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Veröffentlicht am 31.08.2021

Ein Plädoyer für Empathie

Eine ganz dumme Idee
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In Fredrick Backmans neuem Roman “Eine ganz dumme Idee“ passieren in einer schwedischen Kleinstadt am Tag vor Silvester eine Menge unvorhergesehener Dinge, die ein allwissender Erzähler nach und nach ...


In Fredrick Backmans neuem Roman “Eine ganz dumme Idee“ passieren in einer schwedischen Kleinstadt am Tag vor Silvester eine Menge unvorhergesehener Dinge, die ein allwissender Erzähler nach und nach enthüllt. Ein Bankraub läuft schief, weil die Bank gar kein Bargeld aufbewahrt, eine Gruppe von Menschen will eine von einer Agentur zum Kauf angebotene Wohnung besichtigen und wird von dem gescheiterten Bankräuber auf der Flucht vor der Polizei als Geiseln genommen. Zwei Polizisten, Vater Jim und Sohn Jack, übernehmen den Fall und können ihn zunächst nicht aufklären, weil der Geiselnehmer verschwunden ist, als sie die Wohnung stürmen.

Hauptsächlich geht es darum, den persönlichen Hintergrund aller Anwesenden einschließlich der Polizisten zu klären. Da ist das Ehepaar Anna-Lena und Roger, das immer wieder Wohnungen erwirbt, renoviert und mit Gewinn verkauft, wobei die Ehefrau durch den Auftritt eines von ihr engagierten Schauspielers versucht, die Chancen ihres Mannes als Bieter zu verbessern. Das junge lesbische Paar Julia und Ro, das ein Kind erwartet, sucht tatsächlich eine Wohnung, die Bankdirektorin Zara und die 87jährige Estelle haben andere Gründe für ihre Anwesenheit.

Alles hängt mit dem Selbstmord eines Mannes 10 Jahre zuvor zusammen, der durch die Bankenkrise ruiniert wurde und von der Brücke sprang, auf die man vom Fenster der Wohnung blickt. Eine junge Frau wollte sich wenig später auf dieselbe Weise töten und überlebte. So ist dieser Roman die Geschichte eines Bankraubs, einer Geiselnahme und immer wieder die Geschichte dieser Brücke. Im Laufe des Tages lernen sich die unfreiwillig in der Wohnung Eingesperrten immer besser kennen und begreifen, dass alle auf bisher verborgene Weise mit einander verbunden sind. Sie hören einander zu und machen Hilfsangebote, wo Hilfe nötig ist. Und das ist auch die Botschaft dieses gut lesbaren, herzerwärmenden Romans: Wir müssen stets unser Bestes geben, um die zu retten, die wir retten können. Das Buch ist überzeugendes Plädoyer für Empathie. Dabei ist es kein Nachteil, dass die Figuren dieses Romans überwiegend sympathisch und sorgfältig charakterisiert sind und dass das Buch auch sprachlich und durch seinen besonderen Humor besticht.

Veröffentlicht am 09.07.2021

Schuld und Sühne

Von hier bis zum Anfang
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Im beschaulichen Ort Cape Haven in Kalifornien haben sich Tragödien abgespielt, die auch 30 Jahre später nicht vergessen sind, und es ist nicht zu Ende. Im Mittelpunkt des Romans stehen die 13jährige Duchess, ...

Im beschaulichen Ort Cape Haven in Kalifornien haben sich Tragödien abgespielt, die auch 30 Jahre später nicht vergessen sind, und es ist nicht zu Ende. Im Mittelpunkt des Romans stehen die 13jährige Duchess, die sich selbst Outlaw Duchess Day Radley nennt, und Walker, der Chef der 2-Personen-Polizei-Station, der von allen Walk genannt wird. Der Ort ist in Aufregung, weil Vincent King, der als 15jähriger zu 15 Jahren Gefängnis wegen des Mordes an Sissy Radley, Schwester der von allen begehrten Star Radley und dann noch einmal zu 15 Jahren verurteilt wurde, weil er einen Mithäftling in Notwehr getötet hatte. Walker hatte die Tote damals gefunden und mit seiner Aussage entscheidend zur Verurteilung seines besten Freundes beigetragen. Er wurde seitdem zum Beschützer von Duchess und ihrem 6jährigen Bruder Robin. Duchess hat schon früh Verantwortung für den geliebten kleinen Bruder übernommen, weil ihre labile Mutter die Kinder weitgehend sich selbst überließ. Es gibt noch weitere Mitspieler in diesem Drama wie den Metzger Milton, den Immobilienhai Richie Darke und die Anwältin Martha, die Walk sein Leben lang geliebt hat. Dann geschieht ein weiterer Mord, und sofort wird Vincent King als einziger Verdächtiger wieder verhaftet. Walk setzt alles daran, die Unschuld seines Freundes zu beweisen und die Todesstrafe zu verhindern.
Chris Whitakers spannende Geschichte ist eine Mischung aus literarischem Thriller und Coming-Of-Age Roman. Die Charaktere, vor allem die ungewöhnlich frühreife Duchess und der schwer an Parkinson erkrankte Walk überzeugen genauso wie die poetischen Beschreibungen von Landschaften in Kalifornien und Montana. Die komplizierte Geschichte von erlittenem Leid, von Schuld und Sühne und zerstörten Lebensentwürfen ist ungewöhnlich berührend. Alles fügt sich am Ende zusammen, aber die Auflösung errät man nicht. Ein wirklich außergewöhnlicher Roman.

Veröffentlicht am 07.07.2021

Von der Unmöglichkeit, ein Zuhause zu finden

Wie viel von diesen Hügeln ist Gold
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In C Pam Zhangs Debütroman “Wie viel von diesen Hügeln ist Gold“ geht es um eine Familie mit chinesischen Wurzeln. Zu Beginn des Romans stirbt der Vater, und die Waisen Lucy und Sam fliehen aus der durch ...

In C Pam Zhangs Debütroman “Wie viel von diesen Hügeln ist Gold“ geht es um eine Familie mit chinesischen Wurzeln. Zu Beginn des Romans stirbt der Vater, und die Waisen Lucy und Sam fliehen aus der durch ein Unwetter zerstörten Bergarbeitersiedlung. Seine Leiche transportieren sie in einer Truhe auf dem Rücken eines gestohlenen Pferdes. Die Handlung spielt Mitte des 19. Jahrhunderts in Kalifornien zur Zeit des Goldrauschs bzw. kurz danach. Der Vater wollte als Goldsucher sein Glück machen und arbeitet dann doch nur für einen kärglichen Lohn im Kohlebergbau. Das Gold, das er später mit seiner Tochter Lucy in einem ausgetrockneten See findet, wird ihm wieder genommen. Was sie alle nicht wussten: Als Einwanderer haben sie nicht das Recht, Land zu besitzen, einen Claim zu erwerben. So erzählt der Roman nicht nur vom Kampf ums Überleben unter gefährlichen Bedingungen, sondern auch von Ausgrenzung und Einsamkeit und dem allgegenwärtigen Rassismus der europäisch-stämmigen Einwohner. Sie begreifen, dass dieses Land nie ihr Land sein wird. Das Versprechen von Freiheit und Reichtum wird sich für sie nicht erfüllen.
Die Autorin berichtet in vier Abschnitten mit unterschiedlicher zeitlicher Zuordnung aus dem Leben der Familie, wie sich die Eltern kennenlernten und von traurigen und schrecklichen Erlebnissen, die Sam vom Vater erfährt, Lucy dagegen erst nach seinem Tod, als er in einer Nacht mit der Stimme des Windes zu ihr spricht und sie die furchtbaren Dinge verdrängt, weil sie sie nicht wissen will – genauso wenig wie die Umstände des Verschwindens der Mutter.
C Pam Zhang zerstört die Mythen, die sich um die Besiedlung des Westens ranken und macht Schluss mit der Glorifizierung der Abenteurer, die daran beteiligt waren. Sie nennt die Dinge beim Namen: die Vertreibung und Vernichtung der indigenen Völker, die Ausrottung der Bisons und Tiger, die skrupellose Zerstörung der Natur, als durch Sprengungen mit Dynamit wunderschöne Hügel zu Staub zerfielen. Zu den Vorzügen dieses erstaunlichen Romans gehört auch die hervorragende Qualität der Sprache. Mal staunt der Leser über die Poesie der Beschreibungen, dann schockiert die Autorin mit einer brutalen, drastischen Sprache. Mir gefällt auch die Themenvielfalt dieses Debüts. In dieser Coming-Of-Age-Geschichte geht es um Rassismus, Gender, Familienbindungen und die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, in einem fremden Land ein wirkliches Zuhause zu finden. Ein sehr empfehlenswertes Buch. Obama hat Recht.

Veröffentlicht am 30.05.2021

Die Geschichte der Familie Rosenbaum

Viktor
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Der Roman „Viktor“ von Judith Fanto erzählt eine Familiengeschichte über sechs Generationen im steten Wechsel auf zwei Zeitebenen. Die junge Holländerin Geertje, die Ich-Erzählerin in diesem Roman, bereitet ...

Der Roman „Viktor“ von Judith Fanto erzählt eine Familiengeschichte über sechs Generationen im steten Wechsel auf zwei Zeitebenen. Die junge Holländerin Geertje, die Ich-Erzählerin in diesem Roman, bereitet sich in den 90er Jahren auf Schulabschluss und Jurastudium vor und will endlich mehr über ihre jüdische Familie wissen. Da gibt es eine Menge Geheimnisse und viele Tabuwörter wie Transport, Lager, Gas usw. Sie beginnt ihre Revolte mit einer Namensänderung und wird zu Judith. Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf ein Archiv auf dem Dachboden der Großeltern und findet wichtige Dokumente. Die zweite Zeitebene beginnt mit dem 1. Weltkrieg und reicht bis 1939. Es ist im Wesentlichen die Generation der Großeltern Felix und Trude, ihrer Geschwister, aber es geht auch um ihre Eltern und Großeltern. Im Mittelpunkt steht die Person von Geertjes Großonkel, dem Bruder von Felix. Viktor war eine schillernde Persönlichkeit, ein Frauenheld, der häufig dubiosen Geschäften nachging und sich öfter in Schwierigkeiten brachte. Er war aber auch ein guter Mensch, der alles opferte und zumindest einige seiner Angehörigen rettete. Ihnen gelang die Flucht nach Holland. Die junge Judith wird mit der Scham und den Schuldgefühlen der Überlebenden konfrontiert, mit der Frage, wem die Schoah gehört und vor allem, wie man generell mit der jüdischen Vergangenheit umgehen kann und sollte. Judiths Großeltern sind vor der Flucht zum Katholizismus konvertiert und es steht in dieser Familie nie zur Debatte, jüdische Traditionen offen zu leben.
Ich habe diesen Roman mit großem Interesse gelesen und noch viel Neues dabei gelernt, vor allem über die Geschichte Österreichs vor dem Anschluss an das Reich und den vorher schon allgegenwärtigen Antisemitismus. Das Ende ist sehr traurig, und die von der Biografie der Autorin inspirierte Geschichte hat lange nachgewirkt. Sehr empfehlenswert.

Veröffentlicht am 27.03.2021

Lügen und Geheimnisse

Die lustlosen Touristen
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In Katixa Agirres Roman „Die lustlosen Touristen" macht ein Paar eine Reise durch das Baskenland. Die Baskin Ulia will ihrem Mann Gustavo ihre Heimat zeigen. Diese Reise entwickelt sich zu einem Roadtrip ...

In Katixa Agirres Roman „Die lustlosen Touristen" macht ein Paar eine Reise durch das Baskenland. Die Baskin Ulia will ihrem Mann Gustavo ihre Heimat zeigen. Diese Reise entwickelt sich zu einem Roadtrip der besonderen Art.
Ulia musste ihren Traum von einer Karriere als Sängerin nach einer Stimmbanderkrankung aufgeben und studiert zur Zeit Musikwissenschaft. Sie bereitet eine Doktorarbeit über den englischen Komponisten Benjamin Britten vor, eventuell stattdessen eine Erzählung über Phasen seines Lebens, weil sie mit der Arbeit nicht weiterkommt.
Die Reise führt das Paar durch viele Städte und traumhaft schöne Landschaften. Die kulinarischen Freuden kommen dabei auch nicht zu kurz.
Dennoch ist die Reise kein entspanntes Vergnügen. Ulia hat erst kürzlich als erwachsene Frau das Geheimnis ihrer Herkunft erfahren, nachdem sie ihr Leben lang mit einer Lüge abgespeist worden war. Sie hat nie den richtigen Moment gefunden, ihren Mann einzuweihen. Hinzukommt, dass die englische Journalistin Sarah immer wieder wie zufällig ihren Weg kreuzt und Gustavo gut zu kennen scheint. Alles entwickelt sich buchstäblich auf einen großen Knall zu, bei dem die Wahrheit ans Licht kommt und das Paar eine Beziehungskrise zu bewältigen hat.
In dieser lesenswerten Geschichte wechseln Ulias tagebuchartige Aufzeichnungen über die Etappen der Reise ab mit essayähnlichen Ausführungen über den berühmten Pazifisten Britten. Pazifismus ist ein Thema, das Ulia als Baskin besonders beschäftigt. Es ist hilfreich, wenn man als Leser Kenntnisse über die jüngste Vergangenheit des Baskenlandes und die Gründe für das Entstehen der Terrororganisation ETA hat.
Vor diesem Hintergrund kommt eine Vielzahl von Themen zur Sprache: Identität, Vatersuche und Heimat, Lügen und Geheimnisse in Beziehungen, die Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart. Ich empfehle diesen Roman ohne Einschränkung.