Die würdige Aufgabe der Wirklichkeitsflucht
Joe Kavalier und Sammy Clay sind zwei sehr verschiedene junge Männer, die Ende der 1930er in das Comic-Geschäft einsteigen, als dort gerade die „Goldenen Jahre“ herrschten. Clay hat den Kopf voller Ideen ...
Joe Kavalier und Sammy Clay sind zwei sehr verschiedene junge Männer, die Ende der 1930er in das Comic-Geschäft einsteigen, als dort gerade die „Goldenen Jahre“ herrschten. Clay hat den Kopf voller Ideen und den Anspruch, diesen Ideen Hand und Fuß zu verleihen. Wenn ein Superheld fliegen können soll, interessiert ihn: Warum kann er das? Ein Beweis durch Behauptung kennzeichnet in seinen Augen Schund, von dem es in der Comicwelt jede Menge gab, je länger, je mehr. Autor Michael Chabon lässt Sammy deshalb im Laufe des Romans immer wieder tolle Comichelden entwerfen, die eine klare Motivation haben, einen nachvollziehbaren Hintergrund und einzigartige Facetten. Das macht sogar Spaß zu lesen, ohne die Bilder sehen zu können.
Sammys Meisterstück ist freilich „Der Eskapist“, ein Entfesselungskünstler der besonderen Art: Zwar steht er auch auf der Bühne mit seiner Kunst, vor allem aber ist sein Auftrag, Menschen aus ihren Fesseln zu befreien, sie aus ihrer Zwangslage zu holen oder ihnen Freiheit zu verschaffen. Der Eskapist ist der Befreier der Versklavten, Unterjochten und Verfolgten.
Dahinter steckt die zweite Hälfte von Kavalier & Clay, nämlich der Zeichner Joe Kavalier, der aus Prag stammt, Zauberer und Entfesselungskünstler werden wollte und die „feinen Künste“ an der Universität studiert hat, bis die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis den Juden Josef Kavalier zur Flucht gezwungen haben. Joes Mission ist die Rettung seiner Familie aus den Klauen der Nazis und gleichzeitig der Kampf gegen diese mit den Mitteln des Comics.
Das ist in vielerlei Hinsicht ein geniales Romankonzept, wofür Chabon zurecht den Pulitzerpreis erhalten hat. Denn mit der Figur des Eskapisten ist ein Wesensmerkmal von Comics Gestalt geworden, nämlich die Fähigkeit zur Immersion in eine Erzählwelt (was auch beim Lesen geschehen kann und heutzutage in der virtuellen Realität angestrebt wird). Häufig wird der Begriff „Wirklichkeitsflucht“ hierfür verwendet und sogar abschätzig gemeint, dabei ist die „Freiheit der Phantasie [..] keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung“ (Ionesco) oder gar – um es mit Kafka zu sagen: „Das ist Literatur. Flucht vor der Wirklichkeit.“
Joe Kavalier ist als Entfesselungskünstler ausgebildet und entfesselt sich aus der Umklammerung durch die Nazis, um später eine Figur namens „Der Eskapist“ zu kreieren. Genial. Oder um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: „Die Flucht vor der Wirklichkeit war in seinen Augen – besonders unmittelbar nach dem Krieg – eine würdige Aufgabe.“ (S. 733) Jos Wirklichkeit ist – wie die seiner jüdischen Zeitgenossen – eine zum Davonlaufenwollen. Die Comicfigur ist aber auch ein Erretter einer ganzen (auch amerikanischen) Generation von ihren Ängsten und Erfahrungen.
Neben der zum Teil tief in die Geschichte des Comics einsteigenden Geschichte dreht sich die Handlung um die beiden Cousins und eine Frau, Rosa Saks, und um das Drama der Familie Kavalier. Die Handlung wird durch die Setzungen der Zeitläufte (Krieg, Senatsanhörung gegen die Verführung Minderjähriger durch Comics) vornagetrieben und durch die Fahler der Protagonisten, die zwei Männer sind, „deren Lösungen ausnahmslos komplizierter oder extremer waren als die Probleme, die ihnen vorausgingen.“ (S. 711) Das ist nicht immer spannend, aber immer lesenswert, so dass am Ende schwer zu sagen ist, warum der Roman 811 Seiten hat.
Eine besondere Gestalt im Roman ist der Golem und gleichzeitig das Bindeglied zum Jüdischen der Geschichte. Zum einen ist der zum Leben erwachte Lehmkörper eine zutiefst mit dem jüdischen Prag verbundene Legende, weshalb seine Rettung vor den Nazis folgerichtig erscheint, zum anderen die die Geschichte des zum Leben erweckten, künstlichen Wesens, dessen Kräfte hilfreich sein sollen, eine Art Vorläufer zur Erfindung von hilfreichen Superhelden. Dass er sich in der ganzen Geschichte nicht abschütteln ließ, unterzieht den Roman mit einem mystischen Bedeutungsfundament.
Keine Angst vor 800 Seiten: Chabons Roman ist ein kluger, humorvoller, tiefsinniger und comic-nerdiger Schmöker.