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Veröffentlicht am 02.05.2021

Alltagssexismus in Korea

Kim Jiyoung, geboren 1982
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Im Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“ von Cho Nam-Joo wird die Protagonistin zum Prototyp koreanischer Frauen. Wir verfolgen ihr Leben von der Geburt bis zum Jahr 2016, als sie erhebliche psychische Probleme ...

Im Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“ von Cho Nam-Joo wird die Protagonistin zum Prototyp koreanischer Frauen. Wir verfolgen ihr Leben von der Geburt bis zum Jahr 2016, als sie erhebliche psychische Probleme hat. Sie spricht mit der Stimme von Frauen aus ihrem Umfeld und aus deren Perspektive. Wie kam es dazu?
Das Mädchen hat eine ältere Schwester. Bei der nächsten Schwangerschaft treibt die Mutter ab, weil es wieder ein Mädchen wird. Danach wird ein Bruder geboren. Bei der Geburt eines Mädchens schämt sich eine koreanische Frau und entschuldigt sich bei ihrem Mann und ihren Schwiegereltern. Genauso wie z.B. in Indien oder China hat auch in Korea die gezielte Abtreibung von weiblichen Föten zu einem Ungleichgewicht zwischen Jungen und Mädchen geführt. Das ist aber erst der Anfang der Ungleichbehandlung. Jungen bekommen in der Familie die besten Teile einer Mahlzeit, während die Schwestern essen, was übrigbleibt, ggf. die Krümel. In der Schulkantine werden Mädchen als letzte versorgt, ihre Schuluniform ist strenger geregelt und unbequem. Auch mit guten Noten und Universitätsabschlüssen sind die Aussichten, eine Stelle zu finden, schlechter. Frauen verdienen deutlich weniger als Männer, werden oft lange nicht befördert und haben äußerst selten leitende Positionen. Ganz kritisch wird es, wenn eine berufstätige Frau ein Kind bekommt. Die koreanischen Arbeitszeiten machen eine Ganztagsbetreuung für ein Kind fast unbezahlbar. Den meisten Frauen bleibt nichts Anderes übrig, als Beruf und Karriereplanung aufzugeben, wenn Eltern und Schwiegereltern nicht einspringen können. Eine Frau, die sich nur noch um Haushalt und Kind kümmert, wird dann allerdings als Schmarotzerin beschimpft, weil sie sich auf Kosten ihres Mannes ein schönes Leben macht. Hinzukommt, dass sie sich auf der Straße und am Arbeitsplatz immer wieder gegen sexuelle Belästigung wehren muss, für die man ihr zu allem Überfluss auch noch die Schuld gibt. Kein Wunde, dass die Protagonistin mit 34 Jahren psychisch krank ist, hat sie doch von Anfang an gesehen, dass eine Frau in der koreanischen Gesellschaft weniger wert ist als ein Mann.
In ihrem sachlichen Bericht mit statistischen Daten und Fakten lässt die Autorin einen Psychiater zum Erzähler von Kim Jiyoungs Geschichte werden. Das Buch hat eine ungeheure Wirkung auf den Leser. Geringere Aufstiegschancen und ungerechte Bezahlung von Frauen gibt es überall, auch bei uns, aber so krass wie die hier dargestellten Verhältnisse ist es dann doch nicht. Mit am schockierendsten finde ich die Ungleichbehandlung von Geschwistern in den Familien.
Ich habe den Roman mit großem Interesse gelesen und empfehle ihn gern weiter.

Veröffentlicht am 02.05.2021

Ein Junge kämpft für seine Ziele

Der Junge, der das Universum verschlang
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Die Brüder Eli, 12 und August Bell, 13 leben in Darra, einem Vorort von Brisbane, Australien. Die Handlung setzt Mitte der 80er Jahre ein. Zu diesem Zeitpunkt weiß Eli noch nicht, dass dies die letzten ...

Die Brüder Eli, 12 und August Bell, 13 leben in Darra, einem Vorort von Brisbane, Australien. Die Handlung setzt Mitte der 80er Jahre ein. Zu diesem Zeitpunkt weiß Eli noch nicht, dass dies die letzten glücklichen Augenblicke seiner Kindheit sind. Die Lebensumstände der Familie sind schwierig. Die Mutter hat den Vater, einen Alkoholiker, Jahre zuvor verlassen. Lyle Orlik, der neue Partner der Mutter, ist Heroindealer, und die Mutter ist drogenabhängig. Die Brüder stehen einander sehr nahe und verstehen einander ohne Worte. Das ist auch nötig, weil sich August weigert zu sprechen. Stattdessen malt er rätselhafte Botschaften in die Luft. Elis bester Freund ist der verurteilte Mörder Arthur “Slim“ Holliday, der für seine Ausbrüche aus dem berüchtigten Boggo Road-Gefängnis berühmt wurde. Die Lage spitzt sich für die Jungen dramatisch zu, als Lyle zwischen die Fronten von rivalisierenden Drogenbanden mit asiatischen Wurzeln gerät und spurlos verschwindet und die Mutter zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird. Sechs Jahre später kämpft Eli noch immer für sein Ziel, Journalist zu werden. Er verliebt sich in eine ältere Journalistin und geht unbeirrt seinen Weg.
Daltons Roman ist eine etwas andere Coming-of-Age Geschichte, die zum Teil autobiografisch ist. So ist das geheime Zimmer mit dem roten Telefon im Elternhaus der Jungen keine Erfindung des Autors. Ungewöhnlich sind auch die mystischen Elemente wie die selbstgewählte Sprachlosigkeit des älteren Bruders, der Eli immer beschützt. Mir hat der umfangreiche Roman gut gefallen, auch und wegen seiner poetischen Sprache und einiger skurriler Begebenheiten. Eine empfehlenswerte Lektüre.

Veröffentlicht am 29.04.2021

Flug 2977 und seine Folgen

Der Morgen davor und das Leben danach
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In Ann Napolitanos neuem Roman „Der Morgen davor und das Leben danach“ überlebt der 12jährige Edward als einziger eine Flugzeugkatastrophe, bei der 191 Menschen sterben, darunter auch seine Eltern und ...

In Ann Napolitanos neuem Roman „Der Morgen davor und das Leben danach“ überlebt der 12jährige Edward als einziger eine Flugzeugkatastrophe, bei der 191 Menschen sterben, darunter auch seine Eltern und sein geliebter Bruder Jordan. Als seine Verletzungen geheilt sind, wird Edward von seinem Onkel John und seiner Tante Lacey aufgenommen. Von Anfang an steht ihm seine ebenfalls 12jährige Nachbarin Shay bei. Lange Zeit verdrängt er Erinnerungen und Gefühle und weigert sich, sich mit der Katastrophe auseinanderzusetzen. Allmählich begreift er, dass er Verlust und Trauer nur überwinden und ein normales Leben führen kann, wenn er sich dem Erlebten stellt. Einige Zeit später finden Edward und Shay in einer nicht genutzten Garage zwei Säcke mit Briefen von Hinterbliebenen an Edward, in denen Bitten geäußert und Anweisungen für sein späteres Leben erteilt werden. Nach dem ersten Schock erweisen sich die Briefe als große Hilfe. Edward wird Mittel aus einer riesigen Geldspende dazu verwenden, anderen anonym zu helfen oder ihnen einen Lebenswunsch zu erfüllen.
Die Autorin wählt eine raffinierte Zeitstruktur, indem sie die Stunden vor dem Unglück und die Zeit danach erzählt. So kommen die Geschichten und Lebensentwürfe von einer Handvoll Passagieren und der Flugbegleiterin Veronica zur Sprache, wobei dem Leser in jedem Augenblick klar ist, dass alle Planungen nichtig sind, dass die Katastrophe unaufhaltsam ist. Der Roman gewinnt durch den Kontrast des Davor und Danach Spannung. Ann Napolitano gelingt es, sechs Jahre in Edwards Leben ohne Larmoyanz nachvollziehbar zu machen und zu zeigen, dass das Unglück ihrer aller Leben für immer verändert hat: Edwards, das von Onkel und Tante ebenso wie das der Nachbarin Besa und ihrer einfühlsamen Tochter Shay. Positiv anzumerken ist, dass ist die Geschichte zu keiner Zeit kitschig oder unerträglich traurig ist. Ein empfehlenswerter Roman.

Veröffentlicht am 09.04.2021

Der Mann mit dem geheimen Leben

Jaffa Road
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In einer Villa in Palermo treffen nach dem Tod des Fotografen Moritz Reincke drei Personen zusammen, um mit dem Notar zusammen die Erbangelegenheiten zu regeln: die Enkelin Nina aus Berlin, deren Mutter ...

In einer Villa in Palermo treffen nach dem Tod des Fotografen Moritz Reincke drei Personen zusammen, um mit dem Notar zusammen die Erbangelegenheiten zu regeln: die Enkelin Nina aus Berlin, deren Mutter von Moritz schwanger wurde, kurz bevor dieser als Wehrmachtsfotograf in Tunis zum Einsatz kam, Joelle, eine jüdische Sängerin aus Paris, Tochter seiner Ehefrau Yasmina, und der Palästinenser Elias, von dessen Existenz die beiden Frauen nichts wussten. Der Roman erzählt eine Familiengeschichte über drei Generationen mit Zeitsprüngen und vielen Schauplätzen - Berlin, Tunis, Haifa, Jaffa, Palermo, München, Frankfurt - vor dem Hintergrund des Nahost-Konflikts. Bei der Darstellung der Ursachen des Konflikts zeigt sich, dass der Autor gründlich recherchiert hat. Dem Leser wird sehr deutlich. was die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 nach der Teilung Palästinas, der Vertreibung und Enteignung der Palästinenser durch einen juristischen Trick für die Betroffenen bedeutete. Die sogenannten Abwesenden, die natürlich nicht zurückkehren durften, wurden problemlos enteignet und ihr Besitz den Juden zugesprochen. Flucht und Vertreibung, ein Leben in Armut und unter ständiger Bedrohung werden sehr anschaulich geschildert. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die Aktivitäten der Geheimdienste und der verschiedenen Terrororganisationen. Es gab Flugzeugentführungen mit zahlreichen Toten, durch die Gefangene freigepresst wurden.
In diesen gefährlichen Zeiten wird Moritz Reincke zum italienischen Juden Maurice Sarfati. Seine deutschen Wurzeln muss er lange Zeit verbergen. Auch sonst ist sein Leben ein einziges Geheimnis. Seine Erben erzählen sich ihre Geschichte, vor allem die Geschichte ihrer Mütter, und dadurch kommt die Wahrheit allmählich ans Licht.
Der sehr umfangreiche Roman ist nicht frei von Längen, aber hochinteressant und über weite Strecken spannend und berührend. Mir hat dieser Roman gut gefallen, weil der Autor gekonnt Familien- mit Zeitgeschichte verbindet.

Veröffentlicht am 05.04.2021

Ein nicht enden wollender Konflikt

Der Abstinent
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Ian McGuires Roman „Der Abstinent“ spielt in England im Jahr 1867. Der irische Polizist James O´Connor wurde auf Grund seines für seine Dienststelle in Dublin untragbaren Fehlverhaltens nach Manchester ...

Ian McGuires Roman „Der Abstinent“ spielt in England im Jahr 1867. Der irische Polizist James O´Connor wurde auf Grund seines für seine Dienststelle in Dublin untragbaren Fehlverhaltens nach Manchester versetzt. Er hatte zuerst seinen kleinen Sohn, dann seine Frau Catherine verloren und war zum Alkoholiker geworden. In Manchester soll er Kontakt zu Spitzeln halten, die die Fenians, die Kämpfer für die irische Unabhängigkeit ausspionieren, um so möglichst blutige Attentate zu verhindern. Als Auftakt wird dem Leser die grausame Hinrichtung von drei Freiheitskämpfern geboten, die den Tod eines Polizisten verschuldet hatten. Wie O´Connor zu Recht vermutet, werden die Hingerichteten als Märtyrer verehrt und ihr Tod kann nur weitere Gräueltaten nach sich ziehen. Die englische Polizei erwartet einen amerikanischen Bürgerkriegsveteran mit irischen Wurzeln, der die Fenians vor Ort unterstützen soll. Stephen Doyle, ein grausamer Killer, wird zu O´Connors gefährlichem Gegenspieler.
Die Romanhandlung zeigt die stetige Eskalation dieses anscheinend unlösbaren Konflikts, der noch ein Jahrhundert später während der Troubles genannten bürgerkriegsähnlichen Unruhen blutig fortgeführt wird. O´Connor wird zunehmend zur Zielscheibe. Als Ire war er nie wirklich in die Truppe integriert. Man begegnet ihm mit Ablehnung und Misstrauen und beschimpft ihn bei Fehlschlägen gern als Verräter, denn als Ire muss er ja wohl mit den Fenians sympathisieren. Am Ende macht er sich auf eigene Faust auf die Suche nach Doyle und gerät in große Gefahr. Das Ende kam für mich überraschend, und ich empfand es nicht als befriedigend. Dennoch ist dieser Rachethriller eine spannende Lektüre, die ich empfehlen kann. Der Roman ist so aufgebaut, dass eine Hollywood--Verfilmung nicht lange auf sich warten lassen wird.