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Veröffentlicht am 13.05.2021

Eine berührende Geschichte

So wie du mich kennst
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„Der Mensch klammerte sich an alles. Erst an die Person, dann an die mit der Person verbundenen Dinge, dann an die Erinnerungen, und dann fiel man oder entstieg wie ein Phoenix der Asche. Am Kummer zerbrechen ...

„Der Mensch klammerte sich an alles. Erst an die Person, dann an die mit der Person verbundenen Dinge, dann an die Erinnerungen, und dann fiel man oder entstieg wie ein Phoenix der Asche. Am Kummer zerbrechen oder vom Herzschmerz auferstanden - hatte man wirklich die Wahl?“ (S. 153)

Als ihre Schwester Marie bei einem Unfall stirbt, bricht für Karla eine Welt zusammen. Sie fühlt sich nicht mehr ganz, als wäre ein Teil von ihr mit ihrer Schwester gestorben. Nun ist sie alleine, weiß nicht mehr, wie sie in ihrem Leben weitermachen soll, zumal sie sich kurz vor Maries Tod von ihrem langjährigen Freund getrennt hatte. Aber irgendwie muss es ja weitergehen und so reist sie nach New York, um sich um die Wohnung ihrer Schwester aufzulösen. Dabei lernt sie Menschen kennen, denen Marie nahe stand und von denen sie bislang nichts wusste, entdeckt Bilder auf ihrem Laptop, die sie verstören – und beginnt sich zu fragen, wer ihre Schwester eigentlich wirklich war – und wer sie dadurch ist.

In „So wie du mich kennst“ erzählt Anika Landsteiner die Geschichte zweier Schwestern, deren Leben nur zusammen funktionierte, sie sich einander besser kannten als sie selbst – bis sie traumatisch auseinandergerissen wurden. Marie und Karla sind in einem kleinen Dorf in Unterfranken aufgewachsen und haben von Kindheit an einen starken familiären Zusammenhalt erfahren. Marie ist erfolgreiche Fotografin und nach einer schnellen Hochzeit mit ihrem Mann nach Boston gezogen, Karla hingegen arbeitet als Lokaljournalistin in ihrem Heimatdorf. Doch Jahre später findet sich Karla alleine in einer kleinen Wohnung in New York wieder und zweifelt an ihrer Schwester, an ihrer Offenheit und muss sich eingestehen, dass sie schwerwiegende Geheimnisse vor ihr gehabt haben muss.

Aus der Sicht von Karla und Marie nimmt die Geschichte immer mehr Gestalt an, werden nach und nach vergangene Ereignisse preisgegeben, prägende Momente ihrer beider Leben beschrieben, die die zutage getretenen Geheimnisse nachvollziehbarer machen, verständlicher.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Ein Stück Geschichte

Giovannis Zimmer
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"Ich begriff, weshalb Giovanni mich gewollt und in seine letzte Zuflucht mitgenommen hatte. Ich sollte dieses Zimmer zerstören und Giovanni ein neues, besseres Leben schenken. Dieses Leben konnte nur mein ...

"Ich begriff, weshalb Giovanni mich gewollt und in seine letzte Zuflucht mitgenommen hatte. Ich sollte dieses Zimmer zerstören und Giovanni ein neues, besseres Leben schenken. Dieses Leben konnte nur mein eigenes sein, das, um Giovannis zu verwandeln, erst ein Teil von Giovannis Zimmer werden musste." (S. 101)

Paris, 1950er Jahre. Aus seinem Elternhaus in den Staaten geflohen, findet der junge David in Paris einen Zufluchtsort. Als er eines Abend mit einem Geschäftspartner in eine Bar einkehrt, lernt er den Barkeeper Giovanni kennen, einen frevelhaften, hochmütigen Italiener, der etwas in ihm weckt, das er bislang nicht aktiv wahrgenommen hatte. Sie kommen sich näher, werden intim und beginnen eine Affäre. Gemeinsamen leben sie in Giovannis Zimmer, einer kleinen Kammer außerhalb der Pariser Altstadt, wo sie keine Angst haben müssen, ihr Verlangen zu rechtfertigen. Doch David kann mit diesen intensiven Gefühlen nicht umgehen, schämt sich einerseits, verlangt aber auch nach Giovannis Körper, seiner Liebe. Als plötzlich Davids Verlobte aus Spanien zurückkehrt, ist er völlig überfordert, während Giovanni, von seinem Geliebten verleugnet, aus seinem Leben abtritt.

Nachdem ich "Im Wasser sind wir schwerelos" von Tomasz Jedrowski gelesen hatte, war es für mich fast schon selbstverständlich, "Giovannis Zimmer" (OT: Giovanni's Room, Neuübersetzung von Miriam Mandelkow) von James Baldwin lesen zu müssen. Bereits 1956 im Original erschienen (in Deutschland erstmals 1963), gilt es als eins der prägendsten Bücher der LGBTQ+-Community, und ist auch auf anderen Ebenen unglaublich wichtig. Nach seinem Durchbruch mit "Go Tell it on the Mountain" ging Baldwin nach Paris, und schrieb, entgegen der Vorgaben seines Verlags in den USA, wie sein nächstes Werk beschaffen sein sollte, bewusst ein Buch mit weißen Protagonisten, um sich von der Stigmatisierung seiner Herkunft loszumachen; die Beschaffenheit ihrer Liebe ist somit nur nebensächlich die Intention des Romans. Vielmehr wollte er ausdrücken, was passiert, wenn man Angst hat zu lieben.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Fordernd und berauschend gut

DAVE - Österreichischer Buchpreis 2021
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„Ich glaub, ein paar Hirnzellen weniger wurden mir guttun, ich habe mit der Intelligenz keine so guten Erfahrungen gemacht, bisher.“ (S. 15)

Aufstehen, programmieren, kurz schlafen – und wieder von vorne; ...

„Ich glaub, ein paar Hirnzellen weniger wurden mir guttun, ich habe mit der Intelligenz keine so guten Erfahrungen gemacht, bisher.“ (S. 15)

Aufstehen, programmieren, kurz schlafen – und wieder von vorne; im Leben von Syz gibt es – abgesehen von gelegentlichen Arcade-Treffen mit seinen drei Freunden – nichts Anderes, was ihn am Laufen hält. Als Programmierer in Ebene 3 des großen Wohnkomplexes, dessen Ziel es ist, eine künstliche Intelligenz mit menschlichem Bewusstsein zu erschaffen, implementiert er Codes, erschafft Algorithmen und beseitigt Bugs. So weit, so gut, doch DAVE, eben diese KI, wird immer komplexer, verbraucht immer mehr Datenvolumen und ein Kollaps des Systems scheint unausweichlich. Noch dazu trifft Syz im Labor auf eine junge Ärztin, die sich in seinen Gedanken festsetzen soll, und ihn des Öfteren vom Arbeiten ablenkt. Die Lage spitzt sich zu und Syz droht in den Strudel des Machtgefüges zu geraten: Eines nachts findet er sich im Kern des Labors wieder, in der Machtzentrale, und wird Teil eines immensen Plans, der alles verändern soll – und ihn der Geschichte des Labors und dem Gedankenspiel um die ethische Korrektheit und die Interessen hinter DAVE näherbringt.

In ihrem zweiten Roman „DAVE“ verspinnt Raphaela Edelbauer das komplexe, gegenwärtige Phänomen der KI und die Diskussionen um ihren Nutzen, die Ziele und ethischen Hintergründe mit einer verzwickten, abenteuerlich anmutenden Heldensaga. Der junge Programmierer Syz wurde dafür ausgewählt, die entscheidende Wendung in der Erschaffung einer weltverändernden KI herbeizuführen, doch zu welchem Preis, das wird erst allmählich klar. All die Wendungen, Abzweigungen, die seine Geschichte nimmt, scheinen zunächst unvorhersehbar, im Nachhinein gesehen teils nachvollziehbar, aber oftmals behält die Überraschung die Oberhand. Streckenweise verlor ich oftmals den Faden, wenn die Handlung zu abstrakt wurde und ich keine Anhaltspunkte mehr festmachen konnte, und doch zog mich der Verlauf in seinen Bann, wollte ich unbedingt wissen, was nun mit Syz passieren würde, welches Outcome DAVE haben würde.

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Veröffentlicht am 24.11.2020

Literarischer Leckerbissen

Der Koch
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Palak Gosht nach Punjabi-Art gegart, Aloo Gobi Adhraki mit leichter Ingwernote – für Maravan, einen tamilischen Asylbeweber und leidenschaftlichen Koch, gibt es nichts Schöneres als die indische Küche. ...

Palak Gosht nach Punjabi-Art gegart, Aloo Gobi Adhraki mit leichter Ingwernote – für Maravan, einen tamilischen Asylbeweber und leidenschaftlichen Koch, gibt es nichts Schöneres als die indische Küche. Doch in der Realität arbeitet er als Hilfskraft im Zürcher Sternelokal Chez Huwyler. Als er seiner Kollegin Andrea bei einem Rendezvous ein aphrodisisches Menü kocht, ermutigt sie ihn dazu, ein gemeinsames Catering für Liebesmenüs zu eröffnen. Zu Beginn kochen durch Vermittlung einer Sexualtherapeutin nur für Paare, die wieder das Feuer in der Beziehung zu entflammen versuchen, aber der Erfolg von „Love Food“ spricht sich bald herum: Wirtschaftsmogule, Politiker, Waffenhändler, alle wollen sich der kulinarischen – und letztlich auch physischen – Liebe hingeben. Schnell wird es Maravan zu viel, das Catering zu anrüchig, doch er braucht das Geld, um seiner Familie in Sri Lanka zu helfen.

Wer denkt, in dieser Geschichte ginge es lediglich ums Kochen, das Verführen, den feinen Gaumen, der täuscht: Martin Suter hat mit seinem unvergleichlichen schweizerischen Charme ein modernes Märchen komponiert, das unter dem Deckmantel einer seichten Liebesgeschichte intensive Themen behandelt. Neben dem damals schon länger andauernden Bürgerkrieg in Sri Lanka, der Maravans Familie direkt betrifft, beeinflussen die zeitaktuellen Geschehnisse im Jahr 2008 Handlungsverlauf und -intentionen, seien es die Wahl von Präsident Obama oder der Börsencrash der Lehman Brothers. Sprachlich brilliant und mit erzählerischer Finesse beschreibt er, wie Maravan und Andrea ihren Catering-Service etablieren, mit welchen Problemen er zu kämpfen hat und nicht zuletzt, welche grandiosen Gerichte er für „Love Food“ zaubert. Alleine bei der Vorstellung wurde mein innerer Pawlow’scher Hund wach und verlangte sehnsüchtig nach indischem Essen. Die Charaktere bilden ein bunt-diverses Potpourri und fügen sich optimal in die komplexe Handlung ein. Teils zog sich diese ein wenig in die Länge, aber letztlich hat mir die Geschichte rund um Maravan und seine Kochkünste sehr gefallen.

Vielen Dank an den @diogenesverlag für das #Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 24.11.2020

Berührend und wichtig!

Herzfaden
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Wohin gehen, wenn es keinen Weg gibt? Welche Richtung schlägt man ein ohne Ziel? (S. 103)

Jeder sollte einmal reisen in das schöne Lummerland… Allerdings hatte sich das ein kleines Mädchen so nicht vorgestellt: ...

Wohin gehen, wenn es keinen Weg gibt? Welche Richtung schlägt man ein ohne Ziel? (S. 103)

Jeder sollte einmal reisen in das schöne Lummerland… Allerdings hatte sich das ein kleines Mädchen so nicht vorgestellt: Durch Zufall gerät sie nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste auf einen geheimnisvollen Dachboden, der von den hölzernen Darstellern, den Marionetten, bewohnt wird. Doch sie sind nicht alleine, denn Hatü Oehmichen, die sie alle gemeinsam mit ihrem Vater geschnitzt hat, ist bei ihnen und erzählt die Geschichte ihrer Familie und der Entstehung des transportablen Theaters. Mitten im Zweiten Weltkrieg lernte Walter, ihr Vater und Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, in der Kriegsgefangenschaft einen Puppenschnitzer kennen und baute gemeinsam mit ihm ein Marionettentheater für die eigene Familie – bis es in der Bombennacht 1944 zerstört wird. Nach dem Krieg bauen sie es gemeinsam wieder auf, lassen die Puppenfamilie wachsen und gehören schon bald zum Kulturgut, als die Augsburger Puppenkiste die erste TV-Serie im westdeutschen Fernsehen wird.

Einfühlsam und liebevoll einerseits, erschütternd und mit intensiven Bildern auf der anderen Seite erzählt Thomas Hettche von der Entstehung des wohl bekanntesten deutschsprachigen Marionettentheaters, dem Aufwachsen und den zeitgeschichtlichen Ereignissen inmitten des Zweiten Weltkriegs. Schon früh wurde Hannelore von ihren Eltern Empathie und Wärme gelehrt, und so setzte ihre Familie inmitten all dem Elend und der Armut des Krieges alles daran, den Menschen Aufmunterung und Ablenkung zu verschaffen.
Von der Entstehung der Puppenkiste, den damals herrschenden Umständen und der zugrunde liegenden Intention der Familie Oehmichen zu erfahren, hat mich bewegt und begeistert. Der Schreibstil ist rhythmisch, angenehm zu verfolgen und der Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart und die sich so aufbauende Spannung erzeugen eine eingehende Grundspannung. Die liebevollen Zeichnungen von Matthias Beckmann haben die Lektüre ungemein bereichert und aufgelockert. Insgesamt hat mir der Roman besonders seiner geschichtshistorischen Tragweite und künstlerischen Elemente, aber auch der sprachlichen Gestaltung wegen unglaublich gut gefallen – nicht umsonst war „Herzfaden“ für den Buchpreis 2020 nominiert.

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