache Väter zu sein verbindet die Männer, die eigentlich nie zusammentreffen dürften und das ist es auch, was Gabriel eine gefährliche Mission eingehen lässt.

„Das Vermächtnis“ ist bereits der 19. Band der Serie um den israelischen Agenten und inzwischen Chef des sogenannten Dienstes, Gabriel Allon. Auch wenn Daniel Silva immer wieder global politisch brisante Konstellationen aufgreift und diese geschickt in die Handlung einbindet, sind die Parallelen zur Realität dieses Mal besonders explosiv: nicht nur findet der Mord um den Journalisten Kashoggi Eingang, auch die Ähnlichkeiten zwischen dem fiktiven Thronfolger und Mohammed bin Salman sind kaum zu leugnen. Dass es aktuell gerade zu einer Annäherung zwischen Israel und dem saudischen Königreich kommt, wird die Geschichte schon fast rechts von der Realität überholt.

Der Autor liefert einmal mehr einen spannenden Thriller nach bekanntem Muster: in hohem Tempo jagt Allon von Land zu Land, bindet mal befreundete Geheimdienste ein, mal lässt er diese bewusst im Dunkeln über seine Vorhaben. Hinter ihm her zieht sich eine Spur der Verwüstung, so ganz lassen sich Kollateralschäden nicht vermeiden. Es gibt ein Wiedersehen mit zahlreichen Figuren früherer Bände der Reihe, was das Handeln der Figuren glaubwürdig motiviert und die Entführungsgeschichte überzeugend mit politischen Konflikten verbindet.

Kommen mir manchmal bei den doch eher action-reichen Storys die Figuren etwas zu kurz, ist Silva dieses Mal vor allem der Kronprinz als hitziger und impulsiver Jungspund, der durch die Erlebnisse reift, brillant gelungen. Hier würde man sich tatsächlich wünschen, dass die Wirklichkeit der Fiktion folgen möge.

Einmal mehr genau das Buch, das ich erwartet habe. Ein Autor, der sein Handwerk versteht, Fans der Serie einerseits mit exakt dem bedient, was sie schätzen und dennoch immer wieder eine neue spannende Geschichte liefert.

Veröffentlicht am 11.09.2020

Arno Camenisch – Goldene Jahre

Goldene Jahre
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Vor 51 Jahren haben sie ihren Kiosk eröffnet und noch immer leuchtet die Reklame auf 800 Meter Höhe über dem Tal. Rosa-Maria und Margrit erzählen von ihrer bewegten Zeit, die mit der Mondladung begann ...

Vor 51 Jahren haben sie ihren Kiosk eröffnet und noch immer leuchtet die Reklame auf 800 Meter Höhe über dem Tal. Rosa-Maria und Margrit erzählen von ihrer bewegten Zeit, die mit der Mondladung begann und sie zu einer festen Größe im Dorfalltag werden ließ. Jeden Morgen schalteten sie die Reklame ein, putzen die Scheiben und holen die Zeitungen; immer derselbe Ablauf, der sich den beiden Damen eingebrannt hat. Winters wie Sommers sind sie der zentrale Anlaufpunkt, an dem alles kulminiert und sowohl die Versorgung mit Gütern wie auch mit Informationen stets gesichert ist.

„Wir sind da ein bisschen wie die Zentrale im Dorf, die Leute tragen uns die Informationen zu, da steht man schon in der Verantwortung, die Daten auch mit der nötigen Sorgfalt zu behandeln, das ist nämlich brisant, stell dir vor, wir würden herumerzählen, was der liebe Herr Pfarrer hier jeden Freitag kauft, das wäre ein Scandal für den Boulevard, aber was für ein Scandal das denn wäre, stell dir vor. Da sind wir dezent (...)“

Es ist herrlichen erfrischend, den beiden ungezwungenen Protagonistinnen bei ihren Erinnerungen zu folgen. Natürlich haben sie allerlei über die Bewohner des Örtchens zu berichten, denn dezent sind sie nun wahrlich nicht – die Fremdgeher, die Lotteriegewinner, der, der immer alles verpasste und erst der Pfarrer – genauso haben sie aber auch jede Menge Prominenz gesehen: Ornella Muti, Roger Moore, Eddy Merckx. Alles notieren sie in ihren Heften, damit nichts vergessen geht, eine ganz eigene Graubündner Chronik.

Inhaltlich irgendwo zwischen Dorfklatsch und lokaler Weltgeschichte besticht der Roman vor allem durch den lässigen Plauderton, der durchaus mal ironisch wird und so lebendig ist, dass man sich Rosa-Maria und Margrit bildlich vorstellen kann. Dass dies mit einer Nominierung auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises honoriert wird, geht für mich mehr als in Ordnung, eine frische Stimme voller beschwingter Leichtigkeit, der man gerne folgt.

Aber der Text ist nicht nur oberflächlich humorvoll, die Veränderungen des ländlichen Raums werden auch deutlich. War einst die Tankstelle der zentrale Treffpunkt, hält nun allein schon die Umgehungsstraße die Menschen fern. Die alte Zeit ist nicht mehr, nur die beiden Damen und ihr Kiosk halten tapfer die Stellung, bis irgendwann jedoch auch ihr Raumschiff endgültig schließt und die Reise zu Ende ist – wie so vieles auf den Dörfern mit den Bewohnern auszusterben droht.

Vielleicht nicht der heißeste Anwärter auf den Buchpreis Titel, für mich aber zweifelsohne ein Lesehighlight, das ich auf jeden Fall nur weiterempfehlen kann.

Veröffentlicht am 09.09.2020

Zsuzsa Bánk - Sterben im Sommer

Sterben im Sommer
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Als sie im Januar die Diagnose bekommen, dass der Krebs zurückgekehrt ist, wollen sie den Sommer noch einmal in Ungarn verbringen. Dem Land, aus dem die Eltern 1956 geflohen waren und das doch immer sommerlicher ...

Als sie im Januar die Diagnose bekommen, dass der Krebs zurückgekehrt ist, wollen sie den Sommer noch einmal in Ungarn verbringen. Dem Land, aus dem die Eltern 1956 geflohen waren und das doch immer sommerlicher Sehnsuchtsort geblieben ist. Die Erinnerungen an heiße, fröhliche, unbeschwerte Sommer kommen wieder hoch, doch der Vater schafft es nicht, zu krank ist er und wird im Drei-Länder-Eck zwischen Slowakei, Österreich und Ungarn von Krankenhaus zu Krankenhaus gebracht. Die letzten Tage in der Klinik, die Onkologie ist die letzte Station vor – ja vor was? Dem Hospiz? Aber ist das nicht schon aufgeben?

Die Autorin schildert den heißen Jahrhundertsommer 2018, der sich ihr vor allem wegen des Verlusts des Vaters eingebrannt hat. Langsam zeichnet sich über Monate ab, was unausweichlich ist und dennoch ist sie emotional nicht vorbereitet auf das, was sie erlebt. Zwischen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit und den bürokratischen Hürden der letzten Tage oszilliert der Bericht und fängt die emotionale Achterbahn der Tochter ein.

Was kann man über ein so persönliches Buch sagen? Es erschien mir sehr authentisch, gerade in der Schilderung der gleichzeitig auftretenden, widersprüchlichen Empfindungen. Zwischen großer Zuneigung, die sich aus den Kindheitstagen und vor allem den Sommern am Balaton speist, Angst vor dem, was kommt, Wut auf die Bürokratie, die Unmenschliches verlangt und so fast zynisch macht, Trauer, die schon einsetzt, als der Vater noch lebt, und der Verzweiflung, jetzt weiterleben zu müssen mit dieser Lücke, die da gerissen wurde.

„Aber das Leben geht überhaupt nicht weiter, nein, es bleibt auch nicht stehen, es steht einfach nur herum, das trifft es mehr. Es wird zu einer schwachen Kopie seiner selbst, blass und leer,“

Eine literarische Verarbeitung der Trauer, die gar nicht die großen Fragen nach dem Dasein aufreißt, sondern durch die kleinen Banalitäten des Alltags, die sich plötzlich als große Hürden auftun, überzeugt. Und am Ende kommt ein neuer Sommer, der nicht ist, wie die davor, aber eben auch ein Sommer ist.