Fast besonders
BlütenschattenNach langer Zeit wollte ich ein Buch vom Diogenes Verlag lesen. Und da es um Kunst und Musen geht, und ich mich gern mit bildender Kunst beschäftige, habe ich das Buch angefordert.
Rezi enthält Spoiler.
Worum ...
Nach langer Zeit wollte ich ein Buch vom Diogenes Verlag lesen. Und da es um Kunst und Musen geht, und ich mich gern mit bildender Kunst beschäftige, habe ich das Buch angefordert.
Rezi enthält Spoiler.
Worum geht es?
Um eine Frau, die sich und die Kunst in den Mittelpunkt rückt. Eve befindet sich im steten Kampf - mit ihrem Mann, mit dem sie ein langweiliges Leben führt und dessen Affären sie mit Affären bestraft. Mit ihrer Tochter, von deren Leben als Influencerin sie nichts hält. Mit ihrer Erinnerung an den Künstler Florian, dessen Muse sie einst war, für den sie aber nur eine von vielen Affären war und der sogar Kapital aus ihrer Verletzlichkeit als junge Künstlerin geschlagen hat, indem er sie malte. Mit Konkurrentin Wanda, deren selbst-kasteiende Aktions-Kunst im krassen Gegensatz zu Eves Stillleben stellt. Doch die Angst zu versagen verdrängt sie mit dem unerschütterlichen Glauben an ihre Kunst. Und genau an diesem Stolz scheitert sie und reiht sich ein in die, die sie so sehr verachtet.
Treffend formuliert des der englische Untertitel: "Family life. Reputation. They took a lifetime to build and a second to wreck." (Familienleben. Anerkennung. Es braucht ein ganzes Leben, um sie aufzubauen. Und einen Augenblick, um sie zu zerstören.)
Wie ging es mir beim Lesen?
Die ersten 50 Seiten habe ich mich gelangweilt, weil das Buch eine Parallelmontage aus der Jetzt-Zeit, auf einem Spaziergang durch London, und Erinnerungen ist. Wer schonmal in London war, wird vieles wieder erkennen und ich vermute, dass sich die Leser in das Gefühl der Stadt fallen lassen können.
Interessant fand ich, dass sich die Spannung nach und nach aufbaut und sich meine Meinung von der Figur verändert hat. Anfangs hatte ich Mitleid, weil sie traurig durch den Regen läuft. Doch je weiter die Handlung voranschreitet und je mehr man von der Figur entdeckt, desto undurchsichtiger wird die Schuldfrage. Welchen Anteil hat sie an dem Unglück, das ihr widerfährt? Warum macht sie das Gefühl, dass jeder gegen sie ist, blind für die Menschen? Warum denkt sie, dass man mit Geld (für die Tochter, einen Ex-Lover ...) alles kitten kann? Und warum ändert sie nicht die Richtung, obwohl es deutliche Hinweise gibt, dass etwas nicht stimmt? »Das Problem mit dir ist, dass du eine als Rebellin verkleidete Traditionalistin bist.«, sagt Eves Mann bei 51 % des Buches. Und das zieht sich durch das ganze Buch.
Letztlich habe ich Eve so sehr gehasst, dass ich überlege, ob das Werk nicht eine Satire ist. Auf einen Künstler, der das Kunst-Schaffen über alles stellt. Und auf einen Kunstbetrieb, der noch so konservativ ist, dass man jemanden mit einer Affäre zu einem jüngeren Mann den Ruf ruinieren kann. Dass ausgerechnet die Kunst, die uns frei machen sollte, so deutliche Grenzen setzt, wenn es um's Geld geht. Besonders der Höhepunkt zeigt das. [Spoiler] Nachdem sich Eves Liebhaber, der sich als Intrige ihrer Konkurrentin Wanda entpuppte, versehentlich selbst verletzte und im Sterben liegt, ruft sie keinen Krankenwagen, sondern findet das Rot seines Blutes so schön, dass sie erst ihr Bild fertig malt. Sie erkennt die Tat nicht als Verbrechen, sondern das größere Verbrechen wäre es, das Bild unvollendet zu lassen. [Spoiler Ende] Bis zum Schluss glaubt sie, dass ihre Anerkennung als Künstlerin über allem steht.
Letztlich bekommt man einen guten Einblick in die Figur und das Buch entfaltet einen guten Sog.
Was hat mir nicht gefallen?
Mit Distanz betrachtet ist die Geschichte relativ simple und die Hinweise auf das Ende deutlich. [Spoiler] Der Täter ist ziemlich dumm, er versucht nicht, sich zu retten oder Eve zu beschwichtigen, und er hat sein Verbrechen nicht einmal gut verschleiert. [Spoiler Ende]
Ich fand es gut, einen Einblick in die Arbeit einer Künstlerin zu bekommen, deren Arbeit so weit von meinen Präferenzen entfernt liegt. Aber die Passagen über Farben und Blumen sind langatmig.
Aktionskunst vs. Stilleben
Ein Schwerpunkt des Buches ist der Gegensatz aus Wanda (Performance Art) und Eve (Blumen). Wanda, die sich Eve angeblich immer unterlegen fühlte, celebriert ihr Leiden. Beispielsweise steht sie drei Tage lang öffentlich vor einem Spiegel und starrt sich an. Oder sie hängt vollgeblutete Tampons an die Decke. Wanda steht für eine neue Form der Kunst, die für mehr Menschen zugänglich ist, weil sie verschiedene Sinne anspricht. Als Betrachter muss man keine geheimen Codes entschlüsseln, sondern man wird durch seine Rolle als Zuschauer Teil des Kunstwerkes. Man denkt über sie nach, kann mit ihr interagieren. Und ich glaube auch, dass die parasoziale Beziehung zwischen Künstler und Rezipient, an der Grenze zum Konsum, eine Erfahrung ist, nach der sich Menschen sehnen. Weil sie Gefühle sichtbar macht, über die die Gesellschaft selten spricht. Innerhalb des Kunstwerks darf man sie erleben, ähnlich wie Fremdscham, wenn man Reality-TV guckt.
Eve dagegen mag Stillleben und gibt damit einer Kunstform ein Gesicht, das lange als bloße Abbildung der Natur galt und in dem vor allem Frauen aktiv waren - ohne, dass man sie gesehen hat. Der Text zeigt, dass die Auswahl der Farben, die Anordnung der Blumen und die Wahl der Blüten ein bewusster Prozess ist. Das macht das Bild zur Kunst. Und obwohl sich Eve nicht wertgeschätzt fühlt, gibt es eine Käuferschicht für diese Richtung.
Genauso wie Wanda ihre Gefühle nach außen tragen muss, um sich gut zu fühlen, trägt Eve sie nach innen, indem sie sich penible dem Prozess widmet. Worin sich beide Frauen gleichen.
Fazit
"Blütenschatten", im Englischen düsterer "Nightshade" (Nachtschatten) ist ein Buch, das Eindruck hinterlässt. Es besticht mit seiner geradlinigen Figur, über die man gut nachdenken kann, und mit vielen Aspekten, die angesprochen werden. Trotzdem finde ich den Text ein bisschen altbacken, weil er ein eher traditionelles Bild von der Kunst und der Künstlerin zeichnet.