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Veröffentlicht am 18.05.2021

Ein Lesehighlight 2021

Die Katzen von Shinjuku
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Seita Yamazaki ist ein Fernsehautor ohne Reputation, seine Wohnung gleicht einem Loch. Sein Lebensmut schwindet, er kommt sich nutzlos vor, weiß nicht, wohin er sich entwickeln kann. Dabei würde er gern ...

Seita Yamazaki ist ein Fernsehautor ohne Reputation, seine Wohnung gleicht einem Loch. Sein Lebensmut schwindet, er kommt sich nutzlos vor, weiß nicht, wohin er sich entwickeln kann. Dabei würde er gern Drehbücher schreiben für Film oder Theater. Den Tipp eines früheren Lehrers, während des Studiums die Kneipen von Golden Gai aufzusuchen, im Hinterkopf begibt er sich genau dorthin. Im Karinka, einem schlauchähnlichen Lokal, lernt er eine illustre Gruppe kennen. Von Dragqueen, Muskelmann und Rocker sind diverseste Charaktere vertreten. Mitten in dem bunten Haufen arbeitet Yume. Die schüchterne junge Dame steht am Grill, serviert Yakitori-Spieße und Hoppy, scheint Schiedsrichterin beim Miau-Jong, einer Katzenwette zu sein.

Vor diesem Hintergrund breitet Durian Sukegawa mit Witz und Charme die Probleme der Tokioer Gesellschaft aus. In der japanische Leistungsgesellschaft ist kein Platz für Menschen mit Einschränkungen, seien sie auch noch so geringfügig. Zudem wird ein unmenschliches Arbeitspensum verlangt, zwangsläufiges Scheitern ist die Basis für zusätzliches Bossing. Frauen können schnell in eine Unterdrückungssituation geraten. Der Autor bearbeitet allerdings nicht nur diese schweren Themen, sondern lässt die Geschichte von einer zarten Verliebtheit begleiten.

Sukegawa‘s Schreibstil ist eher nüchtern. Kurze, einfache Sätze schaffen Klarheit. Es gibt aber auch ganz wundervolle Formulierungen, wie zu Beginn auf Seite 6: „Es war das Ankämpfen gegen einen Lachanfall, als hüpften warme Bällchen in meinem Inneren.“ Solcher Wortwahl bin ich noch nie begegnet, trotzdem ist der Sachverhalt bzw. das Gefühl auf lautmalerische Weise sofort klar. Darüber hinaus reichert der Autor seinen Text mit einer Reihe von Gedichten an. Aus dieser Kombination aus überwiegend verkürzten Text und Gedichten entsteht für mich eine zarte, kunstvolle Poesie.

Ein Highlight wird dieser Roman für mich, weil auf faszinierende Art und Weise Haupt- und Nebengeschichte ineinandergreifen, ohne dass beschwerliche Komplexität notwendig wäre. Die Bedeutung der Katzen, zu der ich nichts weiter ausführen kann ohne zu spoilern, wird so feinsinnig herausgearbeitet, dass auch „Hundetypen“ wie ich, sehr geschmeidig in dieser Katzenwelt unterwegs sein können. Darüber hinaus wechseln sich eher stille Phasen im Roman mit Überraschungsmomenten ab, wodurch zu keinem Zeitpunkt Längen entstehen. So hat mir dieser Roman angefangen vom umschlagsfreien Cover mit der glänzenden, eleganten Katze auf wellengemusterten Grund von Seite zu Seite immer besser gefallen, so dass ich ihn ab der Mitte gar nicht mehr aus der Hand legen wollte.

Ganz klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 18.05.2021

Liebesgeschichte zwischen den Kulturen

Laudatio auf eine kaukasische Kuh
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Olga, Tochter georgischer Migranten, ist auf dem besten Weg, Ärztin zu werden. Ihren aktuellen Freund, Felix, ebenfalls Arzt, würde sie sogar heiraten, doch weiß sie noch nicht, wann und wie sie ihn ihren, ...

Olga, Tochter georgischer Migranten, ist auf dem besten Weg, Ärztin zu werden. Ihren aktuellen Freund, Felix, ebenfalls Arzt, würde sie sogar heiraten, doch weiß sie noch nicht, wann und wie sie ihn ihren, an Tradition festhängenden Eltern vorstellen soll. In diesem Szenario taucht plötzlich Jack auf, der Olga am Bahnhof sieht und sich auf den ersten Blick verliebt.

So entsteht sehr schnell eine etwas vorhersehbare Dreiecksbeziehung, die einerseits an Herzkino erinnert, andererseits an Motti Wolkenbruch mit vertauschten Geschlechterrollen. Der Mehrwert der Geschichte liegt für mich auch nicht in der amüsanten Liebesgeschichte, sondern eher in Olga‘s Familiensituation, der sie sich eigentlich mit ihrem mitteleuropäischen Leben entziehen will, der sie aber gleichzeitig vollkommen erlegen ist.

Es hat mir Spaß gemacht, die traditionellen georgischen Regeln für die Partnersuche kennen zu lernen oder besser gesagt die Regeln dort lebender, orthodoxer, griechischstämmiger Christen. Die Vielfalt der in Georgien Lebenden in Bezug auf originäre Herkunft, Glaube und Sprache ist wirklich beeindruckend. Interessant waren für mich auch die unterschiedlichen Blickwinkel auf die Sowjets und deren Nachfolger, dazu: wie wenig eigentlich notwendig ist, um mit kritisch betrachteten Bevölkerungsgruppen einen besonderen gemeinsamen Moment zu haben. Gut herausgearbeitet fand ich zudem die verschiedene Auslegung und den Umgang mit den ebendiesen Regeln ausgewanderten Georgier und Georgier in Georgien.

Mein liebster Charakter war Jack, obwohl ich solche Taschentrickspieler eigentlich gar nicht mag. Seine Energie, ein gesetztes Ziel zu erreichen, hat mich begeistert. Sicherlich hat er anfangs fernab aller Regularien unsauber und betrügerisch agiert, allerdings stets mit guter Absicht. Schließlich wollte er nur das Beste für Olga, verhindern, dass sie einen schlimmen Fehler begeht. Als er dann seine Chance bekam, hatte er plötzlich Zweifel, ob das wirklich berechtigt ist. Diese zwei Seiten hatten es mir angetan.

Vom Stil her ist die Laudatio eine Geradeausgeschichte mit angenehm lesbarer Schreibe, inhaltlich interessant, aber nicht zu komplex, in lange Kapitel gegliedert, aus meiner Sicht somit perfekt als Urlaubslektüre geeignet. Ich mochte den Roman sehr und empfehle ihn gern weiter.

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Veröffentlicht am 18.04.2021

Ausgezeichnet überzeichnete Lebenswirklichkeit

Der ehemalige Sohn
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Im letzten Jahr hatte ich mit Begeisterung „Rote Kreuze“ von Sasha Filipenko gelesen und fieberte nun der deutschen Übersetzung seines eigentlichen Debüts entgegen. Die im Klappentext angekündigte kritische ...

Im letzten Jahr hatte ich mit Begeisterung „Rote Kreuze“ von Sasha Filipenko gelesen und fieberte nun der deutschen Übersetzung seines eigentlichen Debüts entgegen. Die im Klappentext angekündigte kritische Auseinandersetzung mit dem autoritären Regime in Belarus ist dabei verwoben mit dem Schicksal eines Jungen, der nach zehn Jahren aus dem Koma erwacht.

Franzisk Lukitsch besucht in Minsk ein Lyzeum mit musischer Ausrichtung, lernt dort Cello, ist allerdings ein eher fauler, pubertärer Schüler, der immer kurz vor dem Rauswurf steht. Seine Großmutter versucht stets ihn anzutreiben und zu motivieren mit mäßigem Erfolg. Ihre ständige Angst, Franzisk könnte sich die Hände verletzen, erscheint nach der Massenpanik in der Minsker U-Bahn, in deren Folge Zisk ins Koma fällt, geradezu lächerlich. Doch ebendiese Großmutter, Elvira Alexandrowna, ist letztlich die einzige gute Seele, die sich auch im Koma weiterhin um ihn kümmert.

Mit Hilfe von Franzisks Besucher adressiert Sasha Filipenko seine Kritik am Staat. Teilweise kommt diese in den Handlungsweisen der Figuren zum Ausdruck, teilweise lässt er die Protagonisten direkt von den Missständen berichten. So entsteht nach der Einführung in das Geschehen eine unglaublich dichte Story, die für ein Menschenleben überladen erscheint. Mich stört das hier wenig, weil das Überladene zu meinem Gesamteindruck des Romans passt. Die lakonische, sarkastisch angehauchte Sprache überzeichnet viele Situationen. Dadurch wird das Hoffnungslose und die Machtlosigkeit gegenüber dem Regime noch deutlicher.

Man merkt aber auch, dass der vorliegende Roman das Erstlingswerk ist. Den ein oder anderen Übergang hätte ich mir etwas geschmeidiger oder besser erklärt gewünscht. Das war bei „Rote Kreuze“ aus meiner Sicht besser gelungen. Was mir hier ebenso gut gefällt, sind die passend eingestreuten Auszüge aus Gedichten. Dadurch wird eine schöne literarische Wirkung erzielt.

Trotz leichter Abstriche im direkten Vergleich zu „Rote Kreuze“ vergebe ich Bestnoten, da auch dieser Roman für mich ein uneingeschränktes Lesevergnügen war. Mit Witz und Charme wurde ein ernstes, eigentlich unerträgliches Thema behandelt, so dass ich nun auf noch ganz viele Leser*innen dieses Romans hoffe.

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Veröffentlicht am 07.04.2021

Politthriller vom Feinsten

Der Fall des Präsidenten
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Jahrelange Ermittlungsarbeit eröffnet dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) die Möglichkeit, den Ex-Präsidenten der USA, Douglas Turner, wegen seiner Kriegsverbrechen anzuklagen. Die Verhaftung des ...

Jahrelange Ermittlungsarbeit eröffnet dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) die Möglichkeit, den Ex-Präsidenten der USA, Douglas Turner, wegen seiner Kriegsverbrechen anzuklagen. Die Verhaftung des Ex-Präsidenten erfolgt während dessen Einreise nach Griechenland für einen Vortrags-Besuch in Athen. Die Protagonistin Dana Marin soll als Mitarbeiterin des ICC die Rechtmäßigkeit der Verhaftung bezeugen.

Direkt nach Bekanntwerden der Verhaftung bricht diplomatisches Chaos aus. Der im Wahlkampf befindliche amtierende US-Präsident kann keinen Skandal gebrauchen. Drohgebärden und Säbelrasseln folgen. Das Bestreben aller Beteiligter eine Klärung zu eigenen Gunsten ohne die Öffentlichkeit herbeizuführen, wird allerdings durch ein Video im Netz, das ebendiese Verhaftung zeigt, zunichte gemacht.

Die unterschätzte Öffentlichkeit schlachtet aus, was sie hat, recherchiert Hintergrundinformationen zu den Beteiligten. Schnell sind Wahrheit und FakeNews nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Eine Verleumdungskampagne gegen Dana und den ICC pusht zusätzlich die massenhaft geteilten Falschmeldungen. Unerwartet steht Dana im Fokus, von der beobachtenden Statistin wird sie fremdbestimmt zur Hauptfigur. All das mündet in einer unübersichtlichen Gefahrensituation für die ICC-Mitarbeiterin. Den beteiligten Staaten droht ein Teufelskreis aus Sanktionen und Gegenmaßnahmen.

In diesem Rahmen entwirft Marc Elsberg einen rasanten Politthriller. Nachdem im ersten Drittel die Situation und der umfängliche Kreis der Figuren vorgestellt wurden, beginnt ein Wettlauf um Informationsvorteil und Informationshoheit. In kurzen Kapiteln wechselt der Autor zwischen den einzelnen Gruppierungen, lässt die Leserschaft vorübergehend mit einem Cliffhanger zurück, um dann wenige Kapitel später wieder anzuknüpfen. So wird der Thriller mit jedem Kapitel spannender und schließt erwartungsgerecht mit einem Showdown ab. Alles dreht sich um die Frage: Hat Dana Marin in diesem Machtspiel David gegen Goliath, also gegen den Machtapparat der USA, überhaupt eine Chance?

Besonders gefallen hat mir Elsbergs die in die Handlung eingeflochtene Auseinandersetzung mit den Sozialen Medien. Deren Geschwindigkeit ist bahnbrechend, deren Wahrheitsgehalt kaum nachprüfbar. Dadurch lassen sich Meinungen beeinflussen, Menschen oder ganze Gruppierungen in eine bestimmte Ecke drängen. Entsprechende Mittel und ein paar Experten vorausgesetzt, ließen sich mit Sozialen Medien eigentlich funktionierende Demokratien auf die Probe stellen.

Abgerundet wird das Leseerlebnis durch ein einstündiges Streaming-Event, also ein Interview mit dem Autor, geführt von Dietmar Wunder, der auch das zugehörige Hörbuch eingesprochen hat. Es werden einige Details aus dem Buch genauer betrachtet, noch einmal bewusst hervorgehoben. Auch wenn hier nicht allzu viel verraten wird, sollte das Interview erst nachdem Lektüre angesehen werden, damit möglichst wenig Spannungspotential verloren geht.

Den Thriller fand ich sensationell, das Interview nochmal vertiefend interessant. Beides möchte ich allen Spannung-Liebenden ans Herz legen. Es lohnt sich.

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Veröffentlicht am 25.03.2021

Bewundernswertes Pflegekind

Das achte Kind
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Alem ist ein Junge mit drei Vätern und einer Mutter mit traditionellem Familienbild. Seine Mutter Smilja, träumte schon immer von einem besseren Leben, weswegen sie ihre Heimat Jugoslawien verlässt, um ...

Alem ist ein Junge mit drei Vätern und einer Mutter mit traditionellem Familienbild. Seine Mutter Smilja, träumte schon immer von einem besseren Leben, weswegen sie ihre Heimat Jugoslawien verlässt, um in Deutschland zu arbeiten. Dort lernt sie Emir, Alems Vater, kennen. Emir denkt gar nicht daran, einem geregelten Job nachzugehen, als Kleinkrimineller besorgt er sich das Geld, das er zum Feiern braucht. Damit sie Alem nicht mit dem unfähigen Vater allein lassen muss, gibt Smilja ihren Sohn in die Obhut einer deutschen Pflegefamilie.

Bei den Behrens, Marianne und Robert, wächst Alem gemeinsam mit den jüngeren Behrens-Kindern und weiteren Pflegekindern recht behütet auf. Die Pflegefamilie wohnt in einem schönen großen Haus mit Garten, warme Mahlzeiten gibt es mittags und abends. Jedes zweite Wochenende fährt er zur Mutter, die bald schon einen neuen Partner hat. Dort spielt sich fast das ganze Leben in einem einzigen Zimmer ab. Süßigkeiten und Fernsehen bestimmen jeweils den Aufenthalt. Jeden Sommer fährt Alem mit seiner Mutter zu den Großeltern nach Jugoslawien.

In der direkten Gegenüberstellung der unterschiedlichen Kulturen wird deutlich, wie stark verwachsen wir jeweils mit den traditionellen Ansichten unserer Vorfahren bzw. unserer eigenen Vergangenheit sind. Die Deutschen, Marianne und vor allem Robert, hängen noch immer dem Nationalsozialismus nach und verharmlosen den Holocaust. Sie sehen vordergründig das positive dieser Zeit, die eigene Jugend. Smilja emigriert zwar nach Deutschland, um sich ein besseres Leben zu erarbeiten, bleibt aber durch die Partnerwahl in ihrer jugoslawischen Blase hängen. Zudem scheint Smiljas Erziehung eine ihrerseitige Auflösung einer eingegangenen Beziehung nicht zuzulassen. Nach dem Tod Titos kommen auch unterdrückte Feindseligkeiten zwischen den jugoslawischen Volksgruppen zurück, spontan können Freundschaften nichtig werden. Alem hat diese Unzulänglichkeiten der verschiedenen Kulturen schon als Kind, später noch deutlicher als Jugendlicher spüren und wahrnehmen können. Durch seine Geschichte werden diese Denk- und Verhaltensweisen ins Bewusstsein der Leser*innen übertragen, die ihrerseits vielleicht einen Anstoß zur Reflexion ihrer eigenen Haltung erfahren.

Am Stil des Autors hat mir die Aufteilung in drei Bücher gefallen. Er lenkt den Fokus dadurch auf die jeweils im Vordergrund stehende Person. Gut war für diese Geschichte darüber hinaus, dass sie kontinuierlich im Zeitverlauf erzählt wurde. Das stilistisch Beste war für mich allerdings die gefühlvolle Sprache, die gleichzeitig frei von Schnulzigkeit war.

Da mich sowohl die Geschichte selbst als auch die Sprache fasziniert haben, empfehle ich den Roman gern weiter.

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