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Veröffentlicht am 15.02.2021

Claudia Durastanti - Die Fremde

Die Fremde
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Eine junge Frau zwischen den Welten. Ihre Eltern sind beide gehörlos, haben ihre eigene Sprache aber keine, die sie mit der Tochter teilen. In Brooklyn geboren wächst sie in einem süditalienischen Dorf ...

Eine junge Frau zwischen den Welten. Ihre Eltern sind beide gehörlos, haben ihre eigene Sprache aber keine, die sie mit der Tochter teilen. In Brooklyn geboren wächst sie in einem süditalienischen Dorf auf, wo sie jedoch nie wirklich dazugehört. Sie weiß nicht, welcher Schicht sie angehört, verbringt die Sommer in den USA, wo sie bei den Cousinen ebenfalls eine Fremde bleibt. Auch an der Universität und später in England kann sie das Gefühl nicht ablegen, zwischen allen zu schweben und ihren Platz nicht zu finden. Sie kommt sich fast wie eine Betrügerin vor, als sie in die akademischen Kreise eindringt und verarbeitet ihre Erlebnisse und Emotionen nun literarisch, die einzige Form, die nicht in der Realwelt festgelegt ist und so auch ihr einen Heimatort liefert.

„Meine Mutter fehlte mir, wenn sie verschwand, aber sie war nebelhaft und mein Vater eine tiefschwarze Galaxie, die jede physikalische Theorie widerlegte.“

„Die Fremde“ ist Claudia Durastantis vierter Roman und scheinbar der erste, der in deutscher Übersetzung erschienen ist, obwohl die Autorin bereits mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde und sie sich als Mitbegründerin des Italian Festival of Literature in London und Beraterin der Mailänder Buchmesse einen Namen gemacht hat. Der autobiografische Roman gibt Einblicke in eine außergewöhnliche Familie und einer großen Einsamkeit, die sie als Kind und Jugendliche empfunden hat.

„ich fürchtete, jemand könnte mich als das erkennen, was ich war: eine, die sich eingeschlichen hatte. Ich trug die richtigen Kleider, besaß das gleiche Telefon wie die anderen, aber ich hatte arbeiten müssen, um es mir zu beschaffen, (...)“

Wie soll man sich in der Welt zurechtfinden, wenn die Eltern in ihrer ganz eigenen leben? Claudia Durastanti schildert die Begegnung der Eltern und den Freigeist ihrer Mutter, die – als Gehörlose außerhalb aller gesellschaftlichen Normen stehen – genau das auslebt, was sie möchte, keine Grenzen und Konventionen kennt und daher frei ist von allen Zwängen, die ihre Tochter umso stärker wahrnimmt. Diese nähert sich über Familie, Orte, Gesundheit, Arbeit und Liebe immer wieder der Mutter an, die jedoch für sie wie auch für den Rest der Familie eine Fremde bleibt.

Die große Verunsicherung und Einsamkeit des Mädchens und der jungen Frau sind in jeder Zeile zu spüren, ebenso wie die Bewunderung für die Eltern, die sich scheinbar unbeschwert finden konnten, weil sie sich finden mussten. Die Autorin findet eine poetische Sprache, um die Emotionen zum Ausdruck zu bringen und die Höhenflüge der Mutter ebenso wie die Tiefen von Verwirrung und Depression akzentuiert wiederzugeben.

Obwohl stark autobiografisch schon jetzt für mich einer der vor allem sprachlich stärksten Romane des Jahres 2021.

Veröffentlicht am 12.02.2021

Delphine de Vigan - Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin

Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin
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Am 20. Mai wird sich alles ändern, etwas Großes steht bevor. Das zumindest hat die Wahrsagerin Mathilde prophezeit. Nun ist der Tag gekommen und die Witwe und dreifache Mutter geht ihm gespannt entgegen. ...

Am 20. Mai wird sich alles ändern, etwas Großes steht bevor. Das zumindest hat die Wahrsagerin Mathilde prophezeit. Nun ist der Tag gekommen und die Witwe und dreifache Mutter geht ihm gespannt entgegen. Doch zunächst ist alles wie immer: Métro und RER verspätet, dann verstopft, dazu noch eine Frau, die beinahe vor ihr kollabiert. Viel zu spät kommt sie zur Arbeit, nur um dann festzustellen, dass eine Kollegin jetzt in ihrem Büro sitzt und sie in das fensterlose Kabuff neben der Toilette ziehen muss. Es hatte sich abgezeichnet, seit Monaten schon war die Stimmung zwischen ihr und ihrem Chef vergiftet. Zeitgleich eilt Thibault durch die Stadt. Auch sein Tag hat mäßig begonnen, denn endlich hat er sich von Lila getrennt, die dies kommentarlos akzeptierte. Nun hetzt der Notfallmediziner von Patient zu Patient, erschöpft und kurz davor, selbst zusammenzubrechen. Die Wege der beiden kreuzen sich immer wieder, doch werden sie sich begegnen und die Vorhersage wahr werden lassen?

Delphine de Vigans Roman ist im Original bereits 2009 erschienen und stand im selben Jahr in der letzten Runde um den Prix Goncourt. Auch die Verfilmung aus dem Jahr 2015 wurde positiv aufgenommen und mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Die Autorin fängt in ihrer Geschichte das typische Pariser Großstadtleben ein: métro, boulot, dodo. Die beiden Protagonisten sind lange im öffentlichen Raum unterwegs, ohne dort jedoch die Menschen um sich wirklich wahrzunehmen und werden dabei selbst ebenso unsichtbar; die Arbeit nimmt nicht nur den Großteil des Tages, sondern auch der Emotionen und Gedanken ein; das Privatleben kommt chronisch zu kurz, weshalb Beziehungen kaum gepflegt und notwendige Entscheidungen immer wieder verschoben werden.

Neben der Frage, wann bzw. ob Mathilde und Thibault sich begegnen, steht vor allem der Konflikt zwischen Mathilde und ihrem Vorgesetzten Jacques im Fokus der Handlung. Aus für sie nicht nachvollziehbaren Gründen hat er sie im Laufe der vergangenen Monate isoliert, immer mehr Verantwortung anderen übertragen und sie systematisch vom Kommunikationsfluss abgeschnitten. Es ist Mobbing der schlimmsten Art, was er betreibt und die Folgen zeigen sich bei Mathilde: sie ist erschöpft, schläft nicht mehr und schon der Gedanke an die Arbeit bereitet ihr Unwohlsein. Die Personalchefin ist keine Hilfe, die Kollegen haben selbst zu viel Sorge um ihren Job als dass sie ihr zur Seite stehen würden und Jacques verweigert jedes Gespräch, so dass der Grund für sein Verhalten im Dunkeln bleibt.

Thibault wiederum hatte sich bewusst gegen das Dasein als Hausarzt entschieden und doch trifft er manche Patienten, die die Notfallnummer wählen, immer wieder. Es sind die Einsamen, die Alten, für die der Besuch des Arztes oft ihr einziger menschlicher Kontakt ist. Auch das sind Abgründe der Stadt, vor denen gerne die Augen verschlossen werden, weil sie niemand sehen möchte. So sehr er seinen Beruf liebt, diese Begegnungen laugen ihn aus.

Die Handlung oszilliert zwischen den beiden und je näher man ihnen kommt, desto mehr wünscht man ihnen, dass die einsamen Seelen sich treffen und finden und die Leere des jeweils anderen füllen können. Authentisch und überzeugend fängt Delphine de Vigan die Einsamkeit unter Millionen von Menschen ein, sie schildert ein Leben, in dem die Menschen funktionieren und gar nicht die Zeit finden, ihr Dasein und den Sinn ihres Lebenskonstrukts zu hinterfragen. Der Großstadtlärm übertönt diese Fragen und ebenso die kaum hörbar leise schlagenden einsamen Herzen.

Veröffentlicht am 11.02.2021

Nam-joo Cho - Kim Jiyoung, geboren 1982

Kim Jiyoung, geboren 1982
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Nach der Geburt ihrer Tochter und, aus Mangel an Betreuungsmöglichkeit, der Aufgabe ihres Berufs ist Kim Jiyoung etwas verloren. Die postnatale Depression wirft sie schließlich ganz aus der Bahn. Ihre ...

Nach der Geburt ihrer Tochter und, aus Mangel an Betreuungsmöglichkeit, der Aufgabe ihres Berufs ist Kim Jiyoung etwas verloren. Die postnatale Depression wirft sie schließlich ganz aus der Bahn. Ihre Psyche schlüpft in den Charakter von Menschen in ihrem Umfeld, ihre eigene Persönlichkeit verschwindet dahinter. Ein Psychologe ergründet die Ursache und blickt dabei auf das typische Leben koreanischer Frauen. Schon vor der Geburt beginnt der Wettlauf mit dem anderen Geschlecht. Sollten sie überhaupt die Geburt erleben, erwartet sie ein Leben in zweiter Reihe.

Nam-joo Chos Roman ist ein globales Phänomen, das einen sehr speziellen Beitrag zur Feminismusdebatte und einen Einblick in eine aus westlicher Welt sehr befremdliche Gesellschaft liefert. Zwar ist die Geschichte als Roman angelegt, zahlreiche Fakten untermauern jedoch die Schilderungen.

Man kann vor Entsetzen nur staunen über die Ungerechtigkeit, die mit Tradition begründet und immer weiter verfestigt wird. Bei den Kindern schon werden die Jungen bevorzugt: erhalten die besseren Zimmer, mehr Essen und Bildung, die ihnen die Schwestern finanzieren müssen, auch wenn diese intelligenter sind. In der Schule genießen sie mehr Freiheiten, die Mädchen erleben frühzeitig schon sexuelle Grenzüberschreitungen, die jedoch abgetan werden – sie gehören halt einfach dazu. Auch im Alltag erlebt Jiyoung zahlreiche Übergriffe, wobei man ihr dafür meist die Schuld zuschreibt, was muss sie auch abends noch draußen rumlaufen oder einen Rock tragen?

Auch der Start ins Berufsleben ist beschwerlich, die Universitäten unterstützen nur die männlichen Studierenden bei der Jobsuche und Frauen werden auf Einstiegspositionen nicht nur schlechter bezahlt, sondern wiederum schlechter behandelt und wie Freiwild behandelt. Peinliche Situationen wechseln sich mit Demütigungen ab, aber nur wenige stellen sich dagegen; der Kampf für mehr Gerechtigkeit ist hart und beschwerlich und endet in der Regel dann doch mit der Resignation der Frauen. Spätestens mit der Frage nach der Familiengründung - genauestens beäugt von den Familien, die für sich das natürliche recht der Einmischung beanspruchen - ist unweigerlich der Abschied angesagt. Infrastruktur und Verständnis für arbeitende Mütter sind nicht vorhanden.

Man fühlt sich nicht um Jahrzehnte, sondern um Jahrhunderte zurückversetzt. Gleichberechtigung ist eine Fehlanzeige und selbst junge Männer mit progressiver Haltung fallen doch immer wieder in klassische Muster zurück oder merken gar nicht, dass ihr vermeintliches Entgegenkommen unter der Oberfläche ebenso diskriminierend ist wie das Verhalten der vorherigen Generationen.

Ein bemerkenswertes Buch, das nicht so sehr durch sprachliche Finesse oder Figurenentwicklung, sondern durch die Darstellung der koreanischen Gesellschaft beeindruckt. Dass Frauen weniger berufliche Chancen haben, trotz besser Leistungen in Schule und Universität, ist dabei nicht so sehr verwunderlich, das verhält sich ja bei uns nicht grundlegend anders, es ist viel mehr die Grundhaltung, die in der nicht nur patriarchalen, sondern offen misogynen Gesellschaft als völlig normal angesehen wird.

Veröffentlicht am 07.02.2021

Stephan Orth - Couchsurfing in Saudi-Arabien

Couchsurfing in Saudi-Arabien
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Mit dem jungen Herrscher kommt auch die Öffnung des Wüstenstaates für die Welt jenseits der Landesgrenzen. Stephan Orth wagt sich als einer der ersten Touristen, eine im Land noch völlig unbekannte Spezies, ...

Mit dem jungen Herrscher kommt auch die Öffnung des Wüstenstaates für die Welt jenseits der Landesgrenzen. Stephan Orth wagt sich als einer der ersten Touristen, eine im Land noch völlig unbekannte Spezies, nach Saudi-Arabien. Er will jedoch nicht die prunkvollen Hotels sehen, sondern die normalen Menschen kennenlernen, sehen, wie sich ihr Alltag gestaltet und wie sie ticken. Doch das ist gar nicht so einfach, Couchsurfing ist noch recht unbekannt und Gastgeber finden sich nur schwer oder sie sagen kurzfristig ab. Nachdem seine Touren durch den Iran und Russland bereits abenteuerlich waren, lässt sich der Autor jedoch davon nicht entmutigen und wird mit spannenden Einblicken, aber auch unauflösbaren Widersprüchen – die jedoch ihn mehr zu irritieren scheinen als die Einheimischen – belohnt.

Mich haben die bisherigen Couchsurfing-Berichte von Stephan Orth bereits sehr begeistern können, da es ihm gelingt, den perfekten Ton zwischen Neugier und Aufgeschlossenheit, jedoch auch kritischem Blick und pointiertem Kommentar zu finden, der die Reisedokumentation nicht nur informativ, sondern auch unterhaltsam gestaltet. Im letzten Jahr hatte ich bereits Nadine Pungs‘ „Meine Reise ins Übermorgenland“ über ihre Reise durch die Arabische Halbinsel gelesen, ihr war jedoch das Visum für Saudi-Arabien verwehrt geblieben, weshalb sie nur die kleineren Staaten besuchen konnte. Orths füllt nun die geografische Lücke auf sehr unterhaltsame Weise.

Saudi-Arabien ist vor allen Dingen eines: Wüste. 95% des Landes sind von Sand bedeckt, weshalb Ausflüge in die Dünen ebenso zum Pflichtprogramm gehören wie Kamele, wobei die eingestreuten Fakten zu den Wüstenschiffen nicht immer ganz ernst gemeint sind. Es ist eine in der Öffentlichkeit von Männern dominierte Welt, Frauen verschleiern sich, es sei denn es handelt sich um Ausländerinnen in sogenannten Compounds. Dies ist die abgeschlossene Welt der Ex-Pats, die hinter hohen Mauern und gut bewachten Zugängen das typisch westliche Leben genießen, das den Bewohnern des Königreiches verwehrt bleibt.

Spannender als dies sind daher die Begegnungen mit den Saudis, für die die neue Zeit, die von Kronprinz Mohammed bin Salman (MBS) eingeleitet wurde, zum Teil noch befremdlich wirkt. Zwischen strengem Islam, Trennung von Männer- und Frauenwelt, absurdem Reichtum und zugleich technologischem Fortschritt wie im Westen geraten alte Strukturen ins Wanken. Wobei auch hier unsere Vorstellung bisweilen weit abweicht von der Wahrnehmung der Menschen dort: die unterdrückte Frau ist nicht selten diejenige, die zu Hause das Zepter schwingt und die Machtverhältnisse umkehrt.

Nach all den negativen Schlagzeilen der vergangenen Jahre (Niederschlagung von Protesten gegen die Regierung, der militärische Eingriff im Jemen und nicht zuletzt die Affäre Khashoggi) liefert Orth einen anderen Blick auf das Land, der jedoch auch nicht verhehlt, dass in der Öffentlichkeit vieles nicht gesagt werden kann und die Herrscherfamilie ein drakonisches Regime führt, mit dem nicht zu spaßen ist. Menschenrechte, Demokratisierung oder auch Meinungsfreiheit bleiben ferne Utopien, jedoch scheint es vielen auch zu gelingen, sind innerhalb der engen Grenzen einzurichten und ihre Wege zu finden, die Missstände zu kommunizieren.

Spannende Einblicke, die neugierig machen und zugleich auch abschrecken. Ein interessantes Land voller Widersprüche.

Veröffentlicht am 26.01.2021

Dmitrij Kapitelman - Eine Formalie in Kiew

Eine Formalie in Kiew
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Nach 25 Jahren in Deutschland und der Beobachtung der unsäglichen politischen Entwicklungen insbesondere im Osten beschließt der Autor sich nun endlich um die Staatsbürgerschaft des Landes zu bemühen, ...

Nach 25 Jahren in Deutschland und der Beobachtung der unsäglichen politischen Entwicklungen insbesondere im Osten beschließt der Autor sich nun endlich um die Staatsbürgerschaft des Landes zu bemühen, in dem er aufgewachsen ist und sich zu Hause fühlt. Mit der Ukraine verbindet ihn nicht mehr viel, dennoch muss er nach Kiew reisen, um dort eine neue Geburtsurkunde und eine Apostille zu besorgen. Schon seit vielen Jahren war er nicht mehr dort, manche Straßenzüge gleichen noch jenen seiner Kindheitserinnerungen, andere sind nicht wiederzuerkennen. Er sucht die alte Wohnung seiner Familie auf, in der tatsächlich im Kinderzimmer noch immer derselbe Teppichboden liegt. Auch alte Freunde und Verwandte trifft er wieder, immer auch mit der Sprache kämpfend, die ihm fremd geworden ist. Wundersamerweise sind seine Dokumente zügig fertig und er will schon die Rückreise antreten, doch dann kündigt sein Vater sein Kommen an und macht dabei einen völlig verwirrten Eindruck. Dies bestätigt sich rasch: offenbar die Folgen eines Schlaganfalls, also muss er sich erst einmal um die Gesundheit des alten Mannes kümmern.

Kapitelmans Reise nach Deutschland beginnt wie viele in den 1990er Jahren. Als jüdische Kontingentflüchtlinge konnte die Familie in den Westen kommen, wo sich jedoch die Hoffnungen und Erwartungen nur bedingt erfüllten. Bald schon verklären die Eltern die alte Heimat, was zu einem unweigerlichen Bruch zwischen den Generationen führt: die Kinder finden sich zügig ein, leben unauffällig wie ihre deutschen Freunde, doch die Eltern bleiben immer ein Stück weit noch in der Vergangenheit verhaftet. Die Reise in das Geburtsland wird dann zu einer Entdeckungsreise in die Fremde, nicht nur Sprache fehlt, sondern auch die Gepflogenheiten müssen die Kinder sich mühsam aneignen. Kapitelman schildert dieses Erlebnis mit einem lockeren Ton, der von feiner Ironie geprägt ist, die jedoch die Zwischentöne nicht verdeckt, sondern eher noch schärft.

Zunächst dominiert der Behördenirrsinn, der als Ausgangspunkt für die Handlung dient. Sowohl auf deutscher wie auch auf ukrainischer Seite verwundert so manche Paragrafenabsurdität, hierzulande geprägt von rigider Formalität, dort von „Entdankungen“, der zufälligen Beigabe von kleinen und größeren Geldgeschenken, die Vorgänge nicht nur beschleunigen, sondern überhaupt erst ermöglichen. Die Entfremdung von der Heimat, der Verlust der Sprache – wobei dies in einem zweisprachigen Land, das sich auch noch im Krieg befindet und wo die Verwendung der „falschen“ mit nicht wenigen Vorbehalte einhergeht – die unterschiedlichen Lebensbedingungen und Lebensentwürfe: Kapitelmans schildert seine Eindrücke und Begegnungen authentisch und lebhaft und lässt den Leser an seinen Gedanken teilhaben.

Mit dem Erscheinen des Vaters verschiebt sich der Schwerpunkt, weniger die Begegnung mit dem Fremden steht im Vordergrund als viel mehr der schwierige Umgang mit dem Vater, der nicht mehr der Mann ist, den er kannte. Einfachste Fragen werden zu großen Hürden, die Hände und Füße wollen nicht mehr wie gewohnt gehorchen und die bittere Wahrheit kann kaum mehr verleugnet werden. Der Autor muss nicht nur seine Geburtsstadt neu kennenlernen, sondern auch seine Eltern, denn diese sind ebenso nicht mehr diejenigen, die sie einmal waren.

Auch wenn viele Themen eher trauriger Natur sind und nachdenklich stimmen, lebt der Roman doch von einem heiteren Ton, der insbesondere die alltäglichen Absurditäten pointiert wiedergibt. Immer wieder muss man schmunzeln, obwohl die Lage eigentlich ernst ist. Dmitrij Kapitelman gelingt so eine Liebeserklärung an Kiew und seine Bewohner und eine unterhaltsame literarische Spurensuche nach seinen Wurzeln, die er schon vertrocknet glaubte und die ihn unerwartet seinen Eltern wieder ganz nahe bringt.