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Veröffentlicht am 12.01.2021

Du hättest überleben können

Und du bist nicht zurückgekommen
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„Du sollst wissen, dass unsere Familie es nicht überlebt hat. Sie ist zerbrochen. Du hattest Träume, die für uns alle zu groß waren, wir sind ihnen nicht gewachsen gewesen.“

Inhalt

Marceline und ihr ...

„Du sollst wissen, dass unsere Familie es nicht überlebt hat. Sie ist zerbrochen. Du hattest Träume, die für uns alle zu groß waren, wir sind ihnen nicht gewachsen gewesen.“

Inhalt

Marceline und ihr Vater erleben die Schrecken des Holocaust aus nächster Nähe, sie wird in das Vernichtungslager Birkenau deportiert, ihr Vater kommt nach Auschwitz, nur wenige Kilometer voneinander entfernt, fristen sie, behandelt wie Tiere auf dem Weg zum Schlachthof, ihr Dasein. Jeden Tag sterben tausende Menschen in den Gaskammern, durch Heldenmut oder einfach in Reihen aufgestellt vor ihren selbstausgehobenen Gräbern und einen fast gnädig anmutenden Rückenschuss. Alle die heute nicht sterben, könnten morgen tot sein oder übermorgen – das Überleben scheint zunächst das einzige Ziel aber die Wahrscheinlichkeit auf ein gutes Ende sinkt mit jedem Tag in Gefangenschaft.

Marceline schafft es dennoch, sie kehrt irgendwann zurück nach Hause zu ihrer Mutter und den Geschwistern, dies hat ihr Vater ihr damals kurz vor der Trennung prophezeit, weil sie jung ist, wird sie es schaffen. Doch ihr Lebensweg und der der anderen Hinterbliebenen wird nie mehr so sein, wie erhofft, denn Marceline glaubt, es wäre besser gewesen, ihr Vater wäre an ihrer statt nach Hause gekommen. Im hohen Alter von 86 Jahren schreibt sie ihm diesen Brief, einen Abriss über ihre Gedankenwelt und markante Lebenspunkte, die er nie mit ihr teilen konnte und die sie dennoch erzählen möchte, damit er weiß, wie sehr sie ihn all die Jahre vermisst hat.

Meinung

Die Thematik der Judenverfolgung ist für mich immer eine ganz Besondere, nicht nur weil solche Erzählungen auch Jahrzehnte nach ihrem Geschehen tief beeindrucken können, sondern auch, weil diese Schrecken nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Immer wieder zieht es mich auf dieses literarische Feld, egal ob es sich dabei um einen autobiografischen Text oder eine fiktive, realitätsorientierte Geschichte handelt.

Gerade wenn eine Überlebende erzählt, beschleicht mich beim Lesen des Textes normalerweise eine große Betroffenheit. In diesem Brieftext ist das meines Erachtens nicht so gut gelungen, weil Marceline gerade die Zeit im Konzentrationslager weitestgehend ausblendet und sich stattdessen mit der eigenen Schuld auseinandersetzt. Sie versucht sich zu erklären, ihren Lebensweg irgendwie zu rechtfertigen und das Auseinanderbrechen der Familie zu schildern, die nichts nötiger gebraucht hätte, als eine starke Vaterfigur und nicht eine hilflose Jugendliche, die zwar überlebt hat, aber nie mehr so sein konnte, wie vor ihrer Internierung.

Der Schreibstil des Buches ist sehr gut, die einzelnen Sätze sind kurz, prägnant und von immenser Kraft, aber alles bleibt fragmentarisch, weil sich hier Vergangenheit und Gegenwart auf so engem Raum begegnen, dass der Leser immer nur kurz das persönliche Leid aufblitzen sieht. Diese Erzählung hätte gerne den doppelten oder dreifachen Umfang haben können und gerade die Zeit in Birkenau und die Verwandlung eines Mädchens angesichts der traumatischen Erlebnisse hätte einen größeren Stellenwert bekommen können.

Doch Marceline erzählt lieber Episoden aus ihrem Erwachsenenalter, als sie einen 30 Jahre älteren Mann geheiratet hat, der vielleicht mit ihrem Vater harmoniert hätte und der genau diese Funktion in ihrer Beziehung einnahm – ein verlässlicher, älterer Partner, der den verlorenen Menschen ein wenig ersetzen sollte. Emotional ist mir dieser Text leider nicht nahegekommen, ein sehr seltenes Ereignis bei dieser Art der Lektüre, die mich im Normalfall sehr mitnimmt und tief bewegt. Allerdings entscheidet jeder selbst, gerade bei einer Biografie, was er zum Ausdruck bringen möchte, deshalb möchte ich über den Inhalt und die für mich fehlenden Puzzleteile auch nicht urteilen, denn rein literarisch ist es ein gutes, lesenswertes Zeitdokument.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für diese kurze Liebeserklärung an den Vater, der eine so große Lücke im Leben seiner Tochter und der Familie hinterlassen hat, dass dieser Umstand in Anbetracht der menschenverachtenden Verhältnisse in den Lagern so schwer wiegt, wie nichts anderes. Marceline schreibt erstaunlich neutral und immer in Erinnerungen schwelgend, so dass die Realität zu einer Hintergrundmelodie verklingt, während das Vermissen des geliebten Menschen ganz im Zentrum des Textes steht. Und der Rückblick auf das eigene Leben steht genau unter diesem Stern – Marceline hat gelebt, weil ihr Vater es so wollte, nicht weil sie es tatsächlich konnte.

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Veröffentlicht am 12.01.2021

Zwischen Vergessen, Erinnern und Verzeihen

Idaho
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„Wenn man jemanden liebt, der gestorben ist, und sein Tod nicht geschehen ist, weil man sich nicht mehr daran erinnert, bleibt nur noch der Schmerz von etwas Unerwidertem übrig.“

Inhalt

Ann ist die zweite ...

„Wenn man jemanden liebt, der gestorben ist, und sein Tod nicht geschehen ist, weil man sich nicht mehr daran erinnert, bleibt nur noch der Schmerz von etwas Unerwidertem übrig.“

Inhalt

Ann ist die zweite Frau von Wade Mitchell, dessen erste Beziehung durch eine Tragödie zerbrach, die seine erste Frau Jenny verursacht hat. Eines warmen Tages im August 1995 ist das Ehepaar Mitchell mit den beiden Töchtern im Wald, um Holz zu schlagen, doch der Nachmittag ändert das Leben aller Familienmitglieder, denn Jenny erschlägt ihre jüngste Tochter mit dem Beil und die ältere verschwindet spurlos im Wald und bleibt unauffindbar. Wade steht fortan allein da, während Jenny ihre lebenslange Haftstrafe im Gefängnis antritt. Irgendwann lernt er die junge Lehrerin Ann kennen, bei der er Klavierunterricht nimmt und sie vermag es als einzige, sein gebrochenes Herz zu erweichen, auch wenn er die Ereignisse jenes Sommers nicht rekapitulieren möchte. Und so versucht Ann selbst Antworten auf ihre Fragen zu finden, insbesondere weil Wade mit Anfang 50 an schwerer Demenz erkrankt und bald nicht mehr weiß, dass er überhaupt Vater zweier Töchter war …

Meinung

Der Debütroman der aus Idaho stammenden Autorin steht bereits seit seinem Erscheinen 2018 in meinem Bücherregal und nun habe ich es endlich geschafft, mir die bewegende Geschichte der Familie Mitchell im Rahmen einer Challenge zu erlesen.

Zunächst scheint es so, als würde Emily Ruskovich ganz tief in die Kiste der Tragödien greifen, denn hier sind es gleich mehrere, so dass man sich fragt, ob eine einzelne Familie wirklich so viel Unglück und Leid anziehen kann und das nicht nur als temporäre Erscheinung, sondern für den Rest ihres Lebens. Seltsamerweise passt es dennoch, denn eigentlich bleibt hier Vieles ungesagt und irgendwie im Dunkeln. Man erfährt nicht, warum die Mutter zur Mörderin wurde, man muss die Erkrankung des Mannes hinnehmen, weil es erbliche Veranlagung ist und die Töchter existieren nur in der Gedankenwelt der zweiten Frau.

Trotzdem stören die zahlreichen Baustellen nicht, denn die Hauptprotagonistin des Buches macht deutlich, wie das menschliche Vergessen, mit den bitteren Erinnerungen, der unbegreiflichen Schuld und dem gnadenvollen Verzeihen funktioniert. Sie hinterfragt, stellt aber keine Bedingungen, sie akzeptiert ihr Schicksal und das ihres Mannes, sie bricht aber niemals die Brücken ab, sie sucht weiter nach der verschwundenen Tochter und kümmert sich um die Wiedereingliederung der straffälligen Ehefrau, als diese hochbetagt aus dem Gefängnis entlassen wird. Eigentlich ist Ann hier der Engel mit den zarten Flügeln, unschuldig aber voller Ängste, entschlossen aber machtlos gegen die Realität, tief verwurzelt und doch bereit zum Aufbruch. Der Leser wird hier in erster Linie mit ihren Sichtweisen vertraut gemacht und kann nur erahnen, wie sich die anderen Rädchen gedreht haben.

Die Lektüre ist so voller Tragik und Emotionalität, dass sie mir gerade zu Beginn fast vollkommen erschien, absolut auf meiner Wellenlänge und fesselnd bis ins kleinste Detail. Nach dem ersten Drittel war ich mir fast sicher ein absolutes Highlight gefunden zu haben, aber dann kippt diese Perfektion, weil deutlich wird, dass die Hintergründe hier nicht aufgedeckt werden und weil sich der gesamte Verlauf fast auf ein ganzes Menschenleben konzentriert, denn ausgehend vom Jahre 1995, erlebt der Leser auch noch das Jahr 2024 mit den verbliebenen handelnden Personen. Das größte Manko ist aber das sprunghafte Wechseln zwischen den Jahren, den Orten und Menschen – ein wildes, undurchschaubares Durcheinander, was zunehmend den Charakter der Erzählung bestimmt, die sich dadurch verzettelt und viel von ihrer Aussagekraft einbüßt.

Fazit

Dieses Buch schafft es nach anfänglicher Begeisterung nicht, meine Erwartungen zu erfüllen, deshalb werden es nur 4 Sterne für diese Familientragödie, die ich voller Interesse verfolgt habe.

Es gibt so vieles, was ich mir gewünscht hätte: eine klare Erzählstruktur, mehr Kontinuität, eine deutlich formulierte Aussage, mehr Wissen über die tatsächliche Welt der beiden Kinder, ein grundlegendes Verständnis für die mordende Mutter. Und es gibt gleichermaßen sehr viel, was die Geschichte hinterlässt: ein Gefühl für jedwede Veränderung auf diversen Lebenswegen, den Glauben an das Gute im Menschen, die Möglichkeit wie man mit Schuld umgehen kann und warum man trotz herber Rückschläge selbst im Dunkelsten noch Hoffnung schöpfen kann.

Ich habe diesen Roman sehr gern gelesen, er ist angenehm anders und rüttelt auf, selbst wenn mir nicht jeder Fingerzeig der Autorin gefällt, hat mich ihr vielschichtiges, vernichtendes, unerschrockenes Weltbild überzeugt. Man sollte am besten ohne konkrete Erwartungshaltung in die Lektüre starten, sie spricht für sich selbst.

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Veröffentlicht am 21.12.2020

Der nicht kontrollierbare Erinnerungshund

Und ich war da
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„Wenn es nach der Wahrscheinlichkeit gegangen wäre, hätte ich längst tot sein müssen, aber manche Rechnungen sind zwar richtig durchgeführt, also in einem mathematischen Sinne korrekt, das Ergebnis ist ...

„Wenn es nach der Wahrscheinlichkeit gegangen wäre, hätte ich längst tot sein müssen, aber manche Rechnungen sind zwar richtig durchgeführt, also in einem mathematischen Sinne korrekt, das Ergebnis ist dennoch bedeutungslos.“

Inhalt

Der junge August Unterseher, ist ein einfacher Mensch, der sich in seiner Zeit sehr unwohl fühlt, nicht nur weil Gleichaltrige immer politisch aktiver werden und sich direkt positionieren, sondern auch weil sein Elternhaus mit einem zu Gewaltausbrüchen neigendem Vater, der gerne Prügel verteilt und einem Bruder, der bei der Hitlerjugend Karriere macht, ihm keinerlei Rückhalt schenkt. August will zunächst nur seinen Frieden, merkt aber verstärkt, dass ihm das nicht gelingen wird, weil er für nichts und niemanden Partei ergreift.

Seine Unentschlossenheit bringt ihm in erster Linie Häme oder Unglück – während ihn die einen verachten, weil er nicht voller Begeisterung für den Führer und dessen Maxime ist, bemitleiden ihn die anderen, weil er es nicht fertig bringt, sich gegen dieses menschenverachtende System zu stellen und aktiv an der Gegenbewegung teilzunehmen. August verrät seine Freunde, die er immer in letzter Minute sitzenlässt, bevor die Falle zuschnappt und er zieht notgedrungen in einen Krieg, dessen Unheil ihm bewusst ist, der ihn aber irgendwie durch die kommenden Jahre trägt. Das einzige, was August rückblickend feststellen kann, ist die Tatsache, dass er zwar da gewesen ist, sich aber niemals anwesend fühlte. Irgendwie hat er gehofft, dass seine zahlreichen Begegnungen mit dem Tod, ihn eines Tages selbst überwältigen würden, dass er nun der nächste sein würde, der jung stirbt, doch als dies nicht geschieht, erkennt er, dass seine Rechnung mit Abwarten und Aussitzen nicht aufgehen wird …

Meinung

Dies ist die einfache, gut nachvollziehbare und in ihrer Sanftmut und Ehrlichkeit bedrückende Geschichte über einen klassischen Mitläufer, der weder Entscheidungen für oder gegen etwas treffen konnte und stets mit körperlicher Anwesenheit glänzte, aber niemals mit seinen Taten. Und er erzählt seine Geschichte selbst, die dadurch sehr persönlich wirkt, auch wenn sie in einer distanziert-sachlichen Sprache verfasst wurde. Der Autor Martin Beyer, Jahrgang 1976 entwirft hier das Porträt eines einfachen Menschen, der durchaus in der Lage ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, dem es aber an Rückgrat und Mut fehlt.

All seine Handlungen entbehren jeglicher Motivation. Er tötet andere ohne Mitleid, es ist sein Auftrag zu schießen, also führt er ihn aus. Er hilft seinen Freunden aus der Patsche, verliert sie aber auch schnell aus den Augen und bedauert ihr unglückliches Schicksal ohne innere Beteiligung. Sogar als er selbst angeschossen wird, schließt er schnell seinen Frieden mit der Situation, ist sich sicher, dass alles was passiert, seine Richtigkeit hat und das es nicht lohnt, sich für das Leben oder den Tod zu entscheiden.

Sprachlich wirkt der Text durchgängig neutral, Emotionen haben vordergründig wenig Platz in diesem fiktiven Roman, der dennoch literarisch ansprechend umgesetzt wurde. Als Leser kann man sich kaum mit den handelnden Figuren identifizieren, sie scheinen aus einer weit zurückliegenden Zeit zu stammen. Diese mangelnde Identifikationsmöglichkeit wirkt aber ausgesprochen passend, in Anbetracht des Charakters des Protagonisten. Jemand, der selbst keine innere Motivation verspürt, kann andere auch nicht für sich begeistern, weder seine Zeitgenossen noch den geneigten Leser aus der Gegenwart. Deshalb empfand ich die Umsetzung gelungen, sie ergibt ein schlüssiges, glaubwürdiges Gesamtpaket.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für gute Unterhaltungsliteratur mit Ansprüchen, die erst auf den zweiten Blick wirken. Der Roman animiert zum Nachdenken, er stellt viele Weichen und zeigt mögliche Wege auf. Ebenso ernüchternd lässt er einen Menschen dastehen, der zum Täter wurde, zum Opfer gleichermaßen und nichts gefunden hat, was für ihn Bestand haben könnte. Gerade diese psychologische Komponente des Romans hat mir besonders gut gefallen, sie lässt verschiedene Spielräume für Interpretationen. Sie stellt auch die alles entscheidende Frage in den Raum, ob es genügt anwesend und da zu sein, oder ob Schuld erst entsteht, wenn man auch innerlich beteiligt ist. Je länger ich über diesen Sachverhalt nachdenke, desto mehr Wirkung entfaltet der Text. Dieses Buch ist eine ausgezeichnete Lektüre für Diskussionsrunden, Lesekreise und weiterführende Literatur über die Thematik des Mitläufertums. Sie könnte der Anfang einer ganzen Reihe von Überlegungen sein und das schafft längst nicht jedes Buch.

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Veröffentlicht am 08.11.2020

Wir scheinen am meisten, was wir am wenigsten sind

Ada
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„Merkt ihr nicht, dass man neben euch erstickt?“ Mit diesem Satz war ich aufgesprungen. Alles in mir brannte, es war dasselbe Feuer der Vernichtung wie in ihren Augen. Wir trugen die Fackel weiter und ...

„Merkt ihr nicht, dass man neben euch erstickt?“ Mit diesem Satz war ich aufgesprungen. Alles in mir brannte, es war dasselbe Feuer der Vernichtung wie in ihren Augen. Wir trugen die Fackel weiter und merkten es nicht.“

Inhalt

Dies ist die Geschichte einer jungen Frau namens Ada, geboren 1945 in Deutschland, emigriert nach Brasilien und noch in Kindheitsjahren wieder zurückgekehrt in die Heimat. Es ist die Geschichte eines Heranwachsens, in einer Zeit, wo der Krieg vorüber ist, die Menschen aber seltsam still geworden sind und für Ada bleibt ihre Vergangenheit und vor allem die ihrer Mutter lange Zeit ein Rätsel.

Es ist eine lebenslange Suche nach Identität und Werten, ein Leben im Aufbruch, weg von den Grundsätzen der Elterngeneration, hin zu einem neuen Lebensgefühl. Und doch bremst gerade das Fehlen einer greifbaren, nachvollziehbaren Vergangenheit, das Aufbruchgefühl in eine bessere Zukunft ganz wesentlich aus. Denn wohin sollen wir gehen, wenn wir nicht wissen, woher wir kommen? Das Rätsel um Adas Herkunft findet sie über die Jahre selbst heraus, doch verstanden fühlt sie sich nicht, obwohl ihre Eltern ein klares Familienmodell etabliert haben. Zunächst regiert das Schweigen und eine Elternliebe, die sich aufs nötigste beschränkt, in ihrer Jugend bricht sie aus, muss aber mit Erschrecken feststellen, das die „neue Zeit“ nicht die Verletzungen heilt, wie sie annahm und schließlich begibt sie sich in ihren mittleren Lebensjahren in eine Therapie, um aufzuarbeiten, was ihr bisher nicht recht gelungen ist. Zurück bleibt eine Frau, die die Last ihrer Generation schwer auf ihren Schultern trägt, obwohl sie eigentlich keine dramatischen Lebensbedingungen verkraften musste – was sie prägte war eine Distanz zwischen dem Leben selbst und der Hoffnung darauf.

Meinung

Dies war mein erstes Buch aus der Feder des deutschen Autors Christian Berkel, der nicht nur in der Filmbranche große Erfolge feiert sondern auch schon mit seinem Erstlingsroman „Der Apfelbaum“ für Aufsehen sorgte. Sein Debüt steht bei mir leider noch ungelesen im Regal, doch das werde ich demnächst ändern, denn obwohl ich diese Fortsetzungsgeschichte hier zuerst gelesen habe, hat mich der Erzählstil und die Art und Weise, wie es der Autor vermag seine Protagonisten lebendig werden zu lassen absolut überzeugt. Die Story ist ein gelungener Mix aus persönlicher, berührender Lebensgeschichte in Anlehnung an die historischen Rahmenbedingungen nach dem Krieg, an die Zeit des Wirtschaftswunders, des Mauerbaus und der 68er-Bewegung. Beides fließt gleichermaßen in den Text ein und erschafft ein umfassendes, wenn auch nicht ganz rundes Leseerlebnis mit zahlreichen Facetten und Einblicken in die Zeit meiner Elterngeneration.

Besonders einprägsam und animierend empfand ich die intensive und teilweise schockierende Ehrlichkeit, mit der die Ich-Erzählerin aufwartet. Sie scheint so gar nicht in das Weltbild ihrer Eltern zu passen, obwohl sie es doch in jungen Jahren noch wünscht, akzeptiert und geliebt zu werden. Ihre emotionale Abstumpfung gegenüber dem Elternhaus, ihr zwanghaftes Suchen nach anderen Wahrheiten hat mich definitiv bewegt, selbst wenn ich nicht immer nachvollziehen konnte, gegen was sie eigentlich rebelliert. Seltsamerweise hat sie im Erwachsenenalter anscheinend die richtige Mischung zwischen Nähe und Distanz gefunden, sie hat sich weitestgehend von ihren Eltern getrennt, doch hält selten aber manchmal noch Kontakt. Gerade der Mittelteil des Buches, in dem sie eine Jugendliche ist, hält viele Sachverhalte bereit, über die es sich nachzudenken lohnt, während mir zum Ende hin etwas gefehlt hat, irgendetwas, was Ada vielleicht an die nächste Generation hätte weitergeben können, doch sie tut es nicht, sie bleibt eine Gefangene ihres eigenen Weltbilds, hadert viel zu lange mit ihrer Vergangenheit und sucht überall auf der Welt nach Wahrheiten, die sie nicht findet oder die sich ganz anders entwickeln als sie dachte.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen flüssigen, intensiven Roman der oft wie eine Biografie wirkt, weil die Erzählstimme sehr dominant und nah an ihren eigenen Empfindungen bleibt. Der Text liest sich absolut top, man fliegt durch die Seiten, erlebt Szenen und Bilder hautnah, kann sich die Menschen und ihre Handlungen gezielt vorstellen und bekommt darüber hinaus noch das Gesellschaftsporträt einer ganzen Generation geliefert. Definitiv ein umfassender, detaillierter Roman mit Tiefgang. Gefehlt hat mir vor allem das Positive, die schönen Elemente, jenseits von wilden Drogenpartys, die auch nur dazu da waren, den Verstand abzutöten und den grauen Alltag zu vernebeln. Die nicht enden wollende Suche von Ada hat gerade im letzten Drittel des Buches einen eher schaalen Nachgeschmack, denn was meines Erachtens fehlt, ist Adas Aussöhnung mit ihrer Geschichte. Sie bleibt irgendwo zurück und schiebt viele Dinge von sich weg, was ihr versagt wurde, sucht sie nicht mehr, doch sie klagt nach wie vor an und kann nicht vergessen, was geschah, obwohl sie nun selbst zu den Erwachsenen gehört. Leider hat mich dieser letztlich negative Ausgang und die damit verbundene Aussage etwas enttäuscht, eben weil ich Menschen dieser Zeit kenne, die sich ganz anders und viel positiver entwickelt haben, die nicht so sehr im Selbstmitleid versunken sind, wie Ada. Demnach empfinde ich ihre Geschichte als eine äußerst individuelle und nicht als allgemeingültiges Dokument über die Entwicklung der Nachkriegsgeneration.

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Veröffentlicht am 08.11.2020

All die verlogenen kleinen Moralien

Giovannis Zimmer
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„Giovanni bildete sich gern ein, der Praktische von uns beiden zu sein und mir den steinigen Grund des Lebens vor Augen zu führen. Er brauchte dieses Gefühl: Denn im Grunde seines Herzens wusste er, ob ...

„Giovanni bildete sich gern ein, der Praktische von uns beiden zu sein und mir den steinigen Grund des Lebens vor Augen zu führen. Er brauchte dieses Gefühl: Denn im Grunde seines Herzens wusste er, ob er wollte oder nicht, dass ich ihm im tiefen Grunde meines Herzens, ob ich wollte oder nicht, mit aller Kraft widerstand.“

Inhalt

Giovanni und David lernen sich in einer Pariser Bar kennen, der eine arbeitet dort als der gutaussehende Barkeeper, der andere ist ein Gast, der Männern gegenüber nicht abgeneigt ist. Für David, dessen Freundin in Spanien eine längere Urlaubsreise unternimmt, um sich über den Status ihrer gemeinsamen Beziehung klar zu werden, eröffnet sich mit Giovannis Avancen eine Möglichkeit sich in einem anderen Menschen zu verlieren. Und obwohl er nicht eine Minute ernsthaft erwägt, sich als homosexueller Mann zu offenbaren, stürzt er sich mit allen Sinnen in eine Art Affäre, die ihn an seine persönlichen Grenzen führt. Doch es dauert gar nicht lange, bevor sich die tiefe Kluft zwischen den beiden Männern offenbart. Giovanni gibt alles, sein Herz, seine Leidenschaft, seine ganze Liebe für die wunderbaren Stunden in Davids Armen, während dieser sich immer verlorener fühlt, zwischen seinen eigenen moralischen Grundsätzen gefangen, die ihn einerseits die gesellschaftliche Anerkennung in ganz herkömmlichen Verhältnissen mit einer Frau und irgendwann auch Kindern vorgaukeln und andererseits die Erfüllung seiner sexuellen Vorlieben, im Bett mit Giovanni. Diese Perspektivlosigkeit der Beziehung verursacht durch die Schuldgefühle des Einen und die Konsequenzen des Anderen führen alsbald zum Bruch. Und als Hella, Davids Verlobte schließlich aus dem Urlaub zurückkehrt, um nun mit ihm eine feste Beziehung zu führen, nimmt er ihre Begeisterung für ein gemeinsames Leben dankbar an, scheint es doch die einzige Möglichkeit zu sein, all seinen kleinen verlogenen Moralien entgegenzuwirken …

Meinung

Der verstorbene amerikanische Autor James Baldwin, war eine Ikone der Gleichberechtigung aller Menschen, seine Bücher thematisieren Diskriminierung auf Grund der Hautfarbe ebenso wie hier auf Grund der sexuellen Orientierung. Und er greift in diesem Roman den tiefen inneren Zwiespalt einer Person auf, die einerseits die Wonnen der Liebe erfährt und einen Menschen gefunden hat, der so perfekt wie liebenswert erscheint und der dennoch diese Art von Beziehung nicht führen möchte, weil sie seinen eigenen gutbürgerlichen Status gefährden würde und sämtliche Inhalte, die er für gesellschaftskonform hält, untergräbt.

Die Homosexualität wirkt in dieser literarischen Abhandlung weniger dominant, als ich erwartet habe, dafür wiegt die Tragik und Melodramatik, die in einer unausgeglichenen Beziehung auftritt, umso mehr. Die Frage nach der Innerlichkeit und der Bejahung eines anderen Menschen ist hier schmerzhaft und äußerst differenziert behandelt wurden – ganz sicher ein großes Plus des Buches, denn eine Wertung, wer hier nun der bessere Mensch ist und warum, lässt sich nicht ohne Gegenargumente vertreten. Und gerade weil ich Giovannis absolute Liebe und Davids nachhaltige Zweifel verstehen konnte, fällt mir die persönliche Stellungnahme zu der Lektüre etwas schwer. Selbst in Anbetracht der Zeit, in der dieser Roman spielt, nämlich in den Fünfzigerjahren der Weltstadt Paris, ist diese tragische Liebesgeschichte universell und individuell gleichermaßen. Denn es gab sie ja auch damals, die Männer, die trotz ihres Rufs als „Tunte“ eben dieses Leben genossen haben und die anderen, die sich versteckt haben und am wenigsten gegenüber ihrem eigenen Spiegelbild zugeben wollten, wie sie wirklich fühlten.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für eine klassische, zeitlose Erzählung über die vielen Wege der Liebe und die fatalen Verstrickungen und die Fehlentscheidungen der Liebenden. Besonders positiv beurteile ich die tiefe Emotionalität, die dieser Roman hervorruft, das absolute Verständnis auf vielen Bewusstseinsebenen und das feinfühlige Ausloten der bestehenden Gefühle. Dadurch bekommt der Leser ein gutes, allumfassendes Gespür, für die Belange der Protagonisten. Selbst eine Wertschätzung der verschiedenen Charaktere bleibt in einem ausgewogenen Verhältnis, denn verstehen kann man beide Seiten und jeder hat seine Fehler und Schwächen. Die Frage der Schuld stellt sich hier nicht wirklich, es ist vielmehr eine Verkettung diverser Umstände, die letztlich in einem Höhepunkt der Dramatik ihr Ende finden. Für mich ein kleiner Minuspunkt in der Bewertung der Lektüre war einerseits das fehlende Frauenbild (Hella ist eine sehr blasse Figur) und anderseits eine klare Aussage. Die aussichtslose Entwicklung befindet sich hier im Detail und weniger als eine Botschaft für die Allgemeinheit. Schreibstil und Ausdruck lassen nichts zu wünschen übrig und es besteht die Möglichkeit dieses Buch zuzuklappen und noch länger über die Geschichte nachzudenken, ein ganz wesentlicher Pluspunkt auf meiner Bewertungsskala.

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