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Veröffentlicht am 30.08.2021

Ein literarisches Highlight

2001
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„Meine Zukunft, denke ich, immer reden alle von dieser Zukunft und behaupten, es wäre meine. Aber ich bin mir sicher, dass das gelogen ist.“ (S. 133)

Mit den Zukunftsaussichten ist es wahrlich nicht weit ...

„Meine Zukunft, denke ich, immer reden alle von dieser Zukunft und behaupten, es wäre meine. Aber ich bin mir sicher, dass das gelogen ist.“ (S. 133)

Mit den Zukunftsaussichten ist es wahrlich nicht weit hier, hier im Tal, einem kleinen Touristenort, der außerhalb der Saison in Trostlosigkeit versinkt. Erst recht, seit die Milchfabrik geschlossen wurde, in der die Väter ihre vermeintlich sicheren Arbeitsplätze an die Söhne vererbten. Und umso mehr, wenn man wie die fünfzehnjährige Ich-Erzählerin Julia, das „asoziale Verliererkind ohne Eltern“, in der örtlichen Hauptschule zur „Restmüll“-Klasse gehört (dort landet man, „wenn man kein Italienisch kann und schlecht im Sichbewegen ist“, und dort muss man letztlich „nichts Besonderes mehr leisten, außer existieren, aber auch das ist manchmal schwer“).
Dass Julia nicht verzweifelt, liegt vor allem an ihrem älteren Bruder und ihrer „Crew“. Hier hält man zusammen, hier frühstückt man gemeinsam an der Straßenecke die letzte Zigarette vor dem Unterricht, hier sind alle gleich – zumindest bis zu diesem fatalen Abschlussjahr und jenem überzogenen Geschichtsprojekt, das weniger der Bildung der Klasse, als vielmehr der Profilierung des ambitionierten Lehrers dient. Plötzlich scheint ein Immer-weiter-So nicht mehr möglich zu sein – auch wenn Julia das nicht wahrhaben will …

Man könnte „2001“, den frisch bei Hanser Berlin erschienen Roman von Angela Lehner, als Porträt einer nicht ganz so fernen Vergangenheit und als Schilderung einer weitestgehend perspektivlosen Dorfjugend betrachten. Dann würde man aus „2001“ vermutlich eine alles in allem harmlose, wenn nicht sogar belanglose, dennoch durchaus unterhaltsame Geschichte mit einer schnoddrigen, vielleicht auch nervigen Protagonistin herauslesen. Könnte man.

Man kann sich aber auch – und dazu möchte ich bei der Lektüre unbedingt raten – auf ebendiese Protagonistin einlassen, ihr zuhören, zwischen ihren Zeilen lesen, ihren Beobachtungen folgen. Und man liest die herzzerreißende Geschichte einer nahezu chancenlosen Heranwachsenden, die sich durchs Leben und den Alltag schlägt, ohne zu merken, dass sie sich durchschlägt – sie kennt es ja nicht anders. Die schon früh gelernt hat, dass man mit seinen Ressourcen haushalten muss, „und am besten haushalten kann man eben mit Bolognese und Emmentalerbrot“. Die ihre Schuhe trägt, bis sie buchstäblich auseinanderfallen – aber, ja nun, so geht es ja nicht nur ihr. Die ihren Bruder über alles liebt und nicht verstehen kann, warum der sich letztlich selbst mehr lieben muss als sie, um nicht unterzugehen im Tal. Die durchaus große Träume hat, auch wenn man ihr sagt, dass der Fame nicht ihr Weg sei und sie in der Realität ankommen müsse. Und die neben allen Alltagshindernissen wie jeder Teenie über Teenie-Kram nachdenkt wie zum Beispiel den ersten Kuss.

Angela Lehner schildert ihre Protagonistin und deren Lebensumstände so eindringlich und subtil, dass sich mir so manches Mal das Herz vor Mitgefühl zusammenzog. Sie erklärt und erläutert nicht, sondern lässt ihre Ich-Erzählerin beobachten und erzählen. Dabei sind es die scheinbaren Nebensächlichkeiten, wie beiläufig hingeworfen, die das Teenagerleben in diesem Milieu auf beinahe unheimliche Art lebendig werden lassen: Ein Rezept an der Kühlschranktür. Blutflecken auf den Socken. Ein hastig angerührter Fertig-Cappuccino auf dem Couchtisch. TV-Geräusche aus dem Wohnzimmer.

Angela Lehner hat mich mit ihrem Erstlingsroman „Vater unser“ schon begeistert (der Protagonistin Eva wollte ich Suppe kochen); mit „2001“ hat sie sich in meinen Augen noch gesteigert. Und Julia würde ich nicht nur bekochen, ich würde sie adoptieren.

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Veröffentlicht am 31.05.2021

Dies ist kein Buch, dies ist ein Juwel

Tage mit Gatsby
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Once again to Zelda …

Sie sind fürs Erste fertig mit New York. Alles gesehen, alles erlebt – und (fast) alles ausgegeben. Die Fitzgeralds zieht es nach Paris, dem Künstler- und Ex-Pat-Hotspot der Zwanzigerjahre: ...

Once again to Zelda …

Sie sind fürs Erste fertig mit New York. Alles gesehen, alles erlebt – und (fast) alles ausgegeben. Die Fitzgeralds zieht es nach Paris, dem Künstler- und Ex-Pat-Hotspot der Zwanzigerjahre: Dort pulsiert das Leben, dort finden sich zahllose Gleichgesinnte, dort amüsiert man sich mindestens ebenso gut wie an der Ostküste, und all dies, Dollarkurs sei Dank, für bedeutend weniger Geld. Doch auch Paris bleibt letztlich nur eine Zwischenstation auf dem Weg an die französische Riviera. Hierher will vor allem Scott fliehen, um seinen neuen Roman zu schreiben. Und natürlich müssen Zelda und die kleine Tochter Scottie mit. Ob Zelda will? Das spielt keine Rolle. Es geht schließlich um den Künstler und sein Werk. Was Zelda überhaupt will – Selbstentfaltung, literarische Selbstverwirklichung, kurz: ein Leben, das nicht nur von Scott, seinem schriftstellerischen Schaffen und seinen Launen abhängt – ist ebenso nebensächlich. Denn es kann – nein: darf! – nur einen Schriftsteller in dieser Ehe geben! Und so zieht Zelda wie immer mit. Verliert sich. In der Langeweile. Der Unzufriedenheit. Dem Alkohol. Den Partys, die es letztlich doch gibt. In Scotts Schatten, aus dem er sie niemals entlassen wird. Und in der Liebe zu Jozan …

Was. Für. Ein. Buch! Die Geschichte dieses ebenso schönen wie verdammten Paares, dessen Capricen die Gesellschaft in Atem gehalten haben, ist schon mehrfach erzählt worden, nicht zuletzt von Fitzgerald selbst, der sich für seine Romane und Kurzgeschichten schamlos nicht nur an seiner eigenen Ehe, seiner Frau und ihrem gemeinsamen Leben bedient hat, sondern auch an Zeldas Gedankenwelt – und ihrem Tagebuch. Dass sich beim Lesen von „Tage mit Gatsby“ selbst für ausgemachte Fitzgerald-Kenner*innen kein „Habe ich irgendwo alles schon mal gelesen“-Gefühl einstellt, ist dem großen Talent der Autorin Joséphine Nicholas zu verdanken. In ihrem Debüt steht Zelda, dieses betörende, schillernde, zerrissene Geschöpf, im Mittelpunkt: Sie ist es, die als Ich-Erzählerin von jenem Sommer 1924 in Südfrankreich berichtet, und das auf sprachlich so vortreffliche Weise, dass ich in jeder Zeile, in jedem Gedanken, in jedem Dialog und jedem Streit meinte, sie zu hören. Poetisch. Atemberaubend. Herzzerreißend.

„Tage mit Gatsby“ gehört zu meinen Lesehighlights dieses Jahres – und ich möchte euch die Lektüre aller-aller-wärmstens ans Herz legen!

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Veröffentlicht am 20.04.2021

Wie eine erwachsene Version eines Joël-Dicker-Romans

Jenseits der Erwartungen
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Lincoln, Teddy und Mickey: Drei Männern in ihren Sechzigern, Freunde seit Studienzeiten, treffen sich eines Spätsommers in Lincolns Ferienhaus auf Martha’s Vineyard. Es ist Jahrzehnte her, seit sie zuletzt ...

Lincoln, Teddy und Mickey: Drei Männern in ihren Sechzigern, Freunde seit Studienzeiten, treffen sich eines Spätsommers in Lincolns Ferienhaus auf Martha’s Vineyard. Es ist Jahrzehnte her, seit sie zuletzt gemeinsam dort waren. Damals hatten sie gerade das College abgeschlossen und blickten teils einer hoffnungsvollen, teils einer ungewissen Zukunft entgegen: Es war die Zeit, in der das Los darüber entschied, ob man in den Vietnamkrieg eingezogen wurde, und Fortuna meinte es nicht mit jedem der drei gut. Und es war die Zeit, in der alle drei in dasselbe Mädchen verliebt waren, die hinreißende, freiheitsliebende, wunderhübsche Jacy. Jacy war in jenem schicksalhaften Sommer mit den drei Jungs im Ferienhaus – und wurde danach nie wieder gesehen.

Jetzt, fast vierzig Jahre später, kann Lincoln – obgleich seit Ewigkeiten glücklich verheiratet, stolzer Vater und Großvater, beruflich auf soliden Füßen – Jacys unbekanntes Schicksal noch immer nicht vergessen. Er nimmt das Wiedersehen mit den Freunden zum Anlass, die Umstände ihres Verschwindens zu erforschen, auch wenn er insgeheim befürchtet, dass Teddy oder Mickey daran beteiligt waren – in welcher Form auch immer.

Der Inhaltsangabe nach rechnet man mit einem Spannungsroman, wenn nicht gar Thriller, und zweifellos wird während der gesamten Handlung eine gewisse Grundspannung gehalten. Doch tatsächlich ist der Roman in meinen Augen weitaus vielschichtiger: Er ist eine Art Lebensbilanz dreier höchst unterschiedlicher Männer mit ebenso unterschiedlichen Lebenswegen, deren früheres, jüngeres, unverfälschtes Ich auch mit sechzig noch immer durchscheint (wer je auf einem Klassentreffen war, weiß vermutlich, was ich meine). Es ist zugleich eine subtile Gegenüberstellung eines vergangenen Amerikas mit dem gegenwärtigen, die indes beide die drei Freunde, jeden auf seine Weise, geprägt haben. „Jenseits der Erwartungen“ (fantastisch übersetzt von Monika Köpfer) war für mich – eingefleischte Dicker-Fans hören bitte mal kurz weg –, als läse ich eine bedeutend reifere und erfahrenere, gekonnte und auch kunstvollere Version eines Joël-Dicker-Romans.

Ganz große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 29.01.2021

Ein Highlight - sprachlich, inhaltlich und emotional

Kindheit
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„Die Kindheit ist lang und schmal wie ein Sarg, aus dem man sich nicht allein befreien kann.“ (Pos. 342)

Es ist ein einfaches, ziemlich tristes Leben, das die kleine Tove im Kopenhagen der 1920er Jahre ...

„Die Kindheit ist lang und schmal wie ein Sarg, aus dem man sich nicht allein befreien kann.“ (Pos. 342)

Es ist ein einfaches, ziemlich tristes Leben, das die kleine Tove im Kopenhagen der 1920er Jahre führt. Ihre Mutter ist ihr gegenüber abweisend, gleichgültig, oft kaltherzig. Der Vater ist überzeugter Sozialdemokrat, unter dessen Ägide an Heiligabend nicht etwa Weihnachts-, sondern sozialdemokratische Kampflieder gesungen werden (und Toves Kinderherz verkrampft sich stets „aus Angst und Scham, weil ringsherum, selbst bei den versoffensten und gottlosesten Nachbarn, die schönsten Kirchenlieder erklingen“). Es ist eine ärmliche Welt, in der Armut dennoch als Schande gilt, in der man das altbackene Brot nur heimlich kauft und in der man auch keinen arbeitslosen Vater haben darf, auch wenn das auf die Hälfte der Kinder in der unmittelbaren Nachbarschaft zutrifft. (Man versucht, diese offenkundige Tatsache zu verschleiern, indem man kurzerhand behauptet, der Vater sei vom Gerüst gefallen und krankgeschrieben.)
Toves Bewältigungsstrategie, ihr Weg, sich aus diesen beengten und trostlosen Lebensumständen wenigstens zeitweilig zu befreien, sind Bücher und Worte sowie der Traum, Dichterin zu werden:

„In meinem Inneren krochen lange, merkwürdige Wörter hervor und legten sich wie eine Schutzhülle über meine Seele. Ein Lied, ein Gedicht, etwas Linderndes, Rhythmisches und unendlich Melancholisches, das jedoch nie so leidvoll und traurig war, wie der Rest meines Tages unweigerlich sein würde. Wenn mich diese hellen Wogen von Wörtern durchströmten, wusste ich, dass meine Mutter mir nichts mehr anhaben konnte, denn in diesem Moment hörte sie auf, für mich von Bedeutung zu sein.“ (Pos. 97)

Gleichzeitig sind die Bücher auch das, was sie von anderen Kindern unterscheidet: „Ich bin seltsam, weil ich wie mein Vater Bücher lese, und weil ich nicht verstehe, wie man spielt.“ (189) Sie lassen Tove anders erscheinen, nicht „normal“, wie ihr durchaus bewusst ist: „Ich weiß genau, wie schlimm es ist, nicht normal zu sein, ich habe ja selbst meine liebe Not damit, so zu tun, als wäre ich es.“ (Pos. 751)
Und so hangelt Tove sich mit ihren Träumen und Büchern von Tag zu Tag, bis Tove vierzehn ist und ihre Kindheit endet, „leise auf den Grund der Erinnerungen [sinkt], dieser Seelenbibliothek, aus der ich bis an mein Lebensende Wissen und Erfahrungen schöpfen werde“ (Pos. 1296).

Die außergewöhnlich vielen Zitate meiner Inhaltsangabe deuten es schon an: „Kindheit“ hat mich sowohl inhaltlich als auch sprachlich restlos überzeugt. Es kommt zwar sehr oft vor, dass ich mir einzelne Sätze und Passagen in Büchern markiere, doch in diesem Fall ist meine „Wow! Das muss ich mir merken“-Liste länger als sonst.
Wen das Gefühl beschleicht, all dies irgendwie irgendwo in irgendeiner Form schon mal gelesen zu haben – hat vollkommen recht. Diese Form des autobiografischen, sich selbst und die eigene Biografie sezierenden Schreibens kennt man heute bspw. von Annie Ernaux oder Deborah Levy. Nur, dass Tove Ditlevsen dies schon vor über fünfzig Jahren tat. „Schreiben heißt, sich selbst auszuliefern“, sagte Tove Ditlevsen einmal, wie uns die Übersetzerin Ursel Allenstein in ihrem (ebenfalls äußerst lesenswerten!) Nachwort wissen lässt, „sonst ist es keine Kunst. Man kann das verschleiern, aber letzten Endes schreibt man doch immer über sich selbst.“ Und dieses „Selbst“, von dem Ditlevsen hier schreibt, das kleine Mädchen, das sich in seiner Kindheit gefangen fühlt, und seine Geschichte, haben mich von der ersten Seite an gefesselt. Es gelingt der Autorin, mit wenigen, schnörkellosen und zugleich emotional kraftvollen Worten eine Atmosphäre, ja, eine Welt heraufzubeschwören, die so plastisch und greifbar ist, dass ich förmlich in dieses beschriebene Leben hineingesogen wurde. Ich war an der Seite der kleinen Tove, als sie sich scheu um die Liebe ihrer Mutter bemühte, als sie ihren Träumen, Dichterin zu werden, nachhing, als sie sich beklommen fragte, was nach der Kindheit kommen würde. Ich hatte teil an ihren Lebensumständen, ihren Gefühlen, ihren Gedanken, kurz: an ihrer Kindheit.

Für mich ist „Kindheit“ schon jetzt ein Jahreshighlight! Und es ist eines der seltenen Bücher, die ich, obwohl ich sie schon als E-Book gelesen habe, unbedingt noch als Druckexemplar haben muss. Kennt ihr das? Es gibt Bücher, die mir als E-Book vollkommen ausreichen (meist Krimis oder Thriller, die ich rasch weginhaliere), und andere, die ich beim Blick ins Bücherregal sehen kann, die ich fühlen, riechen, mit allen Sinnen buchstäblich be-greifen will.

„Kindheit“ ist übrigens der erste Band einer Trilogie, der erstmalig in deutscher Übersetzung (von Ursel Allenstein) vorliegt. Ich für meinen Teil kann es kaum erwarten, auch die nächsten Bände zu lesen.

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Veröffentlicht am 28.01.2021

Eine bezaubernde, melancholische Geschichte

Das Schneemädchen
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„Es handelt von einem alten Mann und einer alten Frau. Sie wünschen sich sehnlichst ein Kind, können aber keins bekommen. Und dann machen sie in einer Winternacht ein kleines Mädchen aus Schnee, und sie ...

„Es handelt von einem alten Mann und einer alten Frau. Sie wünschen sich sehnlichst ein Kind, können aber keins bekommen. Und dann machen sie in einer Winternacht ein kleines Mädchen aus Schnee, und sie wird lebendig.“ (S. 264)

Was Mabel da für ihren Mann Jack in wenigen Worten aus einem Buch zusammenfasst, ist, wie es scheint, nichts weniger als ihr beider Schicksal: Ihr Kinderwunsch blieb unerfüllt, und der Neuanfang, den sie in den 1920er Jahren in Alaska wagen, gestaltet sich schwieriger als erwartet. Ihre Farm gedeiht nicht, die Arbeit ist hart, das Leben einsam und entbehrungsreich. Doch eines Winterabends, der Schnee fällt in dichten Flocken, vergessen sie für einen Augenblick ihre zermürbenden Lebensumstände und bauen in einem Anflug längst vergessenen Übermuts ein kleines Mädchen aus Schnee. Jack formt ein Gesichtchen, Mabel färbt die Lippen rot und versieht die kleine Schneefigur mit Fäustlingen. Für einen Moment ist die Welt wieder schön und unbeschwert.

„In jener Nacht war ihnen das Kind geboren worden, aus Eis und Schnee und Sehnsucht.“ (S. 247)
Am nächsten Morgen trauen Jack und Mabel ihren Augen nicht: Am Waldrand steht ein Kind. Zart und blass und weißblond, mit roten Lippen und den Fäustlingen des Schneemädchens, begleitet von einem Fuchs. In diesem und den folgenden Wintern taucht die Kleine, die sich Faina nennt, immer wieder bei dem Ehepaar auf, immer nur für ein paar Stunden, ehe sie wieder in der Wildnis verschwindet. Rätselhaft, geheimnisvoll – und gleichzeitig ein Lichtstrahl, der ihr Herz erwärmt.
Aber – ist das Kind real? Ein echtes Mädchen aus Fleisch und Blut? Oder doch nur eine Fantasiegestalt, eine Halluzination, heraufbeschworen von den langen dunklen Winterabenden in der Einsamkeit? Für ihre Nachbarn steht fest: Die Kleine ist ein Spuk, ausgelöst durch einen handfesten Hüttenkoller. Doch Mabel und Jack sind überzeugt, dass das Mädchen existiert, auch wenn es niemand außer ihnen beiden je gesehen hat, auch wenn es schier unmöglich ist, dass ein Kind allein in den Wäldern und Bergen überleben kann. Und so warten sie jeden Winter aufs Neue, dass Faina zu ihnen zurückkehrt.

Mein Gott, ist das ein schönes Buch! Es stand schon lange auf meiner Wunschliste, und nachdem ich sofort mit dem Lesen begonnen hatte, habe ich das letzte Viertel absichtlich langsam gelesen, das Ende hinausgezögert, weil ich mich partout nicht von der Geschichte trennen wollte.

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll – es hat mich einfach so umfassend berührt und verzaubert, dass ich wirklich bei jedem Aspekt ins Schwärmen gerate: Die liebenswerten Figuren, die trotz aller Rückschläge und Widrigkeiten versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Die Atmosphäre Alaskas, die mich sommers wie winters in ihren Bann zog. Die ruhige, unaufgeregte Grundstimmung, die den gesamten Roman durchzieht und sich während der Lektüre auf mich übertrug. Die sensible Sprache (aus dem Englischen von Claudia Arlinghaus, Margarete Längsfeld und Martina Tichy), die mein Herz berührte und mir so manches Mal einen Kloß im Hals bescherte, ohne je kitschig zu sein, … und, und, und. Deshalb: große Leseempfehlung!

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