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Veröffentlicht am 15.06.2021

"So ist das hier"

Das Land der Anderen
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„Das Land der Anderen“ ist der erste Teil einer geplanten Trilogie, in der die französisch-marokkanische Autorin und Prix Goncourt Preisträgerin Leïla Slimani Teile ihrer Familiengeschichte verarbeitet.

Angelehnt ...

„Das Land der Anderen“ ist der erste Teil einer geplanten Trilogie, in der die französisch-marokkanische Autorin und Prix Goncourt Preisträgerin Leïla Slimani Teile ihrer Familiengeschichte verarbeitet.

Angelehnt ist der Roman an die Geschichte ihrer Großmutter, die 1944 im Elsass ihren Anfang nimmt. Der Zweite Weltkrieg nähert sich seinem Ende, als Mathilde den Offizier Amine Belhaj kennen und lieben lernt. Amine ist Marokkaner, stationiert in Mulhouse und kämpft im Zweiten Weltkrieg wie so viele seiner Landsleute auf Seite der Franzosen gegen die deutschen Besatzer. Nicht weiter verwunderlich, denn der Maghreb-Staat steht unter französischer Protektoratsverwaltung und hat bereits im Ersten Weltkrieg die Truppen des Mutterlandes unterstützt.

Die beiden heiraten, möchten sich eine gemeinsame Existenz aufbauen. Und da kommt es gerade recht, dass Amine von seinem Vater einen abgelegenen Hof nahe Meknès am Fuß des Atlas-Gebirges erbt. Dort liegt ihre Zukunft. Er wird sich um den Hof kümmern, sie um Küche und Kinder. Nach Kriegsende verlassen sie Frankreich in Richtung Marokko. Dort angekommen wird Mathilde schnell klar, dass ihrer Abenteuerlust in der patriarchalischen Gesellschaft strenge Grenzen gesetzt sind. Aber noch schlimmer trifft sie die Gewissheit, dass sich ihr Mann verändert, dass sich sein Verhalten, auch ihr gegenüber, an den traditionellen Werten dieser Gesellschaft orientiert, dass er ein Teil dieser Männerwelt wird. Aber resignieren ist für Mathilde keine Option.

Auch die Politik beeinflusst ihre Beziehung. Marokko kämpft um die Unabhängigkeit, da kommt es bei Amines Landsleuten nicht gut an, dass er mit einer Französin verheiratet ist. Und die französischen Kolonisten? Ziehen die Nase hoch, wenden sich ab, meiden Mathilde. Die beiden sind sich ihres Sitzens zwischen den Stühlen bewusst, fühlen sich deplatziert, leben im Land des Anderen.

Es sind die Widersprüche, die diesen Roman lesenswert machen. Tradition oder Moderne, Beharren in alten Mustern oder Fortschritt, Männergewalt oder Frauenrechte, Fügsamkeit oder Rebellion, Leiden oder Kämpfen. Diese Gegensätze arbeitet Slimani elegant heraus und macht daraus ein Plädoyer für Freiheit, Emazipation und Veränderung.

Veröffentlicht am 15.06.2021

Ein erfreuliches Wiedersehen mit alten Bekannten

Flüchtiges Begehren
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Zwei junge Frauen, die schwerverletzt mitten in der Nacht vor einem Seiteneingang des Krankenhauses abgelegt werden. Zwei junge Männer, die in diesen Vorfall involviert sind. Toxische Familienbande, die ...

Zwei junge Frauen, die schwerverletzt mitten in der Nacht vor einem Seiteneingang des Krankenhauses abgelegt werden. Zwei junge Männer, die in diesen Vorfall involviert sind. Toxische Familienbande, die für einen von ihnen in eine Sackgasse führen, aus der es keinen Ausweg gibt. Ein melancholischer Commissario, der sich von Tacitus trösten lässt und einmal mehr erkennen muss, dass Moral und Geld in Venedig nicht zusammenpassen.

30 Jahre Brunetti und ebenso viele Bände, in denen ich die Fälle des sympathischen Commissarios verfolgt habe, der sich so wohltuend von den meisten seiner literarischen Kollegen unterscheidet: Sein familiäres Umfeld ist intakt, er hat weder Drogen- noch Alkoholprobleme und neigt nicht zu Gewaltausbrüchen. Er ist geerdet, einfühlsam, freundlich, hat gute Manieren, ist gebildet und Überheblichkeit geht ihm völlig ab. Kurzum, er ist ein sympathischer Zeitgenosse.

Waren es zu Beginn der Reihe Fälle, die ihren Ursprung oft in den mafiösen Verstrickungen sowie dem korrupten Gebaren der Politiker und/oder der Mitarbeiter kommunaler Stellen hatten, wandelten diese sich zunehmend hin zu den eher zwischenmenschlichen Beweggründen, allerdings meist zusätzlich erweitert um pekuniäre Faktoren. Und auch wenn im Lauf der Zeit die Qualität der Stories geschwankt hat, solide waren sie allemal.

Mit dem aktuellen Band der Reihe hat die Autorin aber wieder zu alter Stärke zurückgefunden. Die Frage nach Täter und Motiv scheint nur auf den ersten Blick schnell geklärt, denn im Laufe der Ermittlung gewinnen zahlreiche Nebenhandlungen an Bedeutung, die von gesellschaftspolitischer Relevanz sind. Und auch aktuelle Themen, die die Venezianer umtreiben, werden nicht ausgespart. Leon geht hierbei subtil vor, bei ihr reicht oft schon ein Nebensatz, der das Kind beim Namen nennt, was wesentlich eindrücklicher als der Furor so man anderer Autorin ist.

Ein erfreuliches Wiedersehen mit alten Bekannten. Lesen!

Veröffentlicht am 09.06.2021

Es lebe der Zentralfriedhof...

Das Buch des Totengräbers (Die Totengräber-Serie 1)
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Das 19. Jahrhundert neigt sich seinem Ende zu, die Kriminalistik steckt noch in den Kinderschuhen. Und da kommt Leopold von Herzfeldt daher, so ein Grünschnabel aus Graz und will den alten Hasen der Wiener ...

Das 19. Jahrhundert neigt sich seinem Ende zu, die Kriminalistik steckt noch in den Kinderschuhen. Und da kommt Leopold von Herzfeldt daher, so ein Grünschnabel aus Graz und will den alten Hasen der Wiener Mordkommission erzählen, wie man effektiv in Mordfällen ermittelt. Gelegenheit dazu bekommt er erstmal nicht, denn er wird auf den Zentralfriedhof geschickt, um dort einen Fall von Grabräuberei zu untersuchen.

Dort kreuzt Augustin Rothmayer seinen Weg, der Mozart summende Totengräber des Friedhofs, der seine jahrelangen Beobachtungen in einem „Almanach für Totengräber“ für die Nachwelt festhält. Mit seiner Vorliebe für die philosophischen Fragen des Seins, seinem komplexen Wissen über Mordmethoden und Todeszeitpunkte, ausgehend vom Verwesungszustand er Leiche, wird er zum unentbehrlichen Helfer Leos, quasi dessen Forensiker. Das Trio komplettiert Julia Wolf, das „Lämmchen“, eine junge Telefonistin, die nicht auf den Mund gefallen ist und es faustdick hinter den Ohren hat. Aber erst als Leo im Fall der Pfahl-Morde in das Ermittlungsteam aufgenommen wird, kann er die Effektivität der von ihm eingesetzten neuen Hilfsmittel und Methoden beweisen.

Einen historischen Kriminalroman sollte man nicht nur an dem Spannungsniveau und der Logik der Story oder der gelungenen Charakterisierung der Figuren messen. Es ist die Authentizität und Lebendigkeit des Settings, die wesentlich für dessen Qualität verantwortlich ist. Dem Autor ist dies ohne Frage gelungen. Er überzeugt durch eindringliche Beschreibungen, die sich auf die Verschiedenheit der Lebensumstände konzentrieren. Hier das gehobene Bürgertum in Glanz und Gloria, dort die Tagelöhner und Armen, die von der Hand in den Mund leben. Aber Pötzsch zeigt auch, dass die Zeichen im Wien der Jahrhundertwende auf Veränderung stehen, und zwar nicht nur in der Gesellschaft, in der erstmals Frauen ihre Rechte beanspruchen, sondern auch im Alltag, der sich insbesondere durch technische Neuerungen verändert. Ein überaus gelungener Auftakt. Lesen!

Veröffentlicht am 08.06.2021

Souverän geplotteter Kriminalroman der schottischen Queen of Crime

Ein Bild der Niedertracht
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Val McDermid zählt zweifelsohne seit vielen Jahren zu den produktivsten schottischen Krimiautorinnen. Neben zahlreichen Stand alones gibt es von ihr auch vier erfolgreiche Reihen, wobei sie allerdings ...

Val McDermid zählt zweifelsohne seit vielen Jahren zu den produktivsten schottischen Krimiautorinnen. Neben zahlreichen Stand alones gibt es von ihr auch vier erfolgreiche Reihen, wobei sie allerdings aktuell nur noch die beiden mit TonyHill/Carol Jordan sowie Karen Pirie bedient.

Im aktuellen Band „Ein Bild der Niedertracht“ müssen sich DCI Karen Pirie und DC Jason Murray von der Historic Cases Unit mit mehreren vertrackten Fällen beschäftigen. Zum einen ist die Identität eines Skeletts zu klären, das im Wohnmobil des Opfers eines Verkehrsunfalls entdeckt wird, zum anderen gilt es, herauszufinden, was es mit dem Toten auf sich hat, den die Fischer aus dem Forth of Fife geborgen haben. Was hat ein französischer Jazzmusiker in Schottland zu suchen?

Die Ermittlungen, in denen die engagierte DS Daisy Mortimer aus Fife die HCU unterstützt, fördern Unerwartetes zu Tage, denn es stellt sich heraus, dass der Tote mitnichten Franzose ist, sondern es sich um den Bruder eines seit vielen Jahren verschwundenen schottischen Politikers handelt. Ein Fall, den Karen damals nicht aufklären konnte und der sie auch gegenwärtig stark fordert, muss sie sich doch auf einem Parkett bewegen, das ihr nicht vertraut ist. Und auch im privaten Bereich hat sie mit Problemen zu kämpfen. Die Beziehung zu Hamish läuft auf Sparflamme, seitdem er abgesteckte Grenzen übertreten hat, entgegen Karens ausdrücklichen Wunsch, ihr zu einem Treffen mit dem frisch aus dem Gefängnis entlassenen Mörder ihrer großen Liebe Phil Parhatka gefolgt ist.

Was zeichnet McDermids Kriminalromane aus? Natürlich die realistisch angelegten Charaktere (samt dem Netzwerk Pieries) mit ihren Stärken und Schwächen, die trotz aller Unterschiede perfekt harmonieren und gut zusammenarbeiten. Die souverän geplottete Story, bei der die Autorin einmal mehr ihre Stärke ausspielt, gekonnt mit den verschiedenen Handlungssträngen jongliert, ihnen den Raum gibt, den sie benötigen. Die Tempowechsel, bei denen sie von Aktion in Ruhe schaltet, die ruhigen Passagen mit Informationen zum Privatleben der Ermittler und Kommentaren zum politischen Zeitgeschehen wie Corona, Brexit, BoJo sowie der Gentrifizierung Edinburghs füllt und damit den Kriminalroman in der Realität verankert. Lesen!

Veröffentlicht am 07.06.2021

Wenn der Damm bricht...

Das Meer von Mississippi
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1927, die Lage entlang des Mississippi ist hoffnungslos. Es regnet seit Monaten, der „Old Man River“ hat sein Bett verlassen, ist über die Ufer getreten und höhlt unerbittlich die riesigen Dämme aus, die ...

1927, die Lage entlang des Mississippi ist hoffnungslos. Es regnet seit Monaten, der „Old Man River“ hat sein Bett verlassen, ist über die Ufer getreten und höhlt unerbittlich die riesigen Dämme aus, die Ort an seinem Ufer schützen sollen. Alles ist durchnässt, schlammig, sumpfig. Aber sämtliche Anstrengungen werden vergebens sein, die Deiche werden brechen, das Wasser seinen Weg finden und die Landschaft in ein Meer verwandeln. Und unzählige Menschen werden nicht nur ihr Heim sondern auch ihr Leben verlieren.

Es wird auch die (fiktive) Kleinstadt Hobnob treffen, berühmt-berüchtigt für ihre illegalen Destillen. Ein lukrativer Geschäftszweig in der Zeit der Prohibition. Dort nimmt dieser literarische Thriller seinen Anfang, in dessen Verlauf wir die beiden Agents Ingersoll und Johnson begleiten, die den Verbleib zweier spurlos verschwundener Kollegen klären sollen. Ein Katz-und-Maus Spiel mit einem skrupellosen und gewieften Schnaps-Schmuggler und einer begnadeten Schwarzbrennerin, gefangen in einer unglücklichen Ehe, beginnt. Nicht zu vergessen das verlassene Baby, das die beiden Prohibitionsagenten in den Trümmern eines Ladens finden.

Die Geschichte bewegt sich im Rhythmus der Bedrohung, der nahenden Gefahr durch die Wassermassen, die stetig näher kommen, um ihr verheerendes Werk zu vollenden. Die atmosphärischen Schilderungen sind grandios, man spürt die schwüle Luft förmlich auf der Haut, hört den Regen auf die Teerpappe prasseln, kämpft gegen den Widerstand des schlammigen Bodens bei jeder Fortbewegung. Und natürlich tauchen beim Lesen vor dem inneren Auge die Bilder der verzweifelten Menschen auf, die 2005 mit der Überschwemmung kämpften, die Hurrikan Katrina für die Bewohner in New Orleans im Gepäck hatte.

„Das Meer von Mississippi“ ist eindringlich erzählte Literatur, mit Brillanz rund um die Jahrhundertflut aufgebaut, die ein historisches Ereignis mit Thrilleranteilen verbindet. Einziger Wermutstropfen sind die stellenweise etwas zu poetisch geratene Sprache sowie die sehr gefühlsbetonten Szenen, die fast schon ins Kitschige abgleiten, aber wohl bewusst der Anlehnung an das Genre des historischen Romans geschuldet sind.

Nachtrag:

„When the Levee breaks“, dieser gecoverte Song von Led Zeppelin, bezieht sich auf einen alten Bluessong von Kansas Joe McCoy und Memphis Minnie (entstanden 1929 als Reaktion auf die Mississippi-Flut) und beschreibt eindrücklich die Stimmung, die über dem Roman von Beth Ann Fennelly und Tom Franklin liegt.

„If it keeps on rainin', levee's goin' to break
When the levee breaks, I'll have no place to stay.
Mean old levee taught me to weep and moan, Lord
It's got what it takes to make a mountain man leave his home“