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Veröffentlicht am 06.05.2021

alles dosha?

Heilsam kochen mit Ayurveda
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Beim Kochen und Essen gehe ich zwar oft und gerne Experimente ein aber ganz ehrlich, bei den Begriffen ayurvedisch und heilsam bin ich dann doch erst mal zurückgezuckt. Da dachte ich erst mal an Berichte ...

Beim Kochen und Essen gehe ich zwar oft und gerne Experimente ein aber ganz ehrlich, bei den Begriffen ayurvedisch und heilsam bin ich dann doch erst mal zurückgezuckt. Da dachte ich erst mal an Berichte von Kolleginnen über Detox-Kuren, bei denen der Tag mit Zungenschaben und Darmspülung begann. Klang irgendwie nicht so wie Urlaub, den ich meine.

Andererseits: ich liebe asiatische Küche und bin überzeugt, dass der ganzheitliche Ansatz traditioneller chinesischer Medizin, von Yoga und ähnlichen Traditionen auf lange und erfolgreiche Erfahrung zurückblicken können. Und Gesundheit spielt für mich bei der Ernährung eine ganz wesentliche Rolle.

In "Heilsam kochen mit Ayurveda" haben sich mit dem Mediziner Dietrich Grönemeyer und dem Ernährungsberater Volker Mehl zwei Autoren zusammengetan, die auf Ganzheitlichkeit setzen. Zunächst einmal gibt es ordentlich Theorie: Die Doshas im Lauf der Jaheszeiten, die Bioprinzipien des Ayurveda, wo der Tag in sechs Zeitabschnitte eingeteilt wird, das Gleichgewicht von Vata, Pitta und Kapha im menschlichen Körper. Klingt erst mal kompliziert, ist aber durchaus nachvollziehbar. Dass je nach Tages- und Jahreszeit Allgemeinbefinden und Stoffwechsel ganz unterschiedlich sein können, hat schließlich jeder von uns schon gemerkt.

Die Auflistung verschiedener Lebensmittel nach ihren jeweiligen Vitalstoffen und ihrer Bedeutung für den Körper ist sicherlich allen vertraut, die sich schon mal mit "Superfoods" auseinandergesetzt haben oder der Frage, welche Lebensmittel etwa bei einer Ernährungsumstellung besonders gut für den Organismus sind. Überraschung: Auch unter ayurvedischen Gesichtspunkten kommt man bei Fenchel oder Heidelbeere, Hirse oder Spinat zu ähnlichen Ergebnissen.

Kohlenhydrate sind in diesem Buch kein no-go wie in manch anderem Ernährungsratgeber, Hirse, Dinkel, oder Gerste sind im Rezeptteil sowohl in süßer wie herzhafter Form vertreten. Einen Satz wie: Wir möchten Sie animieren, mit vielen Gewürzen zu experimentieren muss man mir auch nicht zweimal sagen. Geschmacksnerven zum Leuchten bringen? Aber hallo, da bin ich doch gerne dabei. Ungewohnt ist dagegen die Vorstellung, dass die erste Mahlzeit des Tages warm und leicht verdaulich sein soll. der Becher schwarzen Kaffees, an dem ich morgens nippe, ist damit offenbar nicht gemeint. Wobei die Aprikosen Kokos-Graupen mit gerösteten Graupen, das herzhafte Hirse-Kichererbsen Frühstück oder die Dattelpfannkuchen mit Birnen-Kokos-Kompott zwar deutlich aufwändiger klingen als alles, was ich mir so zum Frühstück mache, aber auch ausgesprochen lecker . Schon allein die Bilder der Gerichte machen Lust aufs Kochen und Schmecken.

Werde ich künftig ayurvedisch in den Tag starten? Der Morgenmuffel in mir ist da ein bißchen skeptisch. Aber die Gerichte, die ich schon ausprobiert habe, haben mich wirklich überzeugt. Die leichten Mittagessen sind auf jeden Fall etwas für mich, wie etwa der kross gebratene Blumenkohl mit karamelisierten Zwiebeln und Kräuterquark - seeehr lecker! und auch das Curry-Zuckerschoten-Risotto trifft ganz meine Geschmackslinie. Oder, um ein Beispiel des leichten ayurvedischen Abendessens zu nehmen: Süßkartoffelstampf mit Spinat, Ziegenfeta, Radieschen und Pinienkernen.

Ich kann wirklich sagen, dass es kaum ein Rezept in diesem Buch gibt, bei dem ich keine Lust zum ausprobieren habe, mal abgesehen vom rote Bete-Süppchen usw. Sonst aber bin ich von den Möglichkeiten begeistert, für die auch nicht erst ein shopping-trip in ein Spezialitäten-Lebensmittelgeschäft nötig ist. Für mich steht fest, dass so manches davon auch bei mir auf den Tisch kommt. Möglicherweise nicht immer zu den Zeiten, die das Ayurvedaprinzip dafür vorsieht.

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Veröffentlicht am 14.04.2021

Von Recht und Gerechtigkeit

Die Wahrheit der Dinge
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Schuld, Gerechtigkeit und irgendwo dazwischen steht das Gesetz. In Markus Thieles Justizroman "Die Wahrheit der Dinge" geht es um einen Richter in privater und beruflicher Krise, den Vorsitzenden einer ...

Schuld, Gerechtigkeit und irgendwo dazwischen steht das Gesetz. In Markus Thieles Justizroman "Die Wahrheit der Dinge" geht es um einen Richter in privater und beruflicher Krise, den Vorsitzenden einer Strafkammer, der plötzlich an sich und seiner Urteilsfähigkeit klagt, während sein jüngstes Urteil nicht nur eine mögliche Revision durch den Bundesgerichtshof, sondern auch eine Familienkrise heraufbeschwört.

Es wäre das fünfte Urteil, das der BGH kippt - für Frank Petersen ein Grund, plötzlich alles zu hinterfragen. Ist er voreingenommen, wie seine Frau es ihm vorwirft? soll er erst einnal eine gesundheitlich begründete längere Auszeit nehmen, wie seine Gerichtspräsidentin ihm vorschlägt?

"Die Wahrheit der Dinge" ist kein Justizthriller a la Grisham, wie ja auch ein Strafprozess in einem deutschen Gerichtssaal nicht dem Schlagabtausch wie in den USA oder in Großbritannien gleicht, wo die Prozessbeteiligten eine Gruppe Geschworener von ihrer Sichtweise überzeugen müssen. In einer Strafkammer, in der die professionellen Richter die Mehrheit haben, geht es deutlich spröder zu - auch wenn die Fälle spektakulär sein können. Der Autor ist selbst Rechtsanwalt - mit den Fragen um Schuld und Sühne kennt er sich also ebenso aus wie mit dem Ringen um die Wahrheit vor Gericht. In diesem Buch liegt der Schlüssel zu den großen Fragen oft in den kleinen Einzelheiten - und im Hinterfragen der eigenen Person, wie Petersen lernen muss.

"Unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen" soll das Urteil sein, dass ein Richter im Namen des Volkes spricht. In einem wenige Jahre zurückliegenden Fall Petersens hatte die Kammer diese Möglichkeit nicht. Denn am Tag der Urteilsverkündung, dem Tag des letzten Wortes des Angeklagten hat die Nebenklägerin eine Waffe gezogen und den Mann, dem die Schuld am Tod ihres Sohnes vorgeworfen wurde, erschossen.

"Es war geschehen, was niemals geschehen durfte, eine Situation, die auf Anhieb tausend Fragen aufwarf. Doch so unvorstellbar und belastend diese Minuten auch waren, an ihn, den Vorsitzenden der großen Schwurgerichtskammer, stellte man Erwartungen, auch in einem solchen Moment. Er war der Chef, er musste Entscheidungen treffen", erinnert sich Petersen an einer Stelle des Buches an den blutigen Zwischenfall.

Corinna Maier, die Frau, die den Mörder ihres Sohnes erschoss, wurde wegen Totschlags verurteilt. Als sie entlassen wird, holt Petersen sie im Gefängnis ab. Nicht nur, um ihr das Spießrutenlaufen durch die vor dem Gefängnistor wartenden Kamerateams zu ersparen. Mit diesem Fall, so schildert er der Gefängnisdirektorin, sei der Zweifel gekommen, nichts habe mehr Gültigkeit. Meine Urteile sind Mist, mein Sohn spricht nicht mehr mit mir, und jetzt ist mir auch noch die Frau davongelaufen."

Doch bis sich ein zerbrechliches Vertrauen und ehrliches Gespräch zwischen Petersen und Maier, einer verschlossenen und verbitterten Frau, aufbaut, dauert es. Die Suche nach der Wahrheit ist hier nicht allein Sache eines Gerichtsverfahrens, sondern auch im Zwischenmenschlichen - zwischen Petersen und Corinna Maier, aber auch zwischen dem Richter und seiner Frau, seinen Kollegen und nicht zuletzt sich selbst gegenüber.

Das Buch verläuft auf zwei Zeitebenen - in der Gegenwart geht es um den Richter in der Krise, in der Vergangenheit seit 1989 um das Leben der Medizinstudentin Maier, die sich in einen schwarzen südafrikanischen Doktoranden Steve verliebt. Sie träumen von einer gemeinsamen Zukunft, die sie auch die Trennung überstehen läßt, als ihr Freund an einer Außenstelle der Charité in Eberswalde forschen kann. Doch wenige Tage vor der Geburt des gemeinsamen Sohnes gerät er mit zwei anderen Afrikanern in die Hände eines Mobs von Rechtsextremisten, die "Neger klatschen" wollen. Einer springt mit seinen Springerstiefeln auf den Kopf des schon am Boden Liegenden. Steve stirbt nach mehreren Tagen im Koma - der Fall erinnert an Amadeu Antonio Kiowa, der 1990 in Eberswalde eines der ersten Opfer rassistisch motivierter Gewalt in Deutschland wurde.

Nach Steves Tod hat Corinna ihr Medizinstudium aufgegeben, lebt als alleinerziehende Mutter prekär, macht sich zunehmend Sorgen um ihren Sohn und seine ungeklärten Geldquellen. Bis eines Tages die Polizei vor der Tür steht - Jo sei unter verdächtigen Umständen an einer Überdosis Heroin gestorben, die ihm wohl gewaltsam verabreicht worden sei. Wie es dazu kam, erschließt sich allmählich, während immer wieder auch Petersen Rechtfertigungsversuche für sein eigenes Verhalten im Prozess unternimmt.

Unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sollen Richter entscheiden, doch im Fall gegen die Mörder von Steve standen die Richter unter dem Einfluss der Angst, die die Freunde des Angeklagten, im Prozesssaal verbreiteten. War diese Erfahrung, die Beschimpfung als "Negerschlampe", die Enttäuschung über ein vergleichsweise mildes Urteil der Auslöser für Mayers spätere Tat?

"Die Wahrheit der Dinge" erzählt eher spröde, still und unspektakulär, doch es geht um die großen Fragen von Schuld und Gerechtigkeit. Der Fall der Selbstjustiz übenden Mutter ist ebenfalls an die wahre Geschichte von Marianna Bachmeier angelehnt, die den Mörder ihrer kleinen Tochter erschoss. Indem der Autor den Justizroman in einen Zusammenhang mit rechtsextremistischer Gewalt und strukturellem Rassismus rückt, erfährt er noch zusätzliche Aktualität.

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Veröffentlicht am 11.04.2021

Detroit Noir

Der gekaufte Tod
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Mit seinem Buch "Der gekaufte Tod" hat Stephen Mack Jones für mich einen Krimi mit Wow-Effekt geschrieben: Tough und hart, doch zugleich mit Wärme und Menschlichkeit, mit einem interessanten Protagonisten ...

Mit seinem Buch "Der gekaufte Tod" hat Stephen Mack Jones für mich einen Krimi mit Wow-Effekt geschrieben: Tough und hart, doch zugleich mit Wärme und Menschlichkeit, mit einem interessanten Protagonisten und einem Plot, in dem es um Korruption, Machtmissbrauch und den drohenden Untergang einer Stadt geht, ohne zu beschönigen oder zu resignieren. Geschrieben in einem lakonischen Stil, der manchmal von düsterer Poesie durchsetzt ist, ein Krimi Noir, der Schablonen vermeidet und atmosphärisch dicht ist, dazu spannend bis zum Schluss.

In einer Stadt, aus der die wohlhabenden Weißen fliehen und in der sich die Latinos und die Afroamerikaner nicht gegenseitig über den Weg trauen, ist August Octavio Snow ungewöhnlich: Die Mutter stammte aus Mexiko, der Vater ein schwarzer Cop, der aus dem tiefsten Süden stammte und sich den Respekt der Nachbarn in Mexicantown erwarb.

Auch August wurde nach seinem Dienst bei den Marines in Afghanistan Polizist, doch das ist Vergangenheit. Nach seiner Klage gegen seine Entlassung - er ermittelte gegen korrupte Kollegen bei der Polizei und in der Politik - ist er zwölf Millionen Dollar reicher und kehrt nach einem Jahr auf Reisen zurück in seine Geburtsstadt und nach Mexicantown in das Haus, in dem er aufgewachsen ist. Inzwischen hat er hier nur noch die Gräber seiner Eltern.

Kurz darauf bittet ihn die Großunternehmerin Eleanor Padget, Vorkommnisse in ihrer Bank zu untersuchen. Das lehnt Snow up. Wenige Tage später ist die Frau tot, angeblich Selbstmord. Snow allerdings will nicht daran glauben. Ohne Auftrag oder Polizeimarke ermittelt er auf eigene Faust, versucht, über einen Hacker herauszufinden, ob etwas an der Bank verdächtig ist. Schnell stellt er fest, dass sowohl der CEO der Bank als auch FBI und Polizei nicht glücklich sind über seine Schnüffelei. Snow wird bald klar, dass er in mehr als ein Wespennest gestochen hat - und nicht nur sein Leben ist bald in Gefahr.

Mit einem alten Freund und einem Ex-Soldaten, der noch seine Rolle im zivilen Leben sucht, muss sich Snow gegen Widersacher wehren und das Leben von Eleanore Padgets Tochter schützen. Gewissermaßen als Schwert in Gottes linker Hand, wie es an einer Stelle heißt. Wobei Snow auch im Rechtschaffenheit bemüht ist, das Viertel seiner Kindheit nicht aufgeben und Gangs und Drogen überlassen will. Ein jugendlicher Kleinkrimineller wird zu einem Projekt für ein anderes Leben und auch die mexikanische Familie mit problematischem Aufenthaltstatus beschäftigt den Ex-Polizisten.

Es passt irgendwie, dass der große Showdown diese Detroit noir-Krimis ausgerechnet zwischen den katholischen Feiertagen Allerheiligen und Allerseelen stattfindet. Die Noche de los muertes, in der die Mexikaner ihrer Toten gedenken, an den Gräbern das Leben feiern, ist hier eine Nacht, in der vieles enden kann.

Stephen Mack Jones nimmt seine Leser mit auf eine tour de force durch Detroit, mit immer wieder neuen Wendungen, mit reichlich Gewalt aber auch einer Perspektive einer gewissen Hoffnung. Und ich hoffe definitiv, mehr von diesem Autor zu lesen.

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Veröffentlicht am 08.04.2021

Ein Land im Koma

Der ehemalige Sohn
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Menschen, die jahrelang im Koma lagen, müssen sich, sollten sie aufwachen, an vieles Neue gewöhnen - Technologien haben sich weiterentwickelt, die Gesellschaft hat sich verändert. Nicht so im Fall von ...

Menschen, die jahrelang im Koma lagen, müssen sich, sollten sie aufwachen, an vieles Neue gewöhnen - Technologien haben sich weiterentwickelt, die Gesellschaft hat sich verändert. Nicht so im Fall von Franzisk, dem Protagonisten von Sasha Filipenkos Roman "Der ehemalige Sohn". Das Belarus, in dem Franzisk nach zehn Jahren im Koma als 26-jähriger aufwacht, erinnert eher an die Sowjetrepublik seiner Kindheit. Eine eingefrorene, erstarrte Gesellschaft, ein Land, das selbst komatös erscheint. Die Zeit scheint stehengeblieben.

Filipenko hat mich als Autor bereits mit seinem Roman "Rote Kreuze" beeindruckt über die Freundschaft zwischen einem jungen alleinerziehenden Vater und einer unter Demenz leidenden alten Frau, die ihre Erinnerungen an die Schrecken des Stalinismus weitergeben will. "Der ehemalige Sohn" stammt zwar aus dem Jahr 2014, ist aber angesichts der Ereignisse in Belarus und der Betrachtungen über das Regime des Langzeitpräsidenten Lukaschenko - der im Buch nicht namentlich genannt wird - hochaktuell.

"Der ehemalige Sohn" erzählt die Geschichte von Franzisk, der von seiner resoluten Großmutter aufgezogen wird und in einer Unterführung in eine Massenpanik gerät. Zehn Jahre liegt er im Koma, die Ärzte haben ihn schon längst aufgegeben, selbst die eigene Mutter ist weitergezogen, hat ausgerechnet den Chefarzt der Klinik geheiratet und eine neue Familie gegründet. Nur die Großmutter kämpft unermüdlich um die lebenserhaltenden Maßnahmen für Franzisk, besucht ihn ständig, spricht zu ihm. Das Wunder erlebt sie nicht mehr: Franzisk erwacht einen Tag nach ihrem Tod aus dem Koma, erholt sich überraschend schnell, auch wenn er anfangs wie als Symbol der Desorientierung ein Gemisch aus Russisch und Weißrussisch spricht.

Ein Schulfreund versucht, ihn up to date zu bringen - doch je mehr er erzählt, desto weniger versteht Franzisk: "Wahrscheinlich war es besser, im Westen aus dem Koma zu erwachen. In einem kleinen Land, wo alles klar und vernünftig war. Wo die Ereignisse der Logik entsprachen und dem jahrhundertelangen Lauf der Dinge. Was Stass erzählte, war nicht annehmbar, nicht begreifbar. Das wollte alles nicht in seinen Kopf hinein."

Im Hof von Franzisks Wohnhaus spielen die Kinder "Proteste zerschlagen". Die Polizei hat selbst dem im Koma liegenden Fingerabdrücke genommen für den Fall, dass er sich an einer Oppostionskundgebung teilgenommen hat.

Eine der eindrücklichsten und so sehr an das aktuelle Belarus erinnernden Szenen schildert die Teilnahme der Freunde an einer Oppositionskundgebung, an den Moment der Hoffnung, dass das Land erwacht ist, dass sich doch etwas geändert hat: "Es würde schrecklich werden, aber nicht hinzugehen war keine Option, es war zu spät für einen Rückzug. Das Volk musste der Staatsmacht um jeden Preis zeigen, dass es unzufrieden war, dass sie nichts mehr gemeinsam hatten und es Zeit für eine Trennung war." Es ist ein Demonstrationszug, der selbst die Führer der Opposition überrascht "in diesen verängstigten, an die Wand gefahrenen, in die Ecke gedrängten Land". Und gewiss - der Traum vom Wandel wird brutal zerschlagen.

Mit viel bitterem Humor hat Filipenko sein Buch geschrieben. Belarus ist ein Opfer seiner Geschichte und seiner geografischen Lage, die Geschichte scheint im Kreis zu verlaufen und von der Geopolitik dominiert zu werden. Die postsowjetische Gesellschaft erinnert noch stark an die Zeiten des Imperiums und jeder, der die Welt der östlichen Seite des "Eisernen Vorhangs" erlebt hatte, erkennt vieles wieder. Statt dessen sind neue Formen von Korruption und Ausnutzung hinzugekommen, wie die Beispiele der blutjungen Frauen mit westlichen "Verehrern" zeigen, ob es sich nun um westliche Sextouristen oder Mitarbeiter westlicher Botschaften handelt.

Für Franzisk, der erleben muss, dass selbst in der eigenen Familie sein Platz weitervergeben wurde und er angesichts der Prinzenrolle des kleinen Halbbruders nur noch der ehemalige Sohn ist, bleibt als einziges Ziel die Auswanderung, zu den deutschen Eltern, die seinerzeit angeblich verstrahlten Kindern aus Tschernobyl in den Sommerferien Erholung boten. Seine Erkenntnis: Ein Koma reicht.

Mit "der ehemalige Sohn" hat Filipenko ein Buch geschrieben, das zwar wenig der historischen Hintergründe von Belarus (die in einem Nachwort der Übersetzerin erläutert werden) schildert, aber gewissermaßen Alltag und Seele der Gesellschaft beschreibt. Für Leser, die sich auch für die aktuelle Situation in dem Land interessieren, eine ebenso spannende wie wichtige Lektüre.

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Veröffentlicht am 20.03.2021

Liebenswerter Antiheld auf Vatersuche

Die Erfindung der Sprache
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Es wimmelt nur so von Sprachbildern, literarischen Anspielungen und Exzentrik in Anja Baumheiers Roman "Die Erfindung der Sprache", geschrieben mit einem großen Herz für Exzentriker (und Katzen) mit viel ...

Es wimmelt nur so von Sprachbildern, literarischen Anspielungen und Exzentrik in Anja Baumheiers Roman "Die Erfindung der Sprache", geschrieben mit einem großen Herz für Exzentriker (und Katzen) mit viel grüner Hoffnungsfarbe. Eine Familiengeschichte der anderen Art mit einem sympathischen Antihelden und zahlreichen skurril-sympathischen Figuren. Das fängt schon an mit der Familie von Adam Riese, des hochintelligenten, aber ein wenig weltfremden Sprachforschers, der mit der ganz normalen zwischenmenschlichen Kommunikation so seine Probleme hat.

Denn Großvater Ubbo ist ein bergsteigerbegeisterter Ostfriese, der in der Heimat naturgemäß wenige Höhen vorfindet. Bei einer Reise ins böhmische Altvatergebirge lernt der gelernte Bäcker die backbegeisterte Leska kennen und lieben. Auf der fiktiven ostfriesischen Insel Platteoog, die einer ausgestreckte Katze ähnelt. Mit wenigen Einwohner, die alle ihre liebenswerten Macken haben, erinnert Platteoog ein wenig an Lummerland, wenn es statt zwei Bergen auch einen Leuchtturm gibt, der stark restaurierungsbedürftig ist - was wiederum Hubert Riese auf die Insel kommt. der sich ähnlich aprupt in Ubbos und Leskas Tochter Oda verliebt wie einst die beiden ineinander.

Adam, lange Zeit einziges Kind der Insel, kommt zwar als Frühchen auf die Welt und weigert sich lange zu sprechen, sonst aber ist alles lange Zeit Friede, Freude, Eierkuchen auf Platteoog. Bis Hubert eines Tages beschließt, auf dem Jakobsweg zu pilgern, aber nie zurückkehrt. Die Inselpolizistin forscht bei der Guardia Civil nach, der Inseldoktor bei spanischen Krankenhäusern, die Gebete des Inselpfarrers bleiben unerhört - und Oda verstummt irgendwann vor lauter Trauer. Was besonders problematisch ist, da sie auf dem Festland ausgerechnet die Ratgebersendung "Sprich dich frei" moderiert.

18 Jahre später ist Oda immer noch stumm und Adam promovierter Linguist in Berlin, ein Mann, der nur Grau trägt und Routine braucht, so sehr seine temperamentvolle, tschechisch-deutsch radebrechende Großmutter auch versucht, ihn zu Speed-Dating zu überreden. Dann kommt ein alarmierender Anruf: Seit einem Besuch in einer Buchhandlung ist "Lage dramatisches Drama" - Oda weigert sich nun nicht nur zu sprechen, sondern auch zu essen.

Einziger Anhaltspunkt: Das Buch einer gewissen Zola Hübner scheint Oda so traumatisiert zu haben. Adam recherchiert und findet eine Göttinger Logopädin, aus deren Leben sein Vater zwischenzeitlich ebenfalls entschwunden ist. Mit Zola, die einer Lisbeth Salander mit mehr Sozialkompetenz ähnelt, bricht er in deren altersschwachem Bully auf nach Bad Kissingen. Aus dem fränkischen Kurstädtchen war Hubert einst nach Ostfriesland gekommen. Wird es hier Hinweise zu seiner Vergangenheit geben, die Aufschlüsse über seinen Verbleib geben?

Auf einer Irrfahrt durch Europa muss Adam über sich selbst und seine Ängste herauswachsen, buchstäblich bis ans Ende der Welt - nämlich Finisterre in der Bretagne. Dass auch die Plateooger Inselgemeinschaft ihn dabei nicht hängen lässt, versteht sich von selbst.

Abenteuerlich, skurril und warmherzig begleitet Baumheier ihren Helden auf seiner Odyssee und als Leser bangt und hofft man mit. Ein liebenswert erzählter Roman mit Wohlfühlgarantie und allerlei Katastrophen und viel Optimismus.

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